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Rita Hajak

Wege zurück ins Leben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zitat

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Epilog

Tröstende Worte

Impressum neobooks

Zitat

Wenn Trauer

übermächtig wird,

Alkohol

die Sinne vernebelt,

ist die Sucht

nicht mehr aufzuhalten.

R.Hajak

Eins

Jeden Morgen, wenn sie erwachte, galten ihre ersten Gedanken ihrem Baby. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, der Kopf dröhnte und im Magen stach es, als hätte sie ein Messer im Leib. Niemand vermochte diesen Schmerz zu lindern. Es gab nur ein Mittel dagegen: Einen kräftigen Schluck.

Mechanisch erhob sie sich aus dem Bett, schlüpfte in ihre Jeans und zog das schwarze Shirt über. Seit Tagen trug sie dieselbe Kleidung. Es war ihr egal. Sie hatte aufgehört, solche Äußerlichkeiten für wichtig zu halten. Viel wichtiger war es, den Tag zu überstehen. So wie den heutigen Tag, vor dem es ihr graute. Sie musste zum Einkaufen in die Stadt fahren. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Zuvor war ein Besuch bei der Bank unerlässlich. Sie hasste es, dort hinzugehen.

Mit müden Schritten schlurfte sie in die Küche und griff nach der Rotweinflasche, die griffbereit auf dem Tisch stand. Es war noch ein Rest darin, den sie in einem Zug austrank. Sie gähnte. Ihr fehlte der Elan, die Lust, auch nur das Geringste zu unternehmen.

Sie schleppte sich ins Bad, feuchtete einen Waschhandschuh an und fuhr sich damit über das Gesicht. Auf das Zähneputzen verzichtete sie. Ein paar Bürstenstriche übers Haar, Schuhe und Jacke an, fertig.

Anja schaffte es, den Wagen heil aus der Garage zu lenken, und fuhr in gemächlichem Tempo in die Stadt. Sie war erleichtert, dass sie eine Parklücke fand, die für ihre Fahrkünste groß genug war.

Beim Betreten der Bankfiliale befiel sie die Angst. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Kopfhaut zusammenzog und der Kloß in ihrem Hals zu wachsen schien. Mit zittrigen Fingern führte sie die Bankkarte in den Geldautomaten ein und tippte ihre Geheimzahl in die Tasten. Ein Wunder, dass sie sich daran erinnerte. Sie atmete hektisch, riss die Geldscheine und die EC-Karte an sich und stopfte sie in ihre Handtasche. Ein Teil des Geldes fiel zu Boden. Gehetzt wie ein wildes Tier, schaute sie um sich, bevor sie in die Hocke ging und das Geld einsammelte. Dem jungen Mann, der Anstalten machte, ihr zu Hilfe zu eilen, rief Anja entgegen: »Bleiben Sie weg von mir!« Mit dem letzten Geldschein in der Hand flüchtete sie aus der Bank.

Als sie unter freiem Himmel stand, begann sie hysterisch zu lachen. Vorübergehende Passanten schauten sie befremdet an. Anja nahm sich zusammen. Sie atmete tief durch, straffte ihren Körper, und ging über die belebte Straße der Frankfurter Innenstadt, zu ihrem Wagen. Sie fühlte sich beobachtet. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen schwarzen Wagen mit verdunkelten Scheiben stehen. Sie fing zu zittern an, Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. »Hilfe«, flüsterte sie vor sich hin und beschleunigte ihre Schritte. Warum war niemand da, der sie beschützte?

Anja erreichte schweißgebadet ihren Wagen, stieg ein und verriegelte die Tür. Hier fühlte sie sich sicherer. Sie beförderte ein Fläschchen aus ihrer Tasche und trank es leer. Das Zeug tat ihr wohl, wärmte den Bauch und bekämpfte die Angst.

Sie startete mehrmals ihren Golf, bis sie den Motor zum Laufen brachte. »Verdammte Kiste«, fluchte Anja und schlug ärgerlich auf das Armaturenbrett. Sie wischte sich über die Augen, um den vermeintlichen Schleier zu entfernen. Ohne Erfolg; ihr Blick blieb trübe. Dass sie nicht fahrtüchtig war, verdrängte sie.

Sie fuhr in den nördlichen Teil der Stadt zum Friedhof. Beunruhigt schaute sie in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte. Auf dem Parkplatz stellte sie den Wagen ab und eilte an der baufälligen Steinmauer entlang, bis zur Eisentür. Sie schlüpfte hindurch und bog in einen Seitenweg ab, in dem viele Minigräber lagen. Vor einem liebevoll gestalteten Grab blieb sie stehen. Auf dem marmorierten Grabstein mit der seitlich ausgefrästen Rose stand: Geboren, um zu sterben, unsere geliebte Melanie.

Anja kämpfte mit den Tränen. Sie dachte an jenen Tag, an dem sich ihr Leben schlagartig veränderte. An manche Dinge erinnerte sie sich nicht mehr. Den Moment, als sie das tote Baby in seinem Bettchen liegen sah, konnte sie nicht vergessen. Nicht ein einziger Tag war seither vergangen, an dem sie nicht daran dachte. Melanie wäre inzwischen zehn Jahre alt. Die Sehnsucht nach ihrem Baby brannte wie Feuer in ihrem Herzen. Das Leben ohne ihre Tochter war ein einsames Leben. Sie verbrachte die Tage alleine im abgedunkelten Kinderzimmer. In dieser Umgebung fühlte sie sich ihrem Kind nahe. Wie konnte das Schicksal es zulassen, dass ein Mensch geboren wird und bald darauf stirbt? Die Erklärung des Arztes, Kindstod sei ein häufiges Drama im ersten Lebensjahr, tröstete sie nicht. Auf die Ratschläge von Freunden und Bekannten wollte sie nicht hören. »Das Leben muss weitergehen«, sagten sie. Oder: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Was sie empfand und fühlte, konnten nur Menschen mit ähnlichem Schicksal verstehen. Dass sie ihre geliebte Arbeit als Modezeichnerin nicht mehr ausüben konnte, schmerzte sie. Zum Zeichnen brauchte sie eine ruhige Hand und die hatte sie nur, wenn sie betrunken war. Ohne die finanzielle Unterstützung ihres Mannes wäre es schlecht um sie bestellt. Durch ihre Trinkerei war sie süchtig geworden, was sie sich nicht eingestehen wollte. In den wenigen Augenblicken, in denen sie klar denken konnte, hasste sie sich für ihre Schwäche. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Erinnerung schmerzte wie am ersten Tag.

Sie hörte Schritte auf dem Kiesweg näher kommen und begann zu zittern. Es war Mittag. Der Himmel hatte sich zugezogen, Wind kam auf. Sie kauerte sich hinter das Gebüsch neben dem Grab ihrer Tochter und hielt die Luft an. Jetzt konnte sie die Leute sehen. Es waren zwei Männer. Sie trugen schwarze Kleidung und schauten sich suchend um. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen. Anja war überzeugt, dass sie nach ihr suchten. Der eine schritt aus und kam dem Grab bedrohlich nahe. Flüchtig nahm sie einen modrigen Geruch auf, der ihr aus seiner Kleidung entgegenschlug. Schweißgebadet legte sie die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Vor Angst machte sie sich in die Hose. Sie konnte ihre Blase nicht kontrollieren. »Oh, mein Gott«, stammelte sie, als die Gestalten nicht mehr zu sehen waren. Was sollte sie tun? Hier konnte sie nicht sitzen bleiben. Mutig, leicht schwankend, hastete sie zu ihrem Wagen und fuhr nach Hause. Dass sie noch einkaufen wollte, hatte sie vergessen. Als sie in die Einfahrt zu ihrem Bungalow einbog, sah sie eine schemenhafte Gestalt gegenüber an der alten Eiche lehnen. Sie spürte erneutes Unheil auf sich zukommen. Den Wagen stellte sie vor der Garage ab, eilte ins Haus und schob den Riegel vor. Hastig atmend und händeringend stand sie hinter der Wohnzimmergardine und blickte hinaus. Der vermeintliche Fremde war verschwunden. Ein nebelartiger Schleier war in den Zweigen des Baumes zurückgeblieben.

Anja fürchtete sich. Bin ich verrückt? Sollte ich nicht die Polizei anrufen?, fragte sie sich und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Als sie nach dem Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon. Erschrocken zog sie die Hand zurück. »Nein, nein, ich gehe nicht dran. Lasst mich in Ruhe.« Sie weinte hysterisch auf. Es folgte atemlose Stille. Anja rutschte mit dem Rücken am Türpfosten herunter und setzte sich auf den Boden. Für einen Moment rührte sie sich nicht. Ihr Körper war durchnässt und sie stank nach Urin.

