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Rita Juon

Tod am Piz Beverin

Rita Juon

Tod am Piz Beverin

Kriminalroman

orte Verlag

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– Gemeinde Masein

– SWISSLOS/Kulturförderung, Kanton Graubünden

– GKB BEITRAGSFONDS, Graubündner Kantonalbank

– Naturpark Beverin

– Gemeinde Tschappina

© 2018 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und

Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger,

elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck,

sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de

ISBN: 978-3-85830-236-6

ISBN eBook: 978-3-85830-238-0

www.orteverlag.ch

Prolog

Das Wasserflugzeug hatte ihn zurück nach Dawson City gebracht, wo ihn der Kulturschock lähmte. Vierzehn Tage hatte er in der nordkanadischen Wildnis verbracht, allein, und doch in bunter Gesellschaft. Fauna und Flora, Landschaft und Wetter hatten ihm unbeschreibliche Momente beschert, die er mit seiner Kamera eingefangen hatte. Er brachte einige Tausend Bilder mit, die er in den kommenden Wochen sortieren und klassifizieren, von denen er viele verwerfen und manche für sich behalten würde. Er hatte genug Material, um seine Auftraggeber zufriedenzustellen: die Journalistin, die über die heutigen Goldgräber am Yukon zu berichten hatte; den Veranstalter, der Reisen mit dem Wasserflugzeug in die sogenannte Wildnis verkaufte. Für ihn aber war Wildnis erst da, wo dessen Kunden der Mut verliess. Da, wo ihn das Wasserflugzeug abgesetzt und ihn seinem Schicksal überlassen hatte.

Zu Fuss ging er zehn Minuten durch die Stadt bis zu seiner Pension. Leute, Autos, Lärm und Lichter nahm er wahr, als wäre er umschlossen von einem Luftballon und gehöre nicht dazu. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er für die Menschen unsichtbar gewesen wäre. Erleichtert verschwand er in seiner ruhigen Unterkunft, wo er zwar Dusche, Frottiertücher und das weiche Bett zu schätzen wusste, aber noch immer auf Radio, Telefon und Internet verzichtete.

Nach drei Stunden Schlaf fühlte er sich dem Unterfangen gewachsen, aus seinem Ballon herauszutreten und in die Stadt zu gehen, insbesondere deshalb, weil sein Magen laut knurrte und vor seinem geistigen Auge Früchte, Gemüse und Kartoffeln vorbeizogen. Er ass für zwei, und erst, als er den letzten Rest Sauce mit einer schlabbrigen Brotscheibe aufgetrocknet hatte, schaltete er endlich sein Handy ein.

Hunderte von Nachrichten, die allermeisten bedeutungslos. Er wechselte in den Posteingang, las flüchtig die Betreffzeilen der Mails, blätterte rasch weiter.

Als er mehrere Schreiben vom Auswärtigen Amt entdeckte, hielt er inne. Was man wohl von ihm wollte? Mit jedem Mail wurde er dringender geben, sich mit dem Absender in Verbindung zu setzen. Er schaute auf die Uhr, rechnete. Noch ein Bier, dann würde das Büro in Deutschland geöffnet sein.

Kurz nach elf trat er aus dem Lokal hinaus in die Dunkelheit, um zu telefonieren. Sofort wurde er weiterverbunden zu einem Mann, der ihm in endloser Folge Fragen zu seiner Identität stellte.

«Aber was ist denn eigentlich los?», wiederholte er ungeduldig.

Eine junge Frau, die das Restaurant verliess, lächelte ihn freundlich an, aber er beachtete sie nicht.

«Dieter?», fragte er verwirrt. «Ja, Dieter Falk ist mein Bruder. Ja, wir wohnen zusammen in Frankfurt.» Wieder lauschte er der Stimme.

«Tot?», rief er entsetzt. Die junge Frau wandte sich erschrocken um. Leichenblass liess er sich an der Hauswand niedersinken. Die Frau beugte sich besorgt über ihn, während er der Stimme aus Deutschland zuhörte.

