Ricarda Huch
Der Dreißigjährige Krieg
Der große Krieg in Deutschland
Ricarda Huch
Der Dreißigjährige Krieg
Der große Krieg in Deutschland
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
EV: 1962, Insel-Verlag
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-55-5
null-papier.de/715
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen zur Bearbeitung
Erster Teil: Das Vorspiel
1.
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Zweiter Teil: Der Ausbruch des Feuers
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Dritter Teil: Der Zusammenbruch
1.
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Über den Umgang mit Menschen
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
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Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
Die Orthografie wurde der heutigen Schreibweise behutsam angeglichen.
Grundlage dieser Veröffentlichung bilden folgende Ausgaben:
Insel-Verlag, zuerst erschienen: 1912 bis 1914 unter dem Titel ›Der große Krieg in Deutschland‹
Insel-Verlag Frankfurt am Main, 1962
1585 bis 1620
Im Jahre 1585 wurde im Schlosse zu Düsseldorf die Hochzeit des jungen Herzogs Jan Wilhelm mit Jakobe von Baden so pomphaft und majestätisch gefeiert, wie es dem Ansehen des reichen Jülicher Fürstenhauses entsprach. Nachdem die Festlichkeiten abgelaufen waren, verabschiedete sich der Kurfürst von Köln, Ernst von Wittelsbach, der Bruder des Herzogs von Bayern, von der Braut, die seine Nichte war, und sagte zu ihr, er scheide leichteren Mutes, als er gekommen sei; denn es habe oftmals an seinem Gewissen genagt, ob die Heirat, zu der er sie in wohlwollender Meinung und Absicht auf ihr Glück überredet habe, sie auch zufriedenstellen werde. Nun habe er sich aber, da er während der Hochzeit ihr lächelndes Antlitz und auch die vielfache Pracht ihrer neuen Umgebung und die Höflichkeitsbezeigungen der Familie gesehen habe, darüber zur Ruhe begeben.
Jakobe lächelte mit Augen und Mund halb gutmütig, halb spöttisch und erwiderte: »Mich dünkt die Umgebung nicht so prächtig und die Familie nicht so höflich wie Euch. Alle Farben erscheinen mir hier aschenfarben und alle Kurzweil wie Langeweile und Trübsal. Mein Schwiegervater, der alte Herzog, den Ihr mir als den verständigsten und stattlichsten Herrn im Reiche geschildert hattet, ist ein alberner Greis, der den Löffel Suppe verschüttet, den seine zitternde Hand zum Munde führt. Meine fromme Schwägerin Sibylle hat mich mit kalten, trocknen Lippen geküsst und die Augen jämmerlich verdreht, als ob ein Leichenbegängnis gefeiert würde.«
Ja, sagte der Kurfürst ein wenig verlegen, er habe nicht gewusst, dass es so hässlich um den alten Herzog stehe; der Schlag, der ihn kürzlich getroffen, habe seinen Verstand geschwächt, doch sei ja zu hoffen, dass seine Ärzte ihm wieder einen Aufschwung gäben; andererseits sei er bei so hohen Jahren, dass man sich auf seinen Hintritt gefasst machen müsse, und dann werde sie die Herrin werden. Denn sie habe doch wohl Schönheit und Witz genug, ihren Gemahl, ein wie mächtiger Fürst er auch sei, ihrer noch mächtigeren Herrschaft zu unterjochen. Ihr heimliches Händedrücken und Auf-die-Füße-Treten bei der Tafel sei ihm nicht entgangen; sie solle nur bekennen, dass sie mit Jan Wilhelm wohlversehen sei. Dabei streichelte der Kurfürst ihre vollen, dunkelerröteten Wangen und ihren mit Perlenschnüren behängten Nacken.
Mit ihrem Gemahl sei sie zufrieden, sagte sie; sie hätte nicht geglaubt, dass er so hübsch und so artig sei. Der würde ihr gewiss nicht viel zu schaffen machen.
