Читать книгу: «China – ein Lehrstück»

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Renate Dillmann ist freiberufliche Journalistin. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Promotion (Staatstheorie) an der Fernuniversität Hagen. Seit vielen Jahren außerdem Lehrbeauftragte an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, mehrere Forschungsaufenthalte in China.

Vorwort zur neuen Auflage

Seit der ersten Auflage dieses Buchs sind mehr als zehn Jahre vergangen. In dieser Zeit hat sich China weiter entwickelt: mit seinen Wachstumsbilanzen und mit der Erschließung weiterer Ressourcen, als Teilnehmer am Weltmarkt, als Konkurrent um Einfluss in der Welt. Das sind die Gesichtspunkte, die in der globalen Staatenkonkurrenz zählen. Kein Wunder also, dass viel über China berichtet und ebenso viel gestritten wird.

Schön, dass nun eine ergänzte 4. Auflage zustande kommt. Denn dieses Buch hat sich immerhin zum Ziel gesetzt, das heutige China, das sich nach Maos Tod ökonomisch zum Kapitalismus gewendet hat und damit ungemein erfolgreich ist, ökonomisch und politisch in seinen wesentlichen Zügen zu erklären. Trotz aller Veränderungen, die zu konstatieren sind, braucht die prinzipielle Analyse des Landes, wie sie 2009 vorgelegt wurde, nicht korrigiert zu werden.

Sie enthält unter anderem Antworten auf Fragen, die in aktuellen Diskussionen immer wieder aufkommen:

 Was sind die Gründe für den Aufstieg dieses Landes, der in dieser Form von den westlichen Welt- und Großmächten weder erwartet noch gewollt wurde?

 Wo liegen Unterschiede zur Sowjetunion und deren Niedergang unter und nach Gorbatschow?

 Warum ist der chinesische Sozialismus gescheitert? Oder ist das gegenwärtige China ganz im Gegenteil der erste erfolgreiche Sozialismus der Menschheitsgeschichte?

 Wieso ist China gelungen, was viele Entwicklungsländer angestrebt haben? Wieso ist ausgerechnet China die Entwicklung vom ehemals (halb)kolonialen Land zur industrialisierten und technologischen Großmacht gelungen?

 Ist das moderne China ein besonders „böser“ Fall von kapitalistischer Ausbeutung samt repressivem Staat? Oder steht China für eine neue, friedliche Variante einer kapitalistischen Großmacht?

Einleitend sollen einige nötige Ergänzungen und Fortschritte festgehalten werden: zur Ökonomie Chinas (Entwicklung der Produktivkräfte, Binnenmarkt, Löhne und Sozialversicherungen, Sozialkreditsystem, Exkurs zur chinesischen Corona-Politik) wie zu seiner Außenpolitik (Neue Seidenstraße, Aufrüstung, Streit um die Inseln im südostasiatischen Meer).

Es folgen ein paar Überlegungen zur Darstellung Chinas in den deutschen Medien, die in den letzten Jahren immer mehr den Charakter eines Feindbildes angenommen hat.

Im Übrigen wurden die Teile Teile „1: Der Sozialismus in der Volksrepublik China“ und „2: Der Kapitalismus in der Volksrepublik China“ unverändert übernommen.

China – Stand 2020

China verfügt heute – mehr als 40 Jahre nach Beginn seiner Öffnungspolitik, die noch von Mao Zedong eingeleitet und von Deng Xiao Ping mit einer neuen Zielsetzung versehen wurde – über enormen materiellen Reichtum, über Produktionskapazitäten in allen wesentlichen Zweigen, über weit entwickelte Produktivkräfte und über den größten Devisenschatz aller Zeiten.