«Mein Bruder Dieter Falk ist in den Schweizer Alpen ums Leben gekommen», wiederholte er dumpf die Worte, die er soeben gehört hatte. Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach, als würde die Information glaubhafter, wenn er sie selber aussprach.

Erster Teil

Wieder dieser Traum. Während einiger Nächte hat er mich in Ruhe gelassen, doch heute früh war er wieder da. Immer der gleiche. Ich sitze dort, an einem schönen See, in der aufgehenden Sonne. Das Motiv würde für eine Postkarte taugen, wären da nicht die schweren, dunklen Wolken direkt über mir, welche die Sonne so unerreichbar fern erscheinen lassen. Ich sitze vor einer Höhle, einem rabenschwarzen Loch. Ich weiss, dass ich mich nicht umdrehen darf, um keinen Preis, ich muss nach vorne schauen. Hinter mir die undurchdringliche Dunkelheit, vor mir, aber weit, weit entfernt, das fahle Licht der Morgensonne.

Ich kann keine Träume deuten, will mich gar nicht darin versuchen. Ich warte bloss sehnlich darauf, dass sich die Wolken verziehen, dass mich die Sonnenstrahlen erreichen, dass die Höhle hinter mir sich verwandelt in ein lichtdurchflutetes Zimmer. Dass mich die Wärme der Sonne erreicht.

Manchmal scheint mir, ich funktioniere einfach. Ich spreche, höre zu, lächle, lache sogar. Ich arbeite, unternehme das eine oder andere in der Freizeit, bin mit anderen Leuten zusammen. Aber immer bin ich ausgefüllt von dieser riesigen Leere, von der unermesslichen Kälte, die aus meinem Innern kommt und mich bis in die Zehenspitzen zu durchdringen scheint.

Werde ich je wieder Wärme fühlen?

1950

Von den nächsten Minuten hing ihre Zukunft ab. Sie konnte es nicht mehr länger hinausschieben. Ganz bewusst atmete sie seinen leicht schweissigen Geruch ein, kostete das Spüren seiner regelmässigen Herzschläge unter ihrer Hand aus, genoss das Kitzeln seiner Brusthaare an ihrer Nase. Sollte es das letzte Mal in ihrem Leben sein, dass sie seine nackte Haut spürte, wollte sie die Erinnerung für alle Zeiten bewahren.

«Ich bin schwanger.»

Jetzt war es draussen. Sie spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Bange wartete sie auf seine Reaktion. Würde er aufstehen und heimgehen zu Frau und Kindern?

Langsam liess er den Atem entweichen, den er angehalten hatte. Dann drückte er sie an sich.

Ein erleichtertes Lächeln schlich sich in ihre Züge. Das konnte alles bedeuten: Wir schaffen das. Ich halte zu dir. Ich freue mich trotz der widrigen Umstände. Ganz sicher aber hiess es nicht: Das war’s dann. Schau selber, wie du damit zurechtkommst. Das ist das Ende.

Sie erlaubte sich den Traum, er würde sich von seiner Frau trennen, seine Kinder zurücklassen, mit ihr weggehen, ein neues Leben anfangen an ihrer Seite. Wohl wissend, dass das eine Illusion war.

Am nächsten Morgen stand sie wie gewohnt in der Gaststube, arbeitete flink im Service, scherzte mit den Gästen. Sie brauchte bloss etwas zu plappern in ihrem Tiroler Dialekt, der Schalk in ihren leuchtenden Augen sprühend, und schon hatte sie die Gäste im Sack. Im abgelegenen Dorf im Prättigau nahmen die einheimischen Restaurantbesucher, fast ausschliesslich Männer, das frische Blut aus dem Montafon mit offenen Armen auf.

Im wörtlichen Sinne hatte sie sich in die offenen Arme von Joggel sinken lassen. Seit geraumer Zeit besuchte er sie heimlich in ihrer Kammer über der Gaststube. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis im Dorf Vermutungen aus dem Kraut schossen, es wurde gemunkelt und getratscht.

So war niemand erstaunt, als sich einige Monate später ihr Bauch deutlich rundete. Der ganzen Einwohnerschaft, seiner Frau eingeschlossen, war klar, dass da Joggels Kind heranwuchs. Niemand verlor ein lautes Wort darüber.