Der Kurfürst betrachtete sie unschlüssig und gab ihr dann noch eine Reihe guter Lehren und Ermahnungen. Zu leicht solle sie sich’s auch nicht vorstellen, sie sei am bayrischen Hofe zwischen frommen und liebevollen Verwandten aufgewachsen, hier in Düsseldorf seien große Aufgaben für sie, aber auch Gefahren, und es gelte Vorsicht und Misstrauen zu üben. Es wäre wohl schön, wenn sie die Kirche in diesen Landen wieder aufrichten könnte; aber die Stände seien meistenteils kalvinisch und hätten leider allzu viel Macht, sie müsse sich hüten, mit der Gewalt dreinzufahren, lieber Gelegenheiten abwarten und listig durchschlüpfen. Vor allen Dingen solle sie sich zurückhalten, bis sie ein Prinzlein geboren haben werde, das werde ihr Ansehen verleihen, und es werde jawohl nicht lange damit anstehen.
Ob er etwa meine, er könne ihr jetzt schon etwas anmerken, sagte die junge Frau lachend, indem sie sich seiner Abschiedsküsse zu erwehren suchte. Er solle nur ihretwegen ruhig sein, sie sei nun einmal hier, habe sich darein ergeben und wolle sich mit Gott so gut einrichten, wie es möglich sei.
Seine Ratschläge seien überflüssig, dachte sie, als er sie verlassen hatte; aber er meine es gut mit ihr und habe sie aufrichtig lieb. Warum sollte er sie auch nicht lieben, da sie doch ihr Angesicht so wonnevoll auf dem runden venezianischen Spiegel wie eine Wasserrose auf blanker Seefläche schwimmen sah. Nun wollte sie aber zeigen, dass sie mehr vermöge als Blicke werfen und Laute spielen; sie, die als Protestantin geboren und durch Gottes Fügung an den bayrischen Hof gebracht und zur Kirche zurückgeführt war, wollte im Jülicher Lande die Ketzerei ausrotten und sich dadurch der höchsten Ehre bei Papst und Kaiser, vor allen Dingen bei ihrem Pflegevater, dem Herzog Wilhelm von Bayern, wert machen.
Nach ihrer Meinung konnte es nicht so bleiben, dass Jan Wilhelm, ihr Mann, als ein Kind und fast als ein armer Tropf am Hofe galt; sie hatte den künftigen Herzog eines reichen Landes geheiratet, und als solcher sollte er sich öffentlich zeigen. Ihm kam es vor, als werde er zum ersten Male recht gewürdigt und in seiner Bedeutung erkannt, und er griff hastig nach den Zügeln der Regierung, um die er sich vorher niemals bekümmert hatte. Da es eben damals geschah, dass die Stadt Wesel, die als eine einhellig kalvinische, tapfere und wohlhabende Gemeinde bekannt war, einen katholischen Geistlichen hinausgeschafft hatte, machte sich Jan Wilhelm dahinter und ordnete an, die Stadt solle eine ihrer Kirchen dem katholischen Gottesdienst einräumen. Dagegen erhoben sich die Stände, die protestantisch waren, als gegen eine gewaltsame Neuerung, und auch der alte Herzog, nachdem er eine Weile erstaunt und misstrauisch zugesehen hatte, verbat sich das vordringliche Gebaren seines Sohnes. Darüber kam es zu bösen Auftritten in der Familie, wobei der alte Herzog vorzüglich Jan Wilhelm bedrohte, Sibylle hingegen Jakoben vorwarf, sie sei schuld an der Verwandlung ihres Bruders, der bis dahin ein frommer, gehorsamer Sohn gewesen sei. Mit dem Schwiegervater und der Schwägerin hätte sich Jakobe allenfalls fertig zu werden getraut; aber mächtiger als diese waren, wie sie allmählich bemerkte, einige Räte des Herzogs, vor allen Herr von Waldenburg, genannt Schenkern, der an Stelle des hinfälligen Alten nach seinem Gutdünken regierte. Dieser war es, dessen Befehlen der Hofstaat und die Dienerschaft gehorchten und der immer dahintersteckte, wenn ihre und ihres Mannes Wünsche auf Widerstand stießen.
Als sie eines Abends mit einigen jungen Herren und Frauen von Adel beim Brettspiel saßen und die Schatulle leer fanden, aus der sie das Geld zu einem neuen Einsatz nehmen wollten, wurde ihnen vom Zahlmeister, nach dem sie schickten, bedeutet, sie hätten mehr verbraucht, als ihnen zustehe, er wolle ihnen wohl für den Augenblick mit einer Kleinigkeit aus seinem Eigenen aushelfen, inskünftige möchten sie aber das Wams nach dem Stücke schneiden und die Schleppe ein wenig stutzen.
Es gelang Jakobe nicht, in ihrem Manne dieselbe Entrüstung zu erregen, die sich ihrer bemächtigt hatte, noch weniger, ihn zum Einschreiten gegen den Marschall Schenkern zu bringen, auf den der Zahlmeister sich berufen hatte. So zog sie denn den mächtigen Mann selbst zur Rechenschaft und hielt ihm vor, dass sie nicht etwa ihn um Geld bitte, vielmehr verlange, dass ihr unerbeten geliefert werde, was zur Bestreitung eines fürstlichen Hofhalts erforderlich sei.
Das sei ihnen geliefert worden, entgegnete Schenkern kalt, sie hätten es aber allzu schnell verbraucht.
Das Blut stieg der jungen Frau ins Gesicht. Nicht so viel sei ihr gereicht worden, wie sich zum Nadelgeld für eine unvermählte Prinzessin schicke. Was sie denn ausgegeben hätte? Gewänder und Kleinodien hätte sie mitgebracht, hier nichts dergleichen erhalten. Ob es ihr etwa verboten sein solle, bei ihrem täglichen Gang in die Messe Almosen auszuteilen? Oder ob ihnen das Brett- und Kartenspiel als ihre einzige Unterhaltung zu missgönnen sei? Es gebe Untertanen des Herzogs, die prächtiger als sie und ihr Herr aufzögen, ausreisten, so oft und wohin es ihnen beliebte, und Gnaden verteilten wie regierende Fürsten. Dabei lenkte sie das zornige Feuer ihrer dunkelblauen Augen gerade auf ihn.
»Ich genieße«, sagte Schenkern mit dreistem Lächeln, »was meine Ämter mir einbringen. Einem jeden das Seine. Ihre Gnaden müssen mit Ihrem Einkommen haushalten und sich in die Stellung Ihres Gemahls fügen lernen, die bescheidener ist als die hochfahrenden Mienen und Worte Eurer Gnaden. Denn bis jetzt ist der junge Herr nur der erste Untertan unseres regierenden Herzogs.«
»Der Rat, den Ihr mir gebt, ist gut für Euch«, rief Jakobe aufbrausend. »Wir werden sehen, wer sich eher in die Stellung bücken muss, die ihm zukommt, Ihr oder ich.«
Einstweilen freilich musste Jakobe das kärgliche Leben fristen, das ihr vorgeschrieben war, womit es eher schlimmer als besser wurde, umso mehr, als sie nach Verlauf einiger Jahre noch immer nicht schwanger geworden war. Die Sucht, sich hervorzutun, zu der sie Jan Wilhelm angespornt hatte, ließ gänzlich bei ihm nach und wich trüben Gedanken, wie dass Gott ihn mit Kinderlosigkeit für seine Sünden strafe, als welche er vorzüglich ansah, dass er seinem Vater getrotzt und dass er Elend über seine Untertanen gebracht habe. Es waren nämlich in die Stadt Wesel, die er zur Einführung eines katholischen Pfarrers hatte zwingen wollen, spanische Truppen eingelegt worden, die sich wegen des Krieges mit den niederländischen Staaten an der Grenze befanden, und er hatte eine Bittschrift der Stadt gelesen, in der sie über ihre Bedrängung Klage führte. Ein Satz, der darin vorkam, nämlich: ›Schreit es nicht zum Himmel, dass schutzlose Witwen und Waisen, die keines anderen Verbrechens schuldig sind, als dass sie in ihrem Glauben verharren wollen, von einer fremden, grausamen Soldateska unausstehliche Marter und Qual Leibes und der Seele erdulden müssen?‹, hatte sich ihm so eingeprägt, dass er durch nichts anderes zu verdrängen war. Weder Schelten noch Schmeicheln, wodurch Jakobe ihn wechselweise umzustimmen suchte, noch die sonst beliebte Zerstreuung des Brett- oder Ballspiels verfingen; ja, eines Tages kam es so weit, dass der Prinz sich aufzustehen weigerte, weil ihm die Lust am Leben vergangen sei.
Um diese Zeit starb Dietrich von Horst, der Jan Wilhelm erzogen hatte und dem er, obwohl er von ihm mit Strenge behandelt worden war, so zärtlich anhing, dass man sich nicht getraute, seine Schwermut durch die Todesbotschaft zu vermehren. Die Ärzte des alten Herzogs, unter denen ein sechzigjähriger Mann, der Doktor Solenander, das meiste Ansehen hatte, erteilten den Rat, den Kranken durch eine Reise zu entfernen; währenddessen könne der von Horst bestattet werden, und zugleich würden die neuen Eindrücke den jungen Herzog auf andere Gedanken bringen.
Jakoben, die ihren Gemahl begleiten wollte, riet Solenander freundlich davon ab; er ehre und verstehe ihre Liebe und Treue, urteile jedoch als Arzt, dass eine vollständige Veränderung der Umgebung dem Kranken am dienlichsten sei, besonders auch, weil es nicht anders sein könne, als dass die Nähe seiner jungen und schönen Frau ihn zu allerhand Zärtlichkeiten ehelicher Liebe reize, wodurch er seine Kraft erschöpfe, und das müsse eben jetzt am allermeisten vermieden werden. Trotz ihres Vorurteils gegen den Arzt, der kalvinisch war, flößte sein redliches und würdiges Wesen ihr Vertrauen ein, sodass sie ihm mit kindlich huldvollem Lächeln erwiderte, sie wolle sich seinen Anordnungen fügen. Freilich war es ihr aufs bitterste zuwider, dass es Schenkern war, dem ihr Mann anvertraut wurde und der ihn wie einen Gefangenen mit sich führte; allein sie tröstete sich damit, dass Jan Wilhelm in einem leidlichen Zustande wiederkommen und dass sie zunächst einmal von dem Druck seiner seltsamen Melancholie frei sein werde.
So recht von Herzen frei und fröhlich, ob man das in dem weitläufigen Schlosse von Düsseldorf sein könne, daran zweifelte sie zwar. Oftmals stand sie vor dem Bilde der verstorbenen Herzogin Maria, der Mutter ihres Mannes, die, wie man ihr erzählt hatte, jahrelang voll irrer und trübseliger Gedanken, fast abwesenden Geistes gewesen war. Nicht ohne Grauen betrachtete sie die schmale, in sich zusammengekrochene Gestalt, die von dem scharlachfarbenen Brokatkleid erdrückt schien, das spukhaft bleiche, angstvolle Gesicht unter den gelblich-roten Haaren und die dünnfingrigen Hände, die sich wächsern um ein Andachtsbuch bogen. Auch ihr gefiel es, Schwiegertochter einer Tochter des hochseligen Kaisers Ferdinand I. und Tante des regierenden Kaisers Rudolf zu sein; trotzdem machte es sie ein wenig lachen, dass man sich hier auf diese missratene Person so viel zugute tat. Wie ein Gespenst vor der Morgenröte musste dies Jammerbild vor ihrer Kraft und Schönheit erlöschen! Verse aus einem Gedicht fielen ihr ein, das Graf Philipp von Manderscheid einst für sie gemacht hatte, ihr Geliebter, den ihre Heirat in Raserei und selbstmörderischen Tod getrieben hatte, und die lauteten: ›Königin Sonne, du leuchtest so! Ich und der Sommer, wir brennen lichterloh!‹
Ein tiefer Unmut stieg in ihr auf: während die Welt überall voll Lust und Prangen war, musste sie in diesem Schlosse eingesperrt sein, dessen Luft Gott weiß woher von verderblichen Übeln voll zu sein schien. Kaum war sie der düsteren Gesellschaft ihres Mannes ledig, so kam der alte Herzog und klagte sich unter Weinen und Seufzen an, er habe den einzigen Sohn, der ihm übriggeblieben sei, zur Verzweiflung getrieben, indem er ihn nicht zur Regierung habe zulassen wollen; das habe ihn mit argwöhnischen und widerwärtigen Gedanken erfüllt; er sei ein harter, ungerechter Vater gewesen, zur Strafe werde nun sein Haus aussterben und Unglück über sein Land kommen. Jakobe dachte bei sich, dass dem Alten recht geschehe; aber lange mochte sie ihn doch nicht weinen sehen und beschwichtigte ihn mit mitleidigen Worten und ausgelassenen Neckereien, sodass er sie zuletzt aus seinem Jammer kläglich anlachen musste. Er und Sibylle schrieben lange Briefe an Jan Wilhelm, er solle sich nur lustig machen, daheim gehe alles gut und nach Wunsch; denn Doktor Solenander hatte ihnen gesagt, es sei wichtig, dass der Kranke heitere Eindrücke erhalte.
Drei Tage später jedoch wurde der Reisende von Schenkern zurückgebracht, der erklärte, nach einer anfänglichen Besserung habe des Kranken Melancholie so zugenommen und ein so heilloses Ansehen gewonnen, dass er schleunig habe umkehren müssen; der Wunsch, zu Hause zu sein, sei der einzige Trieb gewesen, der noch einiges Leben in dieser armen Seele verraten habe. Eine gewisse Beruhigung schien der Kranke zu spüren, als er sich wieder in Jakobes Händen fühlte; allein wenn er auch allmählich zu einer Lebenstätigkeit zurückkehrte, so war diese doch unregelmäßig und ungeordnet und erweckte Grauen. Des Nachts besonders ruhte er nicht, sondern ging hin und wider in den langen Gängen des Schlosses und verlief sich wohl gar, und wenn der alte Herzog oder sonst jemand von der Familie ihm entgegentrat mit Beschwörungen, er solle sein Lager aufsuchen, so stierte er sie sinnlos an oder schrie und fuchtelte mit den Armen, bis sie zurückwichen und sich verbargen.
Einmal erwachte Sibylle in der Nacht durch ein absonderliches Krachen der Stiege unter dem Dache, und da sie, vorsichtig schleichend, dem Geräusch nachging, kamen ihr ihres Bruders Bedienstete verstört entgegen und meldeten, dass er in Begleitung eines einzigen Edelknaben auf die Zinne des Schlosses gestiegen sei, um nach dem Feinde auszulugen, und dass er gedroht habe, es dürfe ihnen niemand folgen. Sibylle weckte zitternd den Alten, kleidete ihn notdürftig an und zog ihn, der kaum verstand, was vorging, mit sich fort aus dem Tor hinaus auf den Schlossplatz. Es war November, und der Sturm heulte feucht von Westen her über den Rhein. Nach oben blickend, gewahrte Sibylle auf dem Dache eine schattenhafte Bewegung und unterschied zwei Gestalten, von denen die kleinere eine Fackel trug, deren Flamme die sausende Luft flackernd auseinanderbog; die andere, hoch und schmal, warf lange Arme in die Luft, bückte sich, kniete nieder und beugte sich weit zwischen den Zinnen vor in die Tiefe. Mit entsetztem Finger deutete Sibylle auf das herabhängende Haupt, dessen langes Haar der Wind hin und her blies; plötzlich erlosch die Fackel, die von dem Knaben gehalten wurde, worüber der in seinem Pelz schaudernde Alte erschrak und, beide Arme nach oben ausbreitend, den Namen seines Sohnes hinaufjammerte. Angstvoll drückte Sibylle ihre Hand auf seinen Mund, weil sie glaubte, es sei gefährlich, einen Nachtwandler anzurufen; ohnehin hatte der Wind die schwachen Greisenlaute verweht, und es schien nicht, als ob der irre Träumer sich der Gegenwart seiner Angehörigen bewusst geworden sei.
Jakobe war erwacht, als ihr Mann das Lager verließ; da sie aber daran gewöhnt war, hatte sie sich nicht darum bekümmert und war wieder eingeschlafen. Als Sibylle mit grämlich scharfen Worten darauf hindeutete, sagte Doktor Solenander, der Schlaf sei der armen Frau wohl zu gönnen, die tagüber Plage und Sorge vollauf habe. Vielleicht sei es ratsam, um verderbliche Zufälle zu verhüten, dass Jakobe künftig das Schlafgemach zuschließe und ihren Mann nicht hinausgehen lasse, vorausgesetzt, dass sie sich getraue, ihn zu bemeistern. Übrigens sei da nichts zu machen, als dass der Körper des Kranken verständig durch gute Luft und milde, bekömmliche Nahrung gepflegt werde, damit von dort aus das trübe Wesen nicht noch genährt werde; er habe auch erfahren, dass die absterbenden Monate November und Dezember Schwermütigen gefährlich wären, und vertröstete auf das neue Jahr, dessen wachsendes Licht Besserung bringen könne.
Diese Hoffnung versiegte in den Frühlingsmonaten, da sich in dem Zustande des Kranken nichts Wesentliches änderte, wie er auch wechselte. Jakobe vermochte ihn wohl nachts im Schlafzimmer festzuhalten, indem sie seinen Wutausbrüchen tapfer standhielt; nun aber weigerte er sich zu essen, weil die Speisen, die man ihm vorsetzte, vergiftet seien, und bezichtigte die kalvinischen Ärzte, dass sie ihm nach dem Leben stellten. Wenn der Alte, Sibylle oder Jakobe vor seinen Augen aus seiner Schüssel aßen, nahm er wohl auch ein wenig davon, aber mit Seufzen und Ekel, und wendete sich bald stillschweigend weg nach der Wand; denn er blieb meistens im Bett liegen und stand erst am späten Abend auf, um stundenlang im Gemach auf und ab zu gehen.
Die Kunde von der seltsamen Erkrankung des Erben von Jülich-Cleve war nicht geheimzuhalten und regte viele Höfe auf, indem die Fürsten das Anrecht und die Anwartschaft überlegten, die sie etwa an der beträchtlichen Erbschaft könnten geltend machen. Die schwächliche Leibesbeschaffenheit Jan Wilhelms hatte schon in seinen Knabenjahren allerlei besondere Gedanken in der Verwandtschaft aufkommen lassen; als jedoch der junge Herzog mannbar wurde und heiratete, hatte man es dabei bewenden und auf sich beruhen lassen. Wie nun die Nachkommenschaft ausblieb und ein Gebrechen um sich griff, das aller ärztlichen Kunst spottete, setzte man sich allerorten in Bereitschaft, um bei der ersten Gelegenheit zuzugreifen, ehe ein anderer zuvorkäme. Vollends als im Jahre 1592 der alte Herzog starb, dessen erloschener Geist dem Zusammenbruch noch gewehrt hatte, wie eine von Dünsten verhüllte Mondscheibe die Bilder der Erde trübe zusammenhält, die nach ihrem Untergange in Nacht versinken, nahm die Verwirrung und Entzweiung im Schlosse auf das ärgste zu und ebenso die Begier der beteiligten Anverwandten, sich einzumischen.
Sibylle und Jan Wilhelm hatten drei ältere Schwestern, die in der Zeit aufgewachsen waren, als der nun verstorbene Herzog, Wilhelm der Reiche, noch rüstig und seines Geistes mächtig gewesen war. Im evangelischen Glauben erzogen, waren sie froh, den Verfolgungen, die sie durch den wachsenden Einfluss der katholischen Räte erdulden mussten, zu entrinnen, indem sie sich mit protestantischen Fürsten vermählten, die älteste, Marie Eleonore, mit dem brandenburgischen Herzog von Preußen, die beiden anderen mit zwei Wittelsbacher Vettern, dem Pfalzgrafen Philipp Ludwig von Neuburg, der eine unerschütterliche Säule des lutherischen Bekenntnisses war, und dem Pfalzgrafen Johann von Zweibrücken, einem unerschrockenen Vorkämpfer des Kalvinismus. Als Marie Eleonore, von ihrem Vater selbst geleitet, in Preußen anlangte, ergab es sich, dass der Bräutigam blödsinnig und also keineswegs der stattliche Freier war, als welchen man ihn am Jülicher Hofe empfohlen hatte; allein die Braut, von deren Entscheidung abhängig gemacht wurde, was nun geschehen sollte, dachte an ihre trübselige Gefangenschaft im Schlosse zu Düsseldorf, wo ihr Vater, um sie zur Messe zu zwingen, sie an den Haaren geschleift hatte, und urteilte, dass sie es als Herzogin von Preußen eher besser als schlimmer haben und wenigstens in Sicherheit ihrem Glauben obliegen können werde. Demgemäß erklärte sie sich bereit, des Schwachsinnigen Frau zu werden und ihn treu und geduldig zu pflegen. Jetzt ließ sie es sich angelegen sein, ihr väterliches Land den Brandenburgern zuzuwenden, damit es nicht in die Gewalt der Katholiken käme.