Einige seiner Provinzen sind bereits mit weltweit modernster Infrastruktur ausgestattet. 80 % der chinesischen Städte über 200.000 Einwohner sind mit Hochgeschwindigkeitszügen verbunden. Das Land ist inzwischen in der Lage, Großprojekte autonom und schnell durchzuführen. Exemplarisch steht dafür der neue, letztlich für 72 Millionen Passagiere ausgelegte Groß-Flughafen in Beijing Daxing, dessen Planung 2013 begann und der 2019 bereits eröffnet wurde. China treibt seine Energieversorgung mit regenerativen Energien (inzwischen 26,5 % der Stromerzeugung) und 47 Atomkraftwerken (3,5 % der Stromerzeugung) schnell voran. Es ist die größte Schiffsbau-Nation der Welt, verfügt über moderne Chemie-Standorte, eine Raumfahrttechnik, die gerade eine unbemannte Mondlandung zustande gebracht hat.

Über Jahre hinweg hieß es, dass die Volksrepublik das „beeindruckende Tempo“ ihrer Entwicklung nur mit Hilfe von Industriespionage und der Erpressung von Technologie-Transfer vorantreiben könne. Heute konstatieren zumindest die differenzierteren Stimmen, dass chinesische Wissenschaftler wie Unternehmen bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Patentanmeldungen ganz vorne mitmischen: 2017 kamen der National Science Foundation zufolge aus China mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen als aus jedem anderen Land der Welt; der chinesische Konzern Huawei belegte bereits dreimal den Spitzenplatz der globalen Rangliste der Weltorganisation für geistiges Eigentum, und beim Europäischen Patentamt liegt er ebenfalls vorn.1

A. Ökonomie – Produktivkräfte für den Sozialismus?

Chinas Kommunistische Partei stellt ihre Wirtschaftspolitik2 angesichts unübersehbarer sozialer Härten und ökologischer Zerstörung gerne als lästigen, aber nötigen „Umweg“ auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Statt weiter den Irrwegen des maoistischen „Armutskommunismus“ zu folgen, sollen mit „kapitalistischen Methoden“ die Produktivkräfte entwickelt und ausreichend materielle Mittel erzeugt werden3, um dann erstmals eine wirklich sozialistische Gesellschaft starten zu können.

Nehmen wir für einen Moment an, diese staatliche Selbstdarstellung sei wahr. Dann sähe die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ungefähr so aus: Die ungemein harten Arbeitsbedingungen in den Fabriken und an den Baustellen, die Lebensmittelskandale chinesischer Unternehmen, die offenbar beschleunigt „reich“ werden wollten und dafür die Vergiftung ihrer kleinen und großen Mitbürger in Kauf genommen haben, die gewaltsamen Enteignungen chinesischer Bauern durch lokale Behörden, die Gewerbegebiete ausweisen wollten, die Zerstörung von Luft, Land und Flüssen als Mittel einer profitablen Produktion – all das wäre die etwas „dornige“ Art und Weise, mit der letztlich „Gutes“ erreicht werden soll. Dieses Ziel wäre nun erreicht! Chinesische Arbeiter_innen hätten sich lange genug abgeschuftet im Dienst an der Produktion billiger T-Shirts und teurer I-Phones. Sie hätten ihrem Land damit die erwünschten Mittel und Produktivkräfte verschafft und könnten ab jetzt die Früchte dieser Jahre genießen …

Weltweit führende Produktionsmacht!

Ihre eigene Darstellung dementiert allerdings vor allem die chinesische Führung selbst. Gegen das eventuelle Missverständnis, dass sie den Weg zur ersehnten „sozialistischen Gesellschaft“ in etwa so gemeint habe – einige Jahrzehnte harter Arbeit und danach endlich sichere, auskömmliche und behagliche Lebensverhältnisse für alle –, setzt sie regelrecht programmatisch ihre nächste mittel- und langfristige Zielbestimmung: „Der chinesische Staatsrat kündigte im Mai 2015 ,Made in China 2025‘ als nationale Initiative zur Verbesserung der verarbeitenden Industrie an – zunächst bis 2025 und dann bis 2035 und 2049. Das letztendliche Ziel ist die Umwandlung Chinas in eine weltweit führende Produktionsmacht.“4