Der Druck auf ihrem Herzen hatte nachgelassen. Was sie brauchte, war eine Dusche. Sie schlich ins Bad und verschloss die Tür, wie die im angrenzenden Schlafzimmer, das vom Bad und vom Flur aus zu betreten war. Sie nahm frische Wäsche aus dem Schrank und legte sie auf das Bett. Zitternd zog sie sich aus und huschte in die Duschkabine. Der wärmende Wasserstrahl tat ihr gut. Sie kauerte sich in die Ecke und ließ das Wasser über sich laufen. Für einen Moment entspannte sich ihr Körper.

War da nicht ein Geräusch? Verängstigt hob sie den Kopf. Sie stieg aus der Dusche, wickelte sich in ein Handtuch, und lauschte. Ihr Puls raste. Ihre Kehle zog sich zusammen, nahm ihr die Luft zum Atmen. Anja brauchte etwas zum Trinken, jetzt sofort. Sie traute sich nicht, das Bad zu verlassen. Verzweifelt presste sie die Hände zusammen und dachte angestrengt nach, soweit es in ihrem Zustand möglich war. Das Schränkchen unter dem Waschbecken fiel ihr ein. Sie warf kurzerhand alle Putzmittel heraus, bis sie die Flasche mit einem Rest Brennspiritus in der Hand hielt. Ohne zu zögern, schluckte sie den Inhalt hinunter. Es schmeckte widerlich. In ihrem Kopf begann es zu kreisen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr Mageninhalt schob sich in die Speiseröhre und drückte nach oben. Gleich musste sie sich übergeben. Eine erlösende Ohnmacht bewahrte sie davor.

Anja öffnete die Augen. Es war still. Durch das Fenster kroch die Abenddämmerung. Sie fror. Wie lange mag sie nackt hier gelegen haben? Benommen stand sie auf und drückte auf den Lichtschalter. Die Uhr über dem Türstock zeigte kurz nach sieben Uhr. Sie tastete nach ihrer Handtasche und suchte die kleine Flasche, obwohl sie wusste, dass sie leer war. Ihre Magenwände krampften sich schmerzhaft zusammen und ihr war übel. War sie nicht verfolgt worden? Sie legte ein Ohr an die Badezimmertür; es war nichts zu hören. Misstrauisch blickte sie durch das Schlüsselloch. Draußen im Flur sah es unverändert aus. Hatte sie sich das eingebildet? Sie drückte mit der Faust gegen ihren Magen. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen und einen Schluck hatte sie bitter nötig.

Das Licht flackerte, wie vor einem drohenden Kurzschluss. War doch jemand im Haus?

Sie atmete viel zu hastig. Um sich zu beruhigen, begann sie bis dreißig zu zählen. Es gab nur einen Weg: Sie musste sich der Gefahr stellen. Sie musste erkunden, wer er war und was er von ihr wollte. Mit flinken Händen kleidete sie sich an und drehte vorsichtig den Schlüssel herum. Die Tür quietschte beim Öffnen.

Sie eilte über den Flur in die Küche und griff zielstrebig in den Wandschrank, in dem sie den Weinbrand aufbewahrte. Viel war nicht mehr in der Flasche, aber es genügte, um ihr hitziges Gemüt zu beruhigen. Die Hände hörten auf zu zittern und ihre Angst wich einer wohltuenden Vergesslichkeit. Eine Weile starrte sie aus dem Fenster, bis sie müde war. Sie schaffte es, eine Scheibe Brot zu essen, sich auszuziehen und ins Bett zu legen. Es dauerte, bis sie einschlief.

Unruhig wälzte sie sich hin und her. Ihre Augenlider flatterten. Sie träumte jede Nacht den gleichen Traum. Das Baby lag in seiner Wiege und rührte sich nicht. »Sie ist tot … tot«, flüsterte sie im Schlaf. »Melanie«, schrie sie entsetzt. Davon wachte sie auf.

Schweißgebadet saß sie im Bett und weinte. Keiner war da, der sie beruhigen konnte. Von ihrem Mann hatte sie sich vor Jahren getrennt. »Ich kann das nicht mehr ertragen«, klagte sie laut und verspürte ein starkes Verlangen nach einem alkoholischen Getränk. Versuche dem zu widerstehen, dröhnte es in ihrem Kopf.

Anja wankte ins Bad und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Ein Blick in den Spiegel ließ sie erschaudern. Bin ich das? Lange hatte sie sich nicht mehr angeschaut. Ihre Haut sah aschfahl aus. Falten zierten ihr einst schönes Gesicht und ihre goldbraunen Haare sahen stumpf aus. Sie wirkte mit ihren sechsundvierzig Jahren wie eine alte Frau. Was ist aus meinem Leben geworden, es ist keinen Pfifferling mehr wert, waren ihre Gedanken. Der Traum von einer glücklichen Zukunft war ausgeträumt. Ihr Lebenswille war gebrochen. Die Sehnsucht nach Ruhe und Vergessen wurde größer.

Sie entnahm dem Spiegelschrank ein Röhrchen mit Schlaftabletten und wog es in ihrer Hand. Die Worte einer Freundin fielen ihr ein. ›Es tut nicht weh, man schläft sanft ein, und alle Qual hat ein Ende.‹

Sie füllte Wasser in ihr Zahnputzglas und warf kurzerhand die Tabletten hinein. Anja hatte es nicht eilig. Sie ging in die Küche, holte eine Flasche Rotwein aus dem Schrank, entkorkte sie und goss das Glas randvoll. Regungslos saß sie auf dem Küchenstuhl und betrachtete nachdenklich die verlockende Flüssigkeit. Sie wagte nicht, das Glas anzufassen. Mit den Fingern fuhr sie sich durch die Haare und seufzte tief. »Ich sollte dem ein Ende bereiten«, sagte sie laut, sprang auf und lief ins Bad zurück. Wie hypnotisiert starrte sie das Glas mit dem milchig trüben Inhalt an und nahm es in die Hand. Sie war unentschlossen. Wollte sie ihr Leben beenden? ›Eine gute Wahl – trinke es aus‹, sagte eine innere Stimme. Sie zögerte. In diesem entscheidenden Moment war sie klar im Kopf wie lange nicht mehr.

»Bin ich noch normal?«, schrie sie ihrem Spiegelbild entgegen und warf das Glas an die gekachelte Wand. »Ich muss mit dem Trinken aufhören, es ruiniert mich.« Sie sackte zusammen. Eine geschlagene Stunde saß sie auf dem Badewannenrand und wehklagte über ihr Leben. Ihr Körper schmerzte. Ihre Seele weinte. Sie stöhnte, heulte, schrie: »Was habe ich verbrochen? Wofür werde ich bestraft?«

Allmählich beruhigte sie sich, wischte den Boden auf und warf die Scherben in der Küche in den Mülleimer. Das Glas Rotwein stand unberührt auf dem Tisch. Sie setzte sich auf den Stuhl. Ihr Körper verlangte danach, es auszutrinken. Sie versuchte, gegen dieses Gefühl anzukämpfen.

Der Morgen dämmerte. Sie hatte die ganze Zeit am Tisch gesessen und das Glas fixiert. Ihre Hände begannen zu zittern, schlagartig kam die Angst zurück. »Ich schaffe es nicht«, murmelte sie und schluckte den Wein in einem Zuge hinunter. Sie goss nach, bis die Flasche leer war. Enttäuscht suchte sie in den Schränken und brachte eine letzte Flasche Cognac zum Vorschein. Mit flinken Fingern öffnete sie die Verschraubung und gönnte sich Schluck für Schluck. Ihre Trinkerei geriet außer Kontrolle. Alles drehte sich im Kreis. Ihr letzter Gedanke, bevor sie vom Stuhl fiel, galt ihrer Tochter. Sie lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr.

Zwei

Sylvia, die nebenan im Haus wohnte, klingelte und klopfte an Anjas Haustür. Nichts rührte sich. Sie machte sich Sorgen. Vor Stunden hatte sie bei Anja angerufen, aber sie nahm nicht ab. Anja musste im Haus sein, sie hatte sie hineingehen sehen und ihr Auto stand vor der Garage. Sylvia steckte den Schlüssel ins Schloss, den sie seit einigen Jahren als Notschlüssel besaß. Vorsichtig öffnete sie die Haustür und rief Anjas Namen. Es kam keine Antwort. Die Küchentür stand einen Spaltbreit offen. »Anja!«, rief sie, bevor sie beunruhigt näher trat. Sie stieß einen Schrei aus, als sie Anjas leblosen Körper auf dem Küchenboden liegen sah. Auf dem Tisch sah sie die Flaschen stehen und ahnte, was geschehen war.

Sie fasste sich schnell, beugte sich zu ihr herab, und fühlte ihren Puls. Er schlug langsam. Die Atmung schien normal zu sein.

Bevor sie den Notarzt verständigte, holte Sylvia ein Kissen aus dem Wohnzimmer und legte es Anja unter die Beine. Sie kannte ihr Schicksal und hatte Mitleid mit ihr. Dass sie bis zur Bewusstlosigkeit Alkohol trank, hatte sie nicht geahnt.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Notarzt eintraf. »Sie ist ohne Bewusstsein, wir müssen sie mitnehmen«, sagte er.

Die Krankenträger legten Anja auf die Trage und schoben sie in den Notarztwagen. Der Arzt versorgte sie mit Sauerstoff und legte eine Infusion an.

»Sie hat eine Alkoholvergiftung, sagte er zur Nachbarin, die hinterhergelaufen kam.

»Wo bringen Sie sie hin? «, fragte sie.

»Ins Rote Kreuz Krankenhaus.«

»Ich packe ein paar Sachen zusammen und komme nach«, versprach sie.

Mit Blaulicht fuhr der Notarztwagen davon.

Sylvia machte sich Vorwürfe, weil sie sich zu wenig um Anja gekümmert hatte. Es war nicht leicht an sie heranzukommen, denn sie lehnte jede Hilfe ab. Aber das war keine Entschuldigung. Sie wusste, dass Anja labil war und die Sicht für die Realität verloren hatte. In Zukunft wollte sie auf ihre Freundin achten und energischer vorgehen. Als Anja und ihr Mann vor mehr als zehn Jahren in das Haus eingezogen, entstand zwischen Anja und ihr eine wunderbare Freundschaft. Nach dem Tod der kleinen Melanie hatte sich Anja zurückgezogen. Sylvia hielt ein Auge auf sie, mehr auch nicht. Sie wollte nicht aufdringlich sein. Hin und wieder übernahm sie Einkäufe für sie, wenn sie sich unwohl fühlte. An manchen Tagen ließ sich die Freundin nicht blicken und öffnete keine Tür.

Sie seufzte. Ich kann sie verstehen, sie kommt über den Verlust ihres Kindes nicht hinweg, dachte sie. Sylvia ging zurück in Anjas Schlafzimmer und packte frische Wäsche in eine Tasche, die sie ihr am Nachmittag in die Klinik bringen wollte. »Hoffentlich geht alles gut«, sagte sie laut und verließ das Haus. Es war Zeit, ihre vierjährige Tochter vom Kindergarten abzuholen.

Anja blickte sich verwirrt um. Wo war sie? Diese Umgebung kannte sie nicht. Sie lag in einem Bett, umgeben von weißen, kahlen Wänden. Sie musste in einer Klinik sein. Das Bett neben ihr war unbenutzt und mit einer Folie überzogen. Was war passiert? Sie versuchte, sich zu erinnern. In ihrem Kopf war Leere. Sie schrie und rüttelte an ihrem Bettgestell. Eine Krankenschwester betrat den Raum. »Immer mit der Ruhe. Wie schön, Frau Simon, Sie sind zurück«, sagte sie.

»Zurück? Wo war ich denn?« Anja blickte die Schwester misstrauisch an.

»Sie waren bewusstlos. Ich sage dem Arzt Bescheid, er wird Ihnen alles erklären«, beruhigte sie die Schwester, die blitzschnell das Zimmer verließ.

Dr. Bender, der Oberarzt, jung und freundlich, kam fünf Minuten später. »Was machen Sie für Sachen. Sie haben Glück gehabt. Wenn Ihre Nachbarin Sie nicht gefunden hätte, wären Sie nicht mehr am Leben«, sagte er. »Sie haben eine Menge Alkohol getrunken. Wie fühlen Sie sich?«

Anja zögerte einen Moment. »Ich weiß nicht, anders als sonst. Sie hätte mich liegen lassen sollen.«

»Wie bitte?« Der Arzt drohte mit dem Zeigefinger. »Na, na«, sagte er. »Wir haben Ihnen eine Infusion angelegt, um ihre Leber zu entlasten. Zusätzlich haben wir Ihnen ein Medikament gespritzt, um ihr Verlangen auf Alkohol zu unterdrücken. Sie brauchen dringend eine Entziehungskur in einer speziellen Klinik, wenn Ihnen am Leben etwas liegt. Ihre Leber macht das nicht mehr lange mit. Das haben die Blutanalyse und der Ultraschall ergeben. Wie denken Sie darüber?«, fragte er.

Anja nickte nicht gerade überzeugt und registrierte seinen warnenden Blick. Was will er von mir, dieser Besserwisser? Die Sprüche kenne ich. In Wahrheit liegt ihm nicht das Geringste daran, was aus mir wird. Einschüchtern will er mich, mir Angst machen.

»Ich werde meine Therapeutin aufsuchen, die mich nach dem Tod meiner Tochter eine Weile betreut hat«, sagte sie.

»Ich kenne Ihre Vorgeschichte nicht, die zur Alkoholabhängigkeit führte. Wenn Sie leben wollen, müssen Sie handeln, schnellstens. Ihren Worten entnehme ich, dass die Trauer um Ihr Kind Sie in diese Situation gebracht hat. Das ist zwar ein Argument, aber kein Grund, das eigene Leben mit Füßen zu treten.«

Anja wollte ihn fragen, woher er das wusste. Stattdessen fragte sie: »Wie lange muss ich hierbleiben?«

»Ein paar Tage, bis Sie stabil sind. Sie können sich gerne hier in der Klinik mit einem Psychotherapeuten unterhalten, wenn Sie möchten.«

»Vielen Dank, ich werde mit Frau Dr. Gaus darüber sprechen.« Ihre Stimme klang entschlossen.

»Wie Sie wünschen. Ruhen Sie sich aus. Später werden wir noch ein paar Untersuchungen vornehmen«, sagte Dr. Bender.

Er ging hinaus und die Schwester kam zurück. »Wenn Sie einen Wunsch haben, klingeln Sie«, sagte sie freundlich. »Im zweiten Schrank von links steht eine Tasche mit Wäsche. Die hat Ihre Nachbarin, mit lieben Grüßen, abgegeben. Sie waren noch nicht aufgewacht.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Fast vierundzwanzig Stunden.«

»Ich habe Durst«, sagte Anja.

»Ich habe Ihnen zwei Flaschen Mineralwasser auf den Nachttisch gestellt. Sie können auch Tee trinken, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Wasser, Tee, wollen Sie mich vergiften?«, brachte Anja bissig hervor.

Sie sah, dass die Krankenschwester sie anlächelte. »Keine Angst, wir vergiften Sie nicht, Frau Simon, es geht nicht nach dem was Sie wollen, sondern was das Beste für Sie ist. Und das wissen wir besser.« Ihr Lächeln war verschwunden. »In einer Stunde gibt es Abendbrot. Alkohol, den gibt es bei uns nicht.« Sie verließ das Zimmer.

Anja fühlte sich unverstanden. Sie äffte der Schwester nach, obwohl sie wusste, dass sie sich ungerecht und kindisch benahm. Das Abendessen rührte sie nicht an. Als es abgeräumt war, ärgerte sie sich. Es fiel ihr schwer einzuschlafen. Weit nach Mitternacht lag sie immer noch wach. Wirre Gedanken kreisten in ihren Kopf. Was blieben ihr für Möglichkeiten? Leben oder Sterben? Sie wusste: Für eines von beiden musste sie sich entscheiden.

Anja war am Ende ihrer körperlichen und seelischen Kraft. Sie fing zu zittern an. Einen Schluck Wein wäre jetzt hilfreich gewesen, sich besser zu fühlen. Dass sie in der Klinik lag, war ihre eigene Schuld. Sie hatte es zu weit getrieben. Lange hielt sie es hier nicht aus und auf weitere Untersuchungen legte sie keinen Wert.

Am nächsten Mittag kam Sylvia zu Besuch. »Ich bedauere, dass das passiert ist«, sagte sie und nahm Anja in den Arm.

Sie duldete es widerwillig. »Schon gut, Sylvia, es ist nicht deine Schuld. Ich komme klar.«

»Nein, du kommst eben nicht klar. Sonst wäre das nicht passiert. Lass dir endlich helfen, bevor es zu spät ist. Du bist noch zu jung. Ich habe mich erschreckt, als ich dich fand.«

Anja sah an ihrem Blick, dass sie sich ernsthafte Sorgen machte.

»Ich weiß nicht, ob ich noch eine Chance habe. Mein Körper ist fertig.«

»Es ist nie zu spät, nimm das Leben, wie es ist. Du kannst noch so viel trinken, es wird sich nicht ändern. Mensch, Anja wach endlich auf, noch ist Zeit.«

Anja nahm ihr diese Worte nicht übel. »Du hast Recht, Sylvia, sterben möchte ich nicht. Ich werde in Therapie gehen.«

»Das ist gut. Wenn du Hilfe brauchst, ich bin für dich da. Ich werde mich nicht wieder von dir wegschicken lassen. Ich bin deine Freundin.«

»Ich weiß, Sylvia, das war nicht richtig. Ich habe unsere Freundschaft mit Füßen getreten. Ich hätte deine Hilfe annehmen sollen.«

»Schön, dass du es einsiehst. Vergiss es nicht wieder«, antwortete Sylvia. »Jetzt muss ich los. Jasmin sitzt unten im Wagen. Bis bald.«

Anja hatte es gutgetan, mit der Freundin zu sprechen. Sie dachte über das Gespräch nach, überlegte hin und her. Sie nahm sich vor, Frau Dr. Gaus aufzusuchen. Das waren keine leeren Worte.

Am Nachmittag verließ sie auf eigenen Wunsch die Klinik, worüber die Ärzteschaft nicht erfreut war. Es war ihr egal. Zu ihnen hatte sie kein Vertrauen. Sie kannte niemanden und keiner kannte sie.

Von einem Taxi ließ sie sich nach Hause bringen. Sie wartete, bis der Wagen wegfuhr und marschierte zum nahegelegenen Supermarkt. Sie kaufte zwei Flaschen Rotwein, eine Flasche Cognac, ein Brot, Butter, Marmelade und etwas Käse.

Beschwingt und voller Vorfreude betrat sie ihr Haus. Anja ging in die Küche, stellte eine Flasche auf den Tisch und räumte den restlichen Alkohol in die hinterste Schrankecke. Sie entkorkte die Rotweinflasche und leckte sich gierig über die Lippen. Ihre Hände waren feucht, vor Aufregung. Einen winzigen Moment zögerte sie, bevor sie ein Glas füllte und austrank. Ihr Leben war in diesem Moment erträglich. Die Nacht überstand sie tief schlafend.^

Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Gardine und kitzelten sie in ihrem Gesicht. Davon wachte sie auf. Sie hatte abends zuvor vergessen, den Rollladen herunterzulassen. Sie sprang aus dem Bett und ging ins Bad.

Nach einer schnellen Wäsche zog sie BH und Höschen an, griff wahllos nach einer schwarzen Hose und einer weißen Bluse. Üblicherweise bevorzugte sie sportliche Bekleidung und trug mit Vorliebe Jeans. Früher hatte sie gerne in Giorgios Boutique in Frankfurt eingekauft. Der junge, freundliche Italiener hatte ihr vor vielen Jahren eine Anstellung in einem exklusiven Modehaus vermittelt. Sie war lange nicht mehr in seinem Laden gewesen. Ob er noch existierte? Sie wusste es nicht. Für Klamotten interessierte sie sich nicht mehr.

Anja streifte ihre Jeansjacke über, zog die Stiefeletten an und strich sich gleichgültig die Haare zurück. Dem quälenden Verlangen nach einem beruhigenden Schluck versuchte sie zu widerstehen.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der vor der Garage parkte, fiel ihr Blick gegenüber in die Bäume. Hatte sich da was bewegt? Hitze durchströmte ihren Körper und stieg ihr zu Kopf. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Sie konnte nicht mehr klar denken, spürte die aufkommende Angst und das würgende Gefühl im Hals. Keuchend rannte sie ins Haus zurück. In der Küche griff sie mit zittrigen Händen nach der Rotweinflasche und genehmigte sich ein paar Schlucke. Mit der Flasche in der Hand betrat sie das Kinderzimmer und setzte sich auf das weiße Plüschsofa. Sie hatte vergessen, dass sie wegfahren wollte. In ihrer Hand hielt sie das Bild ihrer Tochter und spülte die aufsteigenden Tränen mit Wein hinunter. Kurz darauf schlief sie ein. Das Klingeln an der Haustür weckte sie auf. Schwankend lief sie zum Fenster und schaute durch die Gardine. Es war der Mann vom Paketdienst. Er hielt ein Päckchen in der Hand. Anja hatte nichts bestellt und verhielt sich ruhig. Erstaunt blickte sie an sich herab. Sie war zum Weggehen gekleidet. Sie dachte nach. Dann fiel es ihr ein, dass sie vorhatte, ihre Therapeutin aufzusuchen.

Auf dem Dielenschränkchen sah sie die Schale mit frischem Obst stehen. Das wird Sylvia gewesen sein, dachte sie und lächelte. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und ging zu ihrem Wagen. Langsam fuhr sie aus der Siedlung und bog in die Hauptstraße ein, die zur Innenstadt führte. Wie aus heiterem Himmel kam ein Kind auf die Fahrbahn gelaufen, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte sie das entsetzte Gesicht einer Frau, die ihre Arme hochriss und den Mund öffnete.

Anja, starr vor Schreck, die Augen weit geöffnet, handelte instinktiv. Alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. Sie kam mit einer Vollbremsung knapp vor dem kleinen Mädchen zum Stehen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das in ihrem Zustand geschafft hatte. Ihr Herz schlug heftig gegen die Brust. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Anja war nicht fähig auszusteigen. Jeder ahnte sofort, in welchem Zustand sie sich befand. Sie fuhr das Seitenfenster herunter und rief mit aufgeregter Stimme: »Ist alles in Ordnung?«

Die Mutter – Anja vermutete, dass es die Mutter war – hatte das verstörte Kind auf den Gehweg gebracht. Wütend kam sie näher.

»Sind Sie blind oder besoffen? Warum rasen Sie wie eine Verrückte durch die Straße? Haben Sie das Schild nicht gesehen? Hier ist Tempo 30!«, schrie die Frau und drohte mit dem Finger.

»Es tut mir leid, ich bin nicht schneller gefahren«, brachte Anja zu ihrer Verteidigung hervor. Sie war sich nicht sicher, ob es stimmte.

»Das sagen sie alle hinterher«, schimpfte die Frau. »Seien Sie froh, dass Sie noch rechtzeitig anhalten konnten. Es wäre Ihnen teuer zu stehen gekommen.«

Passanten waren aufmerksam geworden und tuschelten. Anja war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. In ihrem Kopf dröhnte es. »Entschuldigen Sie bitte nochmals«, sagte sie.

Die Frau hörte nicht mehr hin. Sie hatte das Kind bei der Hand genommen und war weitergegangen.

Anja war fix und fertig. Was wäre gewesen, wenn sie das Kind überfahren hätte? Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die Vorstellung daran löste einen Weinkrampf bei ihr aus. Die Fahrzeuge hinter ihr hupten, das brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie konnte in ihrer Verfassung nicht weiterfahren und parkte den Wagen rechts am Straßenrand. Sie stellte eine Gefahr für andere dar, dessen war sie sich in diesem Moment bewusst. Hatte sie nur Pech im Leben? Wen konnte sie um Hilfe bitten? Ihre Mutter war vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Das Drama mit der kleinen Melanie hatte sie nicht miterlebt. Bei ihr hätte sie Trost gefunden. Sie waren ein Herz und eine Seele. Sie hatte lange gebraucht, um ihren Tod zu überwinden. Ihr Vater hatte bald darauf geheiratet und war mit seiner zweiten Frau nach Australien ausgewandert. Zum Geburtstag und zu Weihnachten telefonierten sie miteinander. Zur Beerdigung seiner Enkelin war er das letzte Mal in Deutschland gewesen. Ihn wollte sie nicht mit ihren Problemen belasten. Und Sylvia? Die hatte ihr eigenes Leben, musste sich um ein Kind und einen Mann kümmern. Da waren ihre Sorgen fehl am Platz. Anja war nicht der Mensch, der andere gerne belästigte. Gregor fiel ihr ein. Ob sie es wagen sollte? Seine Nummer hatte sie aus dem Speicher nicht gelöscht. Sie nahm das Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste.

»Dr. Simon«, meldete er sich sogleich.

Nach langer Zeit hörte Anja die Stimme ihres Mannes, die warm und freundlich klang. Sie zögerte und hielt die Luft an. Ihr Herz drohte aus dem Rhythmus zu geraten. Wie verhält er sich, wenn er von meinem Problem erfährt? Interessieren ihn meine Belange? Oder lebt er in einer intakten Beziehung und kann keine unangenehmen Nachrichten gebrauchen? Das alles ging ihr rasend schnell durch den Kopf.

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9783748594512
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