Als der kleine Johanngeorg schliesslich im Zivilstandsregister eingetragen wurde, hiess es anstelle eines Männernamens nur: Vater unbekannt.

2014

Freitag

Leise stöhnend streckte er seinen Rücken, rollte die Achseln und atmete tief durch. Seine Schulter rechts tönte, als wäre sie mit Sandpapier gepolstert. Zwischen dem sechsten und dem siebten Rückenwirbel spürte er ein Ziehen, das sich, wenn er nicht Acht gab, zu Rückenschmerzen steigern könnte, die sich nur mit einem heissen Bad würden lindern lassen. Und sollte er sein Kreuz zu wenig schonen, drohte ihm ein Erkältungsschmerz, der ihn aufs Sofa zwingen würde. Dann konnte er seine Pläne fürs Wochenende begraben.

Das musste er allerdings auch dann, wenn er den Korb nicht füllte, der an seinem linken Arm baumelte. Er war noch nicht einmal halb voll, mit so wenig Ausbeute durfte er sich zu Hause nicht blicken lassen. Toni Hunger seufzte und ging ein paar Schritte weiter aufwärts, um seine Arbeit fortzusetzen.

Wie viele ungeschriebene Gesetze bestimmten das Leben nach bald vierzig Ehejahren! All die Vereinbarungen, Abkommen, Kompromisse hatten sich über die Jahrzehnte zu einem Regelwerk angesammelt, welches das Zusammenleben der Eheleute umrahmte. Es gab ihnen die Gewissheit, sich voll und ganz aufeinander verlassen zu können.

Viele Worte waren dazu nicht nötig. Mit seiner stillen Frau waren auch nicht viele möglich. Trotzdem führten sie lebhafte Gespräche, wenn man ihre Körperhaltung und ihre Blicke, ihre Runzeln und ihr Schmunzeln mitberücksichtigte. Ihre nonverbale Ausdrucksweise war vielfältig, und nach all den Jahren konnte er die Tiefe ihrer Stirnfalte, wenn sie etwas kritisch beurteilte, die Verengung ihrer Augen, wenn sie sich ärgerte, die Höhe ihrer Mundwinkel, wenn sie liebevoll, spöttisch oder amüsiert lächelte, genau zuordnen und deuten. Das war ein ungemein gutes Gefühl.

Halbvoll, immerhin. Wären diese Beeren bloss etwas grösser, dann bräuchte er weniger Zeit, um den Korb zu füllen. Die Blaubeeren im Laden waren dick wie Kirschen, während die Heidelbeeren, die er zu pflücken hatte, nur halb so gross waren. Hingegen wiesen sie bei halber Grösse ein Aroma von gleicher Intensität auf, weshalb sie sich zu schmackhaften Desserts verarbeiten liessen. Rein rechnerisch könnte man zur Vanilleglacé hier oben halb so viele heisse Heidelbeeren servieren wie im Tal, um das gleiche Geschmackserlebnis zu erzeugen. Dann könnte er jetzt aufhören.

Er stellte sich kurz seine Frau vor, wenn er mit dem halbvollen Korb und seinen Argumenten nach Hause käme. Augenbraue rechts himmelwärts, Mundwinkel links talwärts, Arme verschränkt. Worte erübrigten sich.

Er streckte seinen Rücken und machte weiter. Wenigstens konnte er am Hang pflücken, in fast aufrechter Haltung. Unten auf der Hochebene des Glaspasses hätte er sich bücken müssen, was ihm nicht gerade leicht fiel. Ob die Heidelbeeren wohl absichtlich Rücksicht nahmen auf Grossväter und deshalb lieber am Hang wuchsen?

Drei Viertel voll. Bald hatte sich Toni Hunger sein Wochenende verdient.

Annamaria Hungers Blick folgte dem Weg vom Glaspass hinauf zum Heidbüel. Nicht weit über der Hochebene entdeckte sie ihren Mann, der fleissig Heidelbeeren sammelte. Gut so, dachte sie, und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Die Zahlungen waren erledigt, Toni und die Beeren noch miteinander beschäftigt, ihr verblieben geschätzte zwanzig Minuten, um im Internet zu surfen.