Weltweit führende Produktionsmacht zu werden – das ist das Ziel, das Chinas Kommunisten sich selbst setzen. Das nimmt an etwas anderem Maß als an einer guten Versorgung und einem angenehmen Leben der eigenen Bevölkerung. Weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Lebenssicherheit und mehr Genuss werden nicht angekündigt. Dauernde Sorgen um den Arbeitsplatz und das nötige Geld, um die Gesundheit angesichts der Belastungen an Arbeitsplätzen und im sonstigen Leben mit Lärm, Luftverschmutzung und schädlichen Lebensmitteln gehören auch im heutigen China einfach dazu – ein qualitativer Unterschied zum Leben in den westlichen kapitalistischen Staaten ist nicht zu erkennen. Die regierungsoffizielle Zielvorgabe in dieser Frage sieht vor, dass das Volk sich an Arbeitsplätzen aller Art, deren Zweck sich daran bemisst, dass an ihnen Geld produziert wird, ein Leben lang um „bescheidenen Wohlstand“ mühen darf (Original-Ton der KP).

Angesichts dessen, wie es im Rest der Welt aussieht, hat das in der Tat schon fast den Charakter einer Verheißung. Aber eben auch nur angesichts dessen.

Die staatliche Zielbestimmung zielt im Kern jedenfalls auf anderes: In ihr geht es programmatisch um die internationale Konkurrenz kapitalistischer Staaten. Darin will die Volksrepublik China eine führende Rolle einnehmen – auf allen Feldern, die dazugehören, von der Technologieführerschaft bis hin zur Konkurrenz der Militärmächte und der dafür nötigen Aufrüstung.

„Made in China 2025“ zeigt den Stand des bisher Erreichten und Zielsetzung für die nächsten Jahre an. Dieses Programm baut darauf auf, dass die Volksrepublik in den letzten Jahrzehnten bereits sehr weit damit vorangekommen ist, sich selbst international konkurrenzfähige Unternehmen zu verschaffen, sprich: die Abhängigkeit von ausländischem Kapital zu verringern5. Es zeigt zudem, dass der chinesische Staat eine aktive und zielgerichtete nationale Industriepolitik betreibt, auch wenn inzwischen 50 % seiner Unternehmen keine Staatsunternehmen mehr sind.

Einige Beispiele – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

 Die staatliche Förderung von 15 Megaprojekten im Bereich von KI (Künstlicher Intelligenz) im 13. Fünfjahresplan, der Einbezug von Unternehmensvertretern aus diesem Bereich in die zahlenmäßig kleine, aber einflussreiche Politische Konsultativkonferenz des Volkskongresses, der staatlich initiierte Aufbau von 8.000 Gründerzentren6.

 Der Aufbau des größten E-Auto-Markts der Welt durch Interventionen der chinesischen Regierung: jährlich steigende Quote für reine Elektro- und Hybridautos (2019); Ende der Zulassung reiner Verbrennungsmotoren für 2035 angekündigt7; Umrüstung auf E-Bus-Flotten, wie bspw. in Shenzen, wo 16.000 E-Busse fahren. Chinesische Autohersteller wie Baic und Geely erobern durch den Umstieg auf E-Mobilität inzwischen rasch wachsende Marktanteile in China, viele westliche Autohersteller (Buick, Chevrolet, Ford, Citroen, Peugeot, Fiat) verlieren dagegen oder sind bereits ausgestiegen. Umgekehrt wollen Chinas Autokonzerne mit ihren E-Modellen nun auf den europäischen Markt; Batterien für E-Autos muss die deutsche Autoindustrie aus Südkorea oder China beziehen.

 Der Aufbau einer konkurrenzfähigen Flugzeugproduktion in China: Comac (Commercial Aircraft Corporation of China) arbeitet seit einigen Jahren daran, die bisher mit Boeing- und Airbus-Modellen ausgerüsteten chinesischen Fluglinien mit „heimischen“ Flugzeugen versorgen zu können. Obwohl noch nicht fertig, liegen bereits 815 Bestellungen von chinesischen Airlines vor.

Diese und ähnliche Interventionen der chinesischen Staatsführung in ihre Wirtschaft werden der Volksrepublik von westlichen Politikern gerne als unlautere Eingriffe in den Wettbewerb zum Vorwurf gemacht; sie vergessen dabei gerne, welche Rolle auch in ihren Ländern staatliche (Kredit-)Hilfen bzw. Staatsunternehmen beim Aufbau konkurrenzfähiger Global Player gespielt haben und auch heute noch spielen (Volkswagen, Airbus, die Energiewirtschaft mit Atomkraftwerken wie alternativen Energien, Landwirtschaft, E-Mobilität, „Industrie 4.0“ – um nur einige deutsche Projekte zu nennen, die mit staatlicher Beteiligung, Staatssubventionen oder -krediten gegründet, reguliert oder gefördert werden)8. Umgekehrt gelten Chinas Staatseingriffe aus linker Perspektive als Anhaltspunkte dafür, dass China doch noch immer eine Art „Planwirtschaft“ sei – was einfach weglässt, welchem Ziel diese Eingriffe dienen. Es geht um den Aufbau von Unternehmen, die in der Weltmarktkonkurrenz erfolgreich abschneiden sollen – das ist das Unterfangen, bei dem die Volksrepublik erfolgreich sein will und das ihre Führung daher umsichtig und „planmäßig“ angeht.

Dass solche staatlichen Interventionen in den kapitalistisch erfolgreichen westlichen Staaten zumindest in der Zeit vor „Corona“ nicht die gleiche Rolle wie in China spielen, sondern in den letzten Jahren eher eine Tendenz zur Privatisierung von Staatsunternehmen vorherrscht, liegt vor allem am zeitlichen Vorsprung, den diese Länder beim Aufbau ihres nationalen Kapitalismus haben. Es wird eine interessante Frage sein, ob die dazu passende ideologische Vorstellung vom Vorteil einer al umfassenden Liberalisierung (Stichwort: Neoliberalismus) angesichts der nach vorne stürmenden chinesischen Konkurrenz ihre besten Zeiten hinter sich hat …

„Auf die eigenen Kräfte bauen“ 2.0

Gerade weil chinesische Unternehmen auf dem Weltmarkt erfolgreich agieren sollen, will Chinas Führung das Land ein Stück weit weniger erpressbar machen und baut seinen Binnenmarkt weiter aus. Die Unternehmen sollen nicht alternativlos angewiesen sein auf internationale Zulieferer und Absatzmärkte, gerade angesichts dessen, dass USA und EU dem Land mit Importzöllen, exklusiven Handelsabkommen und zuletzt unberechenbaren Sanktionen immer mehr Hemmnisse in den Weg legen. Dieses Programm beinhaltet die gerade vorgestellten industriepolitischen Offensiven ebenso wie die staatliche Förderung alternativer Energieerzeugung, mit der die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten vermindert werden soll.

Chinesische Atomkraftwerke

Die Verfügung über zuverlässige Energiequellen zu sichern, gehört zu den elementaren Aufgaben jedes Staats, der seine Wirtschaft kapitalistisch erfolgreich machen und dafür die Abhängigkeit von Lieferstaaten minimieren will , die möglicherweise von seinen Konkurrenten/Gegnern unter Druck gesetzt werden. Darüber hinaus zielt kapitalistische Energiepolitik darauf ab, den Unternehmen möglichst billig möglichst viel Energie als Bedingung für eine möglichst umfangreiche Automatisierung und Digitalisierung ihrer Konkurrenzanstrengungen zur Verfügung zu stellen. Atomkraftwerken sind – insbesondere mit Blick auf Entsorgung und Endlager – nicht unbedingt kostengünstig, aber sie stehen ganz und gar unter der eigenen Regie. Die Gefährlichkeit dieser Art der Stromerzeugung fällt in den staatlichen Kalkulationen deshalb mit schöner Regelmäßigkeit unter den Tisch. Auch China hat sich – sogar nach dem Reaktorunfall Fukushima in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und einigen Erdbebenkatastrophen im eigenen Land! – für den weiteren Ausbau seiner AKWs entschieden: 47 Atommeiler sind bereits in Betrieb, weitere sollen gebaut werden. Gibt es Protest dagegen? Durchaus. „Wenn die Anwohner definitiv gegen ein Projekt sind, dann kippen wir es“, lässt sich ein Beamter der obersten Energiebehörde NEA zitieren.(https://www.ausgestrahlt.de/informieren/atomkraft-in-anderen-laendern/atomkraft-china/). Zwei wichtige Bauvorhaben (eine Wiederaufbereitungsanlage in der Nähe von Shanghai und eine Brennelementefabrik in der Provinz Guangdong) wurden nach örtlichen Protesten zurückgezogen.

Regenerative Energien

„Allerdings lässt die Entwicklungs- und Reformkommission auch Sonne, Wind und Wasser in Rekordgeschwindigkeit ausbauen. Im Jahr 2015 hat sie 110 Milliarden Euro in erneuerbare Energien gesteckt, bis 2020 sind Ausgaben in Höhe von 350 Milliarden Euro geplant. Insgesamt sollen dann Windkraft- und Solaranlagen mit einer Kapazität von 320 bis 400 Gigawatt am Netz sein plus mindestens 340 Gigawatt Wasserkraft. Spitzenreiter soll die Kohle bleiben, mit 1.100 Gigawatt. Atomkraft hingegen kommt dem Plan zufolge trotz aller Neubauprojekte nur auf 58 Gigawatt.“1 Der Ausbau der chinesischen Energie-Infrastruktur bietet auch ausländischen Investoren Möglichkeiten – es ist durchaus nicht so, dass China gänzlich auf nützliche Kapitalimporte verzichten will: „Mittlerweile ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Führend dagegen zeigt sich China in puncto erneuerbare Energien. Kein Land der Erde investiert mehr Geld in den Ausbau sauberer Energien. (…) Der chinesische Markt für die Energieinfrastruktur entwickelt sich sehr dynamisch. Digitalisierung und Automatisierung sowie die ambitionierte politische Flankierung eröffnen Chancen für den Einsatz neuer Technologien und forcieren Investitionen in den Ausbau und die Modernisierung des bestehenden Systems. Chancen bestehen zum Beispiel in der digitalen Nachrüstung und Vernetzung bestehender Anlagen. Technologien der Datenerfassungs- und Diagnosesysteme können dabei helfen, die Betriebseffizienz chinesischer Anlagen zu erhöhen. Zugangsmöglichkeiten ergeben sich vor allem in Kooperationen mit chinesischen Anbietern. Dies gilt sowohl für den lokalen Markt als auch die Zusammenarbeit auf Drittmärkten. Kooperationen, zum Beispiel in Form von Joint Ventures, Lizenzvereinbarungen oder Vertriebspartnerschaften bieten sich insbesondere deshalb als geeignetes Markteintrittsvehikel an, da der Energiemarkt sehr stark von Staatsunternehmen geprägt ist. Gerade hier kann die Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern, welche in der Regel einen besseren und vereinfachten Zugang zu Staatsunternehmen vorweisen, von Vorteil sein. Deutsche Unternehmen haben in Chinas staatlich dominierten Energiesektor vor allem als Lieferanten von Anlagen und Komponenten eine Chance.“2

Zur Stärkung des Binnenmarkts gehört aus Sicht der Regierung in Beijing auch ihr riesiges, teilweise kapitalistisch noch nicht erschlossenes Land, das sie als „stille Reserve“ weiterer Expansion und Akkumulation ausgemacht hat. Mit kostspieligen und technisch aufwendigen (China besteht zu 33 % aus Gebirgen, zu 21 % aus Wüsten) Infrastruktur-Maßnahmen werden bisher schwer zugängliche Regionen mit Straßen und Eisenbahnen erschlossen9. Im Unterschied zu den meisten kapitalistischen Nationen, in denen ganze Landesteile mit ihren Dörfern und kleineren Städten veröden und irgendwann auch mehr oder weniger „abgeschrieben“ werden, hat die chinesische Zentralregierung (noch) das Ziel, das gesamte Territorium, das ihrer Verfügungsgewalt untersteht, kapitalistisch „in Wert“ zu setzen.

Mit massiven staatlichen Subventionen nach dem Modell der einstigen Sonderwirtschaftszonen werden deshalb Kapitalanlagen in allen Landesteilen gefördert.

Zu diesen Maßnahmen gehört auch ein neuer Umgang mit den Bauern. Von ihnen gibt es noch etwa 200 Millionen, die allerdings immer schlechter von ihrem Land leben können. Die kleinen Bauern sind der Konkurrenz der inzwischen auch in China existierenden Agrarkapitale nicht gewachsen; die Regierung selbst unterstützt den Prozess, durch größere Betriebsflächen den Einsatz von Landmaschinen zu ermöglichen und so die Produktivität ihrer Landwirtschaft zu steigern. Die bisherige intensive kleinbäuerliche Landwirtschaft gilt zudem als ökologisch nicht sinnvoll, da sie gemäß den Bedingungen kapitalistischer Preiskonkurrenz extrem viel Kunstdünger und Pestizide einsetzt. Den damit absehbar überflüssigen Kleinbauern, insbesondere der jungen Generation, werden Ausbildungsangebote gemacht. Mit einer massiven staatlichen Förderung sozialen Wohnungsbaus werden Umsiedlungen vom Land in die Städte vorangetrieben.

Staatliche Armutsbekämpfung – das deutsche Fernsehen berichtet

„Fließend Wasser gibt es bei Li Mingxing nicht. Er und seine Familie haben nur das Nötigste zum Leben. Kartoffeln und Mais baut der 23-jährige Li auf den kleinen Feldern in den Hügeln an. Die Mingxings im Westen Chinas gehören zu den über 16 Mio. Chinesen in absoluter Armut. Doch Li Mingxing soll es einmal besser gehen als seinen Eltern. Darum macht er nun eine Ausbildung zum Nudelsuppen-Koch. Heute kümmert er sich um die Brühe für die Suppe. Später soll er lernen, die landestypischen Bandnudeln herzustellen. „Der Dorfvorsteher hat mir von dem Ausbildungsprogramm erzählt. Ich wollte mitmachen, weil meine Familie arm ist und ich hier in der Ausbildung was lerne und verdiene. Ich gebe jetzt meinen Eltern etwas Geld.“

Das Nudelsuppen-Programm ist Teil eines großen Planes. 15.000 junge Menschen will die Provinz-Regierung allein in diesem Jahr ausgebildet und somit aus der Armut geholt haben. Armutsbekämpfung hat derzeit in China ganz hohe Priorität. Die Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens berichten regelmäßig von Xi Jinpings Überprüfungsbesuchen. Bis 2020 will der Partei- und Staatsführer alle von der Armut befreit haben. Nicht ganz uneigennützig: Bisher hat stetig wachsender Wohlstand der Bevölkerung der Führung ihre Macht gesichert. Gibt es genügend Essen und Kleidung, fragt er bei jedem dieser Besuche. Ja, antworten die lokalen Beamten. Ihre Bezahlung ist an den Erfolg der Programme geknüpft – so wurde es in der Zentralregierung beschlossen.

775.000 Offizielle wurden demnach zur Armutsbekämpfung in abgelegene Regionen geschickt. Auch zu Li Mingxing, dem angehenden Nudelsuppen-Koch. Wachsen die Kartoffeln bei Ihnen?, fragt der Parteisektretär. Li Mingxing tischt die eigene Ernte auf. Nicht nur wenn das deutsche Fernsehen da ist, auch sonst sind Tür-zu-Tür-Besuche Teil des Programms. Niemand soll bei der Armutsbekämpfung übersehen werden.

Den Kampf gegen Armut führt die Kommunistische Partei auch mit Beton.Überall im Land lässt sie solche Wohnblöcke bauen. Siedelt rund 11 Millionen Menschen um, aus Dörfern in Städte. Hier in Shi Cheng ist Herr Liu zuständig. Mehr als 600 Familien hat er aus dem Hinterland umgesiedelt. „Unser Ziel ist es,sie aus der Armut zu holen“, erklärt Liu Bi Ying vom Amt für Armutsbekämpfung.„Es einfacher für sie zu machen, zum Arzt zu gehen, zur Arbeit oder zur Schule. Zu verhindern, dass sich Armut von Generation zu Generation vererbt. Und dafür zu sorgen, dass sie Wohlstand erlangen.“

Lei Wei Xiu hat daher nun Einbