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Symptome lassen sich mit Präsenz umwandeln

Die Beispiele von den beiden Frauen, die ich hier geschildert habe, zeigen, wie man mit jedem Gefühl umgehen kann, indem man präsent ist und mit Gewahrsein Zugang zur Unmittelbarkeit des eigenen Seins findet. Auch wenn Ihnen viele Ihrer Empfindungen Probleme bereiten, sollten Sie sie nicht einfach als Krankheitssymptome bezeichnen, denn dadurch berauben Sie sich der Möglichkeit, sie unmittelbar in der Gegenwart zu erleben. Wenn Sie auf unvoreingenommene Weise bei Ihren Empfindungen präsent sind, haben Sie wesentlich mehr Kontrolle darüber, wie diese sich auf Sie auswirken – und vor allem darüber, wohin sie Sie führen.

Der Schlüssel liegt darin, mit Ihrem Gewahrsein bei Ihren Empfindungen zu sein und sie zu spüren, anstatt über sie nachzudenken. Oder anders gesagt: Überlassen Sie Ihre Empfindungen nicht Ihrem Ego, sondern lernen Sie stattdessen, ihnen mit Gewahrsein zu begegnen. Das eröffnet die Möglichkeit, Ihre Symptome zu transformieren, sodass sie sich in neue Bilder, Erkenntnisse oder Gefühle verwandeln können und Sie nicht mehr so stark entmutigen oder einschränken. Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die einfach nur ihre vorhandenen Empfindungen beobachten, anstatt ihnen das Etikett eines Krankheitssymptoms aufzudrücken, eher glauben, ihr Leben im Griff zu haben, und dass sich dies positiv auf ihre Lebensdauer auswirkt.4

Als ich vor Jahren einmal an Felsen kletterte, machte ich meine erste persönliche Erfahrung mit dem Umwandeln von Empfindungen. Mir fiel auf, dass ich mich bei dem Gedanken, ich würde aufgrund der empfundenen körperlichen Erschöpfung gleich herunterfallen, sozusagen automatisch nicht länger halten konnte. So beschloss ich irgendwann, diese Empfindung einfach nur zu beobachten und sie von der Annahme, dass ich gleich fallen würde, abzutrennen. Dabei stellte ich fest, dass ich mich – auch nachdem mein Verstand mir gesagt hatte, ich könne nicht mehr – manchmal noch minutenlang am Fels festklammern und sogar weiter hinaufklettern konnte.

Ein noch weiter führender Schritt gelang mir bei meinen Meditationsübungen; dabei kam es immer wieder vor, dass ich schläfrig wurde und gelegentlich sogar einmal kurz wegnickte. Eines Tages fragte ich mich, worin diese Erfahrung des „Schläfrigwerdens“ eigentlich genau bestand. Ich beobachtete sorgfältig, wie meine Augenlider schwer wurden und mein Blick verschwamm; ich bemerkte, wie meine Aufmerksamkeit vom Wahrnehmen meines Atems und anderer innerer Empfindungen abgezogen und meine äußere Wahrnehmung undeutlich und nebelhaft wurde. Interessanterweise stellte ich fest, dass ich durch das genaue Beobachten dieser Wahrnehmungsveränderungen und das Verweilen bei meinen tatsächlichen Empfindungen schon bald wieder wach und präsent wurde. Der erste und entscheidende Schritt bestand wohl darin, dass ich mich von der verstandesmäßigen Interpretation „Ich werde müde“ oder allein schon von dem Etikett „müde“ löste, mich sozusagen abkoppelte.

Daraufhin begann ich es mir zur Gewohnheit zu machen, mich von den Namen (oder den Geschichten), die mein Ego meinen Gefühlen oder Empfindungen gab, abzukoppeln und stattdessen das tatsächliche Gefühl wahrzunehmen. Wenn mir bewusst wurde, dass ich mir gerade selbst sagte, ich sei müde – vielleicht während meiner Mittagspause oder nach einem langen Arbeitstag –, entfernte ich sozusagen das verstandesmäßige Etikett meines Zustands und nahm das tatsächliche Gefühl bewusst wahr. Ich entdeckte, dass dieses Gefühl sehr subtil ist, beinahe so etwas wie ein Reigen verschiedener Gefühlszustände, die mit Worten wie Trockenheit, Zittern und Schwere nur unzureichend erfasst werden können. Ich stellte auch fest, dass das Identifizieren mit dem Gedanken „Ich bin müde“ – oder, wenn die Symptome heftiger waren: „Ich bin erschöpft“ – verschiedene Dinge auslöste: Zum einen wurden so die Empfindungen interpretiert und definiert, noch bevor ich ihrer gewahr geworden war, und zum anderen wurden sie zu einer Geschichte über „mich“, statt dass sie etwas blieben, was ich einfach nur wahrnahm.

Mir wurde bewusst, dass ich in einer alten Gewohnheit des Ego feststeckte: der Gewohnheit, den Dingen Namen zu geben und sich mit diesen Namen zu identifizieren. Außerdem bemerkte ich, dass mein Ego automatisch und nahezu sofort eine zweite Ebene an Gedanken erzeugte, wie beispielsweise das Urteil, ich arbeitete zu viel oder müsse meine Energie besser einteilen. Gleich darauf begann ich mir dann Sorgen zu machen, etwa, ob ich wohl fit genug sei, um das Programm des nächsten Tages durchzustehen, oder ob ich wohl krank werden würde.

Ich brachte mir also bei, aufmerksam wahrnehmend in meinem Körper präsent zu sein und die Nuancen der einzelnen körperlichen Empfindungen und Gefühle zu erleben, die sich zeigten, wenn ich Gedanken hatte wie „Ich bin müde“ oder „Ich bin in Eile“ oder auch „Mir reicht es jetzt.“ Ich entdeckte schnell, dass das Präsentsein bei diesen Empfindungen und Gefühlen sowie das Entfernen jeglicher Etiketten mich in einen leicht veränderten oder auch völlig neuen Zustand brachte. Häufig fühlte ich mich bereits besser und erholter, wenn ich es geschafft hatte, meine wirklichen Gefühle zu identifizieren – also das, was ich empfand, unabhängig von mentalen Prozessen des Benennens, Erklärens und Projizierens in die Zukunft. Selbst wenn ich tatsächlich müde war, handelte es sich nun eher um ein Gefühl des Abgespanntseins, das in seiner Natürlichkeit sogar recht angenehm war.

Ich erkannte, dass die Art, wie ich meinen Zustand benannte, zusammen mit dem Kontext anderer, unmittelbar auf die Benennung folgender Gedanken bewirkte, dass ich mir weitaus müder, erschöpfter oder ängstlicher vorkam, als dies tatsächlich der Fall war. Mit der Zeit lernte ich, dass dies für jede Empfindung und jedes Gefühl zutrifft, selbst für die dunkleren (über die wir später noch sprechen werden). Was Sie also tatsächlich erleben, ist in der Regel wesentlich weniger problematisch als die Realität, die Sie sich erschaffen, indem Sie die Dinge benennen und in einen bestimmten Kontext setzen.

Auch eine Empfindung können Sie umwandeln – jetzt!

Inzwischen vermittle ich in meinen Seminaren den Teilnehmern die Fähigkeit, körperliche Empfindungen und Gefühle umzuwandeln, indem man sie mit Gewahrsein betrachtet. Wenn Sie möchten, können Sie es gleich einmal selbst probieren. Beginnen Sie mit einer Empfindung, die Sie in Ihrem Körper wahrnehmen. Richten Sie sanft und beständig Ihre Aufmerksamkeit darauf und entspannen Sie sich gleichzeitig. Beobachten Sie, wie Ihr Verstand das Gefühl definieren möchte – welche Worte Sie verwenden, um es sich selbst zu beschreiben. Lassen Sie die Worte einfach vorbeiziehen und versuchen Sie, die tatsächliche Empfindung wahrzunehmen.

Achten Sie vor allem auf die Momente, in denen Ihr Ego Sie denken lässt, dass Sie diese Empfindung schon einmal gespürt hätten. Auf diese Weise übernimmt es nämlich die Kontrolle und hält Ihr Denken in der Vergangenheit fest. Nehmen Sie also einfach die Annahme „Ich kenne dieses Gefühl“ als eine reine Annahme wahr und stellen Sie sich vor, Sie spürten diese Empfindung zum ersten Mal. Betrachten Sie sie wie ein Naturforscher im tropischen Regenwald, der eine Blume entdeckt, die er noch nie zuvor gesehen hat. Er untersucht sie sehr sorgfältig, kann ihr aber noch keinen Namen geben. Stattdessen betrachtet er einfach ihre ganz einzigartigen Eigenschaften: die Farbe, die Anordnung der Blütenblätter, die Anzahl der Verzweigungen, die vom Stängel abgehen, und so weiter. Sehen Sie sich ihre Empfindung auf die gleiche Weise an. Seien Sie aufmerksam und offen und beobachten Sie einfach, was passiert. Ändert sich die Empfindung? Bemerken Sie irgendeine Veränderung in Ihrem Gesamtzustand?

Natürlich ist es schwierig, sich gut zu fühlen, wenn Sie unter chronischen Schmerzen leiden. Gleichzeitig gilt jedoch, dass Schmerzen nicht nur einen physischen Ursprung haben. Sie werden durch Ihren Bewusstseinszustand unterstützt und intensiviert und dieser wiederum hängt von Ihren Gedanken ab. Wenn Sie präsenter sind, ändert sich die Art, wie Sie körperliche Schmerzen erleben – in der Regel nehmen sie ab. Das Gegenteil trifft übrigens ebenfalls zu: Je mehr Sie mit Ihren Gedanken in die Vergangenheit oder die Zukunft abdriften, umso wahrscheinlicher wird sich Ihr Gefühl des Leidens verstärken.

Ihr Körper verfügt über eine hohe natürliche Intelligenz und tut sein Bestes, um Sie so gut wie möglich wieder gesund zu machen. Zunächst jedoch müssen Sie präsent sein und sich von den Geschichten frei machen, die das Ego Ihnen erzählt. Wenn es um Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden geht, dann wissen Sie eins mit Sicherheit nicht, nämlich, wie ihr gegenwärtiger Gesundheitszustand aussehen würde, wenn Sie sich nicht fortwährend durch Ihre Gedanken vom Hier und Jetzt abschneiden würden.

Ich möchte hier keineswegs sagen, dass es nicht ratsam wäre, den Grund für ihre Krankheit zu erfahren, wenn Ihnen das Handlungsmöglichkeiten erschließt, mit denen Sie Ihre Gesundheit wiedergewinnen können. Abraten möchte ich allerdings vom Suchen nach Antworten in einer Art und Weise, die Ihre Gedanken in der Vergangenheit festhält oder sie allein auf die Zukunft richtet. Es ist nicht hilfreich, über das nachzudenken, was war, wenn das nur zu Groll und Abwehr gegenüber Ihren gegenwärtigen Umständen führt. Der einzige Zeitpunkt, zu dem Sie die Fähigkeit haben, neue Entscheidungen zu treffen, und die Kraft, höheres Wohlbefinden zu erzielen, ist der gegenwärtige.

Wenn Sie einmal innehalten und die Dinge von diesem Standpunkt aus betrachten, können Sie dann erkennen, wie Ihre derzeitige „Strategie“ für Gesundung Ihnen Stress in Form von Druck, Sorgen oder Ängsten bereitet? Oder sind Sie bereits entspannt präsent und entdecken die größere Lebendigkeit, die Sie im Hier und Jetzt immer erwartet?

Ungewissheit über die Zukunft ist einer der am meisten belastenden Zustände, speziell dann, wenn Sie krank sind. Es ist ganz natürlich, wissen zu wollen, was man als Nächstes tun soll. Sie möchten einen Plan haben und wissen, in welche Richtung es geht. Aber nachdem Sie sich für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden eine Strategie zurechtgelegt haben, haben Sie erst die halbe Arbeit getan. Natürlich ist es nicht verkehrt, eine Strategie zu haben, aber Sie müssen sich auch auf Präsenz im Jetzt einlassen, um von seinem lebendigen Strom genährt zu werden.

Wenn Sie nicht in der Gegenwart verankert sind (und somit auch nicht in Ihrem natürlichen Zustand der Ganzheit), dann besteht der angespannteste und anstrengendste Teil des Weges zur Heilung häufig darin, nach Zeichen der Besserung Ausschau zu halten und abzuwarten, was die neuesten Untersuchungen ergeben. Egal, ob die erwarteten Untersuchungsergebnisse Ihre eigenen sind oder die Ihres Kindes oder eines anderen Ihnen nahe stehenden Menschen – es ist in jedem Fall verständlich, dass sie Ihnen nicht gleichgültig sind. Aber bis Sie die Ergebnisse in Händen halten, werden Ihr Energiefeld und Ihr Gemütszustand wesentlich offener sein und Sie können sich selbst und andere wesentlich besser unterstützen, wenn Sie einfach in der Gegenwart leben.

Auch schlechte Neuigkeiten müssen Sie nicht automatisch in eine angstbesetzte Zukunft katapultieren. Untersuchungsergebnisse sind nur Momentaufnahmen, sie zeigen nie das Gesamtbild. Bleiben Sie also fest in der Gegenwart verankert – denn sonst wird Ihr Ego Sie mit Gedanken bombardieren, die Sie in ein Wechselbad aus Angst und Hoffnung tauchen. Die schlichte und ergreifende Wahrheit ist, dass es außerhalb des gegenwärtigen Moments weder ein Gefühl der Sicherheit noch ein Gefühl des Wohlbefindens gibt.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Sie nicht auf Ihre Ärzte hören und sich nicht mehr an ihre Vorschriften halten sollten. Auch können Sie natürlich Ihr eigenes Gesundheitsprogramm weiterhin praktizieren. Es bedeutet einfach nur, dass Sie mehr sind als dasjenige Leben, das Ihr Ego Ihnen immer wieder aufs Neue vorgaukelt. Ihre grundlegende Verantwortung besteht darin, jetzt und hier präsent zu sein. Wer Sie wirklich sind, ist am Ende ein Geheimnis, das sich allen Statistiken entzieht. Das, was wichtig ist – und was manchmal sogar die Statistiken erheblich verbessern kann –, ist das, was Sie hier und jetzt leben.

Wenn Krankheit eine Form des Leidens ist, die Sie von Selbstgefälligkeit befreit oder sie zum Lernen oder Wachsen motiviert, dann liegt das Geschenk Ihrer Krankheit in ihrem Potenzial, Sie aufzuwecken. Sobald Sie einmal „erwacht“ sind, ist das Geschenk, das Sie sich selbst machen, die Aufmerksamkeit, die Sie der Erfahrung jedes Moments schenken. Die Krankheit kommt nicht, um Sie zu verändern, aber wenn Sie die damit zusammenhängende Erfahrung bewusst leben, können und werden Sie sich verändern. Durch die Entscheidung für ein Leben im gegenwärtigen Moment wird eine neue Wirklichkeit geschaffen.

Nehmen Sie mit sanfter Freundlichkeit sich selbst gegenüber einfach Folgendes wahr: Haben Sie Ihr Leben reaktiv oder mit Offenheit und Aufnahmebereitschaft gelebt? Leben Sie in der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart? Schwanken Sie zwischen Hoffnung und Angst oder ruhen Sie in der Annahme dessen, was ist? Leben Sie für andere oder genießen Sie eine erfüllende Beziehung zu sich selbst?

Ganz gleich, wie Sie bisher gelebt haben: Es ist nie zu spät für einen Neustart, denn Sie erfinden sich selbst sozusagen jeden Moment neu – ob Ihnen dies bewusst ist oder nicht. Die Möglichkeit, die ich Ihnen im nächsten Abschnitt dieses Buches vorstelle, besteht darin, sich selbst bewusst und voll Mitgefühl neu zu erfinden. Wäre es nicht verlockend herauszufinden, wie lebendig, strahlend und gesund Sie sein könnten, wenn Sie einen größeren Teil Ihres Lebens in einem Zustand der Präsenz verbrächten?

Im Folgenden werden Sie auch lernen zu erkennen, wie genau Sie auf Abwege geraten, wenn Sie nicht vollständig präsent sind. Sie werden lernen, auf den Weg zurückfinden, der Sie immer geradewegs ins Jetzt bringt. Wenn Sie bereit sind, können wir nun damit beginnen, einen genaueren Blick auf Ihr eigenes Leben zu werfen, um festzustellen, welche Pfade Sie ohne Umwege zu Ihrem vollen Potenzial für Selbstheilung und Ganzheit bringen.

TEIL II


Das Mandala des Lebens einsetzen

Es ist nun an der Zeit, das bisher Gelernte aktiv anzuwenden, damit Sie Tag für Tag etwas für Ihre Selbstheilung tun können. Dazu müssen Sie Ihre normalen Denkmuster bewusst unterbrechen und dafür wach werden, wann Sie sich gerade eine „Geschichte“ über die Vergangenheit oder die Zukunft, über sich selbst oder andere erzählen. Ein weiterer Schritt besteht darin, die Aufmerksamkeit vollständig auf Ihren Körper zu lenken und Ihre fünf Sinne zu nutzen, um ohne das Überstülpen von Gedanken wahrzunehmen, was tatsächlich gerade im Jetzt passiert.

Zwar beschreiben und interpretieren Ihre Gedanken Ihr Erleben, Ihren Körper oder Ihre Gefühle – aber nur durch das Präsentsein im Moment können Sie all dies direkt erfahren. Im nachfolgenden Abschnitt werde ich Ihnen einen Prozess vorstellen, mit dessen Hilfe Ihnen bewusst werden wird, wie das Ego Ihr tagtägliches Erleben im Klammergriff hält und wie Sie sich daraus befreien können. Sie werden erkennen, wie tiefgreifend dies Ihre Gesundheit und alle anderen Aspekte Ihres Lebens beeinflusst. Der wichtigste Punkt jedoch wird sein, dass Sie durch die Arbeit mit diesem Prozess tatsächlich den Unterschied werden wahrnehmen können zwischen einem Leben, das auf vom Ego gesteuerten Gedanken beruht, und dem Leben in Präsenz.

Zuguterletzt werden Sie lernen, wie Sie in sich selbst auch für die „dunklen“ und schwierigen Gefühle Raum schaffen, sodass Ihr Geist unabhängig von den Geschehnissen um Sie herum stark genug ist, Sie im gegenwärtigen Moment verankert zu halten – wo Sie immer sicher, geliebt und heil sind.

KAPITEL 4


Die Kraft der Präsenz nutzen

Einschneidende Ereignisse im Leben wie eine schwere Krankheit oder eine Verletzung, eine Scheidung, finanzieller Ruin oder der Tod oder Verlust von Menschen, die uns nahe stehen, sind schwer zu verkraften. Doch sind sie nicht das Schlimmste, was uns passiert, denn am meisten leiden wir in der Regel nicht unter der Situation selbst, sondern unter dem, was wir uns selbst darüber „erzählen“.

Wenn Sie beispielsweise eine vielversprechende Sportlerkarriere aufgrund einer Verletzung aufgeben müssten, wäre das vielleicht eine schlimme Sache. Viel schlimmer jedoch wäre, wenn Sie sich selbst erzählten, das Leben sei nun nicht mehr lebenswert. In ähnlicher Weise ist es eine Sache zu erfahren, dass Ihr geliebter Sohn sich nach Jahren emotionaler Belastung das Leben genommen hat. Sie verschlimmern Ihr Leid aber nur zusätzlich, wenn Sie sich auch noch Vorwürfe machen oder gar sich oder dem anderen Elternteil die Schuld geben, weil Sie als Eltern versagt hätten – obwohl Sie alles in Ihrer Macht Stehende für Ihr Kind getan haben.

Wenn Sie aber in der Gegenwart verankert bleiben und nicht zulassen, dass Ihr Verstand Sie in diese Art von Gedanken treibt, dann gibt es da einen Teil von Ihnen, der mehr bei sich ist, der über ein tieferes Wissen verfügt und in der Lage ist, mit allem umzugehen und mit allem zu leben, was passiert. Eine Freundin und „Schülerin“ von mir formulierte es so – ein Jahr, nachdem ihr Sohn sich mit 19 das Leben genommen hatte: „Ich habe Gefühle von außerordentlichem Schmerz gespürt und bin an Orte gegangen, die ich immer noch nicht beschreiben kann und die ich niemandem wünschen würde. Aber die Wahrheit ist, dass ich keinen Moment lang gelitten habe.“ Was machte es ihr möglich, so etwas zu sagen? Die Jahre, die sie mit dem Praktizieren von Präsenz verbracht hatte.

Wenn Sie sich in Präsenz üben und sie praktizieren, sind Sie wach dafür, wann Sie anfangen, sich Geschichten über die Vergangenheit oder die Zukunft beziehungsweise über sich selbst oder andere zu erzählen; und Sie greifen ein, sobald diese drohen, sie aus der Gegenwart hinaus und in schmerzvolle und zerstörerische Emotionen hineinzukatapultieren. Sie erwachen wie aus einem Traum und werden sich bewusst, dass Sie sich selbst eine Geschichte erzählen und dass diese entweder schlimmer ist als das, was Sie derzeit erleben, oder dass sie Ihr Erleben schmälert oder verzerrt. Anstatt sich in diesen (Alb-) Traumgebilden zu verlieren, bringen Sie die volle Aufmerksamkeit zurück zu Ihrem Körper und zu dem, was gerade passiert. Wenn Sie das tun, fühlen Sie sich unterstützt und gelangen durch Präsenz wieder in Ihre Kraft.

Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit in der Gegenwart verankern, sind Sie nicht immun gegen Schmerz, aber das, was Sie fühlen, ist das wahre, unverfälschte Gefühl, das das gegenwärtige Geschehnis begleitet. Ohne eine Geschichte, ohne die von Ihrem Denken erzeugte Realität, trennen Ihre wahren Gefühle und Ihr tatsächliches Erleben Sie nicht vom Leben ab. Sie sind dann einfach nichts Besonderes.

Was tatsächlich ist, ist niemals schlimmer als das, was Sie sich vorstellen.

Wenn Sie Präsenz praktizieren, steigt ganz von selbst ein Gefühl der Verbundenheit mit allem in Ihnen auf. In diesem Zustand zu sein kann sich kostbar und heilig anfühlen, besonders in Zeiten der Trauer, wenn Ihre Gedanken Ihnen sagen, dass Sie am Boden zerstört und untröstlich sein sollten. Durch Ihre Verankerung in der Gegenwart treten solche Gedanken in den Hintergrund und Ihnen wird bewusst, dass es nur Gedanken sind. Ihr Geist ist weniger vollgestopft und Sie haben mehr Raum. Das Ego hat seine Macht verloren und kann mit seinen Geschichten weder Ihre Identität noch Ihre Wirklichkeit erzeugen. Sie nehmen wahr, dass immer noch einige Gedanken kommen und gehen, aufsteigen und sich wieder auflösen, aber Sie schenken ihnen keine Energie beziehungsweise Aufmerksamkeit mehr.

Das Gefühl der Präsenz ist wie ein zarter Energiestrom, der in Ihnen und um Sie herum fließt. Es mag sich wie eine feine Schwingung in Ihren Zellen anfühlen oder einfach nur wie ein Gefühl von Stille und Frieden. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf dieses zarte Gefühl richten, verstärkt es sich. Sich Ihres Atems bewusst zu werden und dieses Gewahrsein mit dem sanften Strom der Präsenz zu verbinden, wird die Erfahrung noch weiter vertiefen. Nach und nach bemerken Sie vielleicht, dass es zwar einen sich ständig wandelnden Strom von Empfindungen und Wahrnehmungen gibt, aber auch ein Fundament von Wohlbefinden und ein Gefühl der Stimmigkeit. Dieser ruhige Ort kann zum Fundament Ihres Seins werden, und wenn dies eintritt, haben Sie sich vom Konflikt mit der Wirklichkeit verabschiedet und befinden sich stattdessen in Harmonie mit ihr.

Harmonie und Stimmigkeit bedeuten übrigens nicht, dass Sie sich immer gut fühlen werden. Als der Sohn meiner Freundin sich das Leben nahm, war das, was sie fühlte, keineswegs leicht zu ertragen. Natürlich empfand sie großen Kummer, aber da sie es nicht zuließ, dass ihr Denken sich in Richtung von Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen bewegte, waren selbst die entsetzlichen Gefühle über den Verlust ihres Sohnes Teil eines größeren Raums von Sein und Verbundenheit, in dem sie sich gehalten fühlte.

Wie das Herz Blut pumpt, so erzeugt der Verstand Gedanken. Doch wenn Sie gänzlich präsent sind, müssen Sie nicht mehr versuchen, angstbesetzte Gedanken durch positive zu ersetzen. Gedanken kommen und gehen. In der Präsenz ruhend beobachten Sie, wie die Geschichten sich bilden und wieder auflösen, bevor Sie sie gefangen nehmen können. Wenn Sie Präsenz verkörpern, befinden Sie sich in einem so natürlichen Zustand der Fülle, dass Sie sich nicht länger mit hoffnungsvollen Gedanken betrügen müssen. Durch das Präsentsein werden Sie womöglich sogar feststellen, dass der von hoffnungsvollen oder positiven Gedanken erzeugte Zustand im Vergleich zu der jedem Moment eigenen Fülle verblasst.

Indem Sie sich im Jetzt verankern, öffnet sich ein Raum. Genauer gesagt ist es eine Lücke, die zwischen einem „Reiz“ und Ihrer Reaktion entsteht. Es ist so, als hätten Sie mehr Zeit, um Ihre Reaktion auf die Geschehnisse in Ihrem Leben auszuwählen, sodass die Neigung zu Abwehr, Aggressivität, Zorn oder Angst nachlässt und Sie seltener nach einem gewohnten Schema reagieren. Auch fällen Sie keine überstürzten Urteile mehr oder treffen blinde Annahmen beziehungsweise hastige, emotional gesteuerte Entscheidungen. Ihre „Reaktionsfreudigkeit“, also Ihre Neigung zum automatischen Reagieren, hängt nicht von der Stärke des auslösenden Reizes ab, sondern vielmehr davon, wie weit Sie von Ihrem authentischen Selbst entfernt sind – also letztlich vom Grad Ihres Nichts-präsent-Seins.

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