Während Toni die neuen Medien als notwendiges Übel hinnahm, nutzte sie Annamaria mit grosser Freude. Er mochte der Zeit nachtrauern, als er mit dem Gelben Büchlein, den Einzahlungsscheinen und dem Notenbündel auf die Post in Obertschappina gegangen war, um die Zahlungen zu erledigen und ein Schwätzchen mit der Pöstlerin zu halten. Sie war dankbar, dass sie auf solch komplizierte Vorgänge verzichten und dasselbe von zu Hause aus erledigen konnte. Die Poststellen am Berg waren inzwischen ohnehin alle aufgehoben worden. Sie trauerte ihnen keine Minute nach, worin sie sich deutlich von der Mehrheit der Bevölkerung ihrer Altersgruppe unterschied.

Das Wohlwollen gegenüber den Informationstechnologien war nicht das einzige, was die Eheleute unterschied. Bereits vor Jahrzehnten hatte jemand am Stammtisch sinniert, man könnte aus Toni und Annamaria ein völlig durchschnittliches Paar bilden, wenn man sie addieren und danach zweiteilen würde.

Einzeln betrachtet bildeten sie jedoch gewisse Extreme, nicht nur in Bezug auf ihre Redseligkeit und ihre Affinität zu modernen Technologien. Auch optisch. Annamaria war kaum mehr als einen Meter sechzig gross und von drahtiger Statur. Toni hingegen war ein stattlicher Mann, er trug seinen Bauch mit Stolz und ergänzte seine imposante Erscheinung mit einem graublonden Vollbart, den er liebevoll pflegte.

Abgesehen davon waren die beiden jedoch gar nicht so unterschiedlich. Beide schätzten das Bauerndasein auf beinahe zweitausend Metern Höhe und das Zusammenleben mit den wenigen andern Familien auf dem Glaspass. Beide fielen ihren Bekannten wegen ihrer Redegewohnheiten bisweilen auf die Nerven, trotzdem waren sie gern gesehene Kameraden. Ihre Ehe hielt nicht nur der Form halber oder aus Bequemlichkeit, oder weil sie es nicht besser wussten. Sie waren tatsächlich ganz zufrieden miteinander.

Stunden später hatten sich beide ihren Feierabend verdient und läuteten, jeder auf seine Weise, das Wochenende ein. Annamaria lag auf dem Sofa, eingekuschelt in eine karierte Wolldecke, mit einem dicken Roman in den Händen und leichter Klassik aus der Musikanlage in den Ohren. Toni sass im Gasthaus auf dem Glaspass, vor sich ein Glas Wein, um ihn herum seine drei Jasskollegen.

«Schneller ist ein Idiot!» Karl Riedi nickte weise und hob sein Kaffeeglas, ohne jedoch zu trinken. Daran hinderte ihn die Pfeife, die in seinem Mundwinkel hing. Er schien nicht zu bemerken, dass Emanuele Santacaterina die Augen verdrehte und Toni resigniert mit den Schultern zuckte. Er stellte das Kaffeeglas wieder ab und nahm die Pfeife aus dem Mund, um zu einem längeren Monolog anzusetzen.

«Schneller ist nicht einmal im Stande, seine Hecke zu pflegen! Jeder Idiot weiss doch, dass man junge Sträucher zurückschneiden muss, damit sie buschig werden und die Hecke dicht wächst, nur Schneller, dieser Idiot, lässt die Büsche wachsen, und jetzt? Ha?» Wütend zeigte er mit der Pfeife auf Walter Buess, den vierten, etwas jüngeren Mann am Tisch.

«Jetzt reg dich doch ab, Karl! Lass doch Schnellers Hecke Hecke sein und gib die Karten aus», sagte dieser in beruhigendem Ton.

«Schnellers Hecke ist gar keine Hecke, das sag ich ja!», ereiferte sich Karl, dessen Gesicht hinter der herumfuchtelnden Hand mit der Pfeife inzwischen zwei rote Flecken zierten. «Schneller ist ein so riesengrosser Idiot, dass er nicht einmal das Unkraut zum Wachsen bringen würde! Seine Hundsrosen sehen aus wie nackte Storchenbeine, der Idiot hat …»

«Komm schon, Karl», tönte Toni amüsiert aus den Tiefen seines hellen Barts, «gib endlich zu, dass du Schnellers Sträucher vergiftet hast, dann kann dich Walter verhaften, und Emanuele und ich können in Ruhe unseren Roten trinken!»

«Hä? Ich habe doch Schneller nicht vergiftet, diesen Idioten!»

«Nicht Schneller, die Heckenrosen hast du vergiftet, porca miseria!», donnerte der glatzköpfige Emanuele.

«Ich vergifte doch nicht schnell die Heckenrosen! Wenn überhaupt würde ich den Idioten selber vergiften, das wäre bereits vor dreissig Jahren das klügste gewesen, damals, als er …»

«So, jetzt reicht es aber!», sagte Walter Buess bestimmt. «Teil endlich die Karten aus! Mit einem vierfachen Match würden wir gewinnen, also mach vorwärts!»

Karl steckte die Pfeife in den Mund und griff brummend nach dem Kartenstapel. Toni wollte aufatmen, aber Emanuele hatte nicht die Absicht, das Thema ruhen zu lassen.

«Du kommst mir vor, als hättest du selber von dem Gift für die Sträucher geschluckt!», fing er an. «Du trinkst Kaffee im Glas – aber ohne Schnaps drin. Du hast die Pfeife im Mund – aber du zündest sie nicht an. Du trägst deinen Hörapparat – aber du schaltest ihn nicht ein. Du hast das Gift selber ausprobiert, und jetzt spinnst du!»

«Ihr Tschinggen habt damit angefangen, dass man in den Beizen nicht mehr rauchen darf, und wir Bündner wissen nichts Besseres, als euch diesen Mist nachzumachen. Du selber hast den Verstand verloren, wenn du sagst, ich habe Schneller vergiftet, diesen …»

«Fertig jetzt, genug geschwatzt, gib endlich die Karten aus!», rief Toni, worauf sich Karl auf die Jasskarten konzentrierte, die er in der Hand hielt.

Am späten Abend verliessen die vier Männer gut gelaunt das Berggasthaus in Glas. Toni Hunger strich sich zufrieden über den Bart und hob den Blick zum sternenklaren Himmel. Einen kurzen Moment lang dachte er mit leisem Bedauern an all die Leute in den Städten, die einen solchen Himmel nie zu Gesicht bekamen, weil die vielen künstlichen Lichter keinen Blick bis ins All erlaubten. Bald kommt der Herbst, dann sehen sie da unten im Mittelland sowieso nur noch Nebel, dachte er, atmete die kühle Nachtluft tief ein und dankte dem Himmel dafür, dass er nicht in der Stadt leben musste. «Das war ein Jass!», sagte er zufrieden und klopfte seinem Spielpartner Emanuele Santacaterina auf die Schulter. «Mit dem Dreifärber am Schluss hätte es auch schief gehen können.»

«Zum Glück war die Eckendame bei dir, sonst hätte es schlecht ausgesehen für uns», lachte Emanuele und schlug den Kragen hoch. «Walter, kann ich mit dir fahren? Ich sollte nicht mehr selber hinters Steuer.»

«Klar, steig ein», antwortete Walter Buess und öffnete die Beifahrertür. Mitfahren ist gut, dachte er, heimchauffieren ins Tal müsste es heissen. Einmal mehr hatte sein Kamerad seinen Vorsatz gebrochen, nur ein Glas Roten zu trinken, weil er das Auto dabei hatte. Immerhin war er vernünftig genug, den Wagen stehen zu lassen. Falsch, korrigierte sich Buess, von Vernunft konnte man eigentlich nicht sprechen. Diese Einsicht war ihm mit einer hohen Busse und ein paar Monaten Ausweisentzug vor Jahren gnadenlos eingebläut worden.

«Bis zum nächsten Freitag!», rief Karl Riedi seinen Kameraden zu, «und dann wird das Glück auf meiner Seite sein. Drei Mal trumpfen mit dem Nell zu dritt, Walter, so schlecht kann es uns gar nicht mehr gehen das nächste Mal!» Er stieg ebenfalls zu Buess ins Auto. Im Gegensatz zu Emanuele Santacaterina hatte er den Fahrausweis freiwillig abgegeben und seinen alten Opel gegen ein Mofa eingetauscht, das ihm gute Dienste leistete. Zur Jassrunde liess er sich jedoch gerne von Walter Buess von Obertschappina nach Glas mitnehmen.

Als das Auto im Wald unterhalb der Siedlung verschwunden war, genoss Toni Hunger die Stille. Kein menschlicher Laut war zu hören mit Ausnahme seiner eigenen Schritte und seiner Atemzüge. Trotzdem war die Luft von Geräuschen erfüllt. Die Glocken der Kühe, die erst vor Kurzem von der Alp zurückgekehrt waren und sich im Schlaf regten. Ein Käuzchen, das unten am Waldrand rief. Der Wind, der die Hänge streichelte und die Blätter, Halme und Stauden flüstern liess. Der Bach, der leise durch die Hochebene des Glaspasses gluckste. Vor der Haustür streifte er ordentlich die Erde von den Sohlen ab und betrat leise das alte Bauerhaus, um Annamaria nicht zu wecken.

1959

Erleichtert stellte Johanngeorg seinen Schulsack in eine Ecke. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man die Schule nicht erfinden müssen. Was der Lehrer erzählte, interessierte ihn kaum, und mit seinen Klassenkameraden verstand er sich nicht besonders. Von Zeit zu Zeit wurde er gehänselt, weil er sich nicht an ihren Spielen und Streichen beteiligte, sondern lieber für sich blieb. Das war ihm egal. In der Regel dauerte es nicht lange, bis die andern ihren Spass daran verloren. Sie nahmen ihn gar nicht mehr wahr, was ihm recht war.

Auf dem Tisch in der winzigen Stube standen noch die Reste des Mittagessens, das seine Mutter aus dem Restaurant mitgebracht hatte. Lecker. Er verputzte den Rest, bevor er in den Holzschopf hinter dem Restaurant ging. Dort sass er oft, spielte mit den Holzscheiten, baute Dörfer daraus, schnitzte Figuren hinein.

Als es dunkelte, räumte er auf und ging wieder hinauf in ihre Kammern über der Gaststube, wo er seufzend und stöhnend seine Hausaufgaben erledigte. Seine Mutter kam normalerweise zwei-, dreimal vorbei, wenn es der Betrieb im Restaurant erlaubte. So auch heute. Sie herzte ihren Sohn, erzählte ihm von ihrem Tag, liess sich von ihm seine neusten Schnitzereien zeigen. Sie versprach Johanngeorg, ihm die Reste der gebrannten Creme mitzubringen, sofern etwas davon übrigblieb.

Seine Augen leuchteten. Er liebte es, wenn ihn seine Mutter mitten in der Nacht weckte, damit sie gemeinsam von den Überbleibseln der Süssspeisen naschen konnten. Wenn es kalt war, sassen sie aneinander gekuschelt unter der Bettdecke und assen gemeinsam direkt aus dem Topf.

Er ging beizeiten ins Bett in der winzigen Nebenkammer. Dort wartete die Holzfigur auf ihn, die ihm der alte Schorsch, der oft im Restaurant sass, geschenkt hatte. Jeden Abend schliefen sie gemeinsam ein. Stolz hatte er das Männchen seiner Mutter gezeigt und erklärt, es heisse Joggel. Seine Mutter hatte ihn prüfend angeschaut, fast schon erschrocken. Er konnte sich nicht erklären, weshalb. Jedenfalls hatte seine Mutter so lange gedrängt, einen anderen Namen für die Figur zu suchen, dass er zuletzt nachgegeben hatte. Jetzt hiess der Joggel halt Franz, was soll’s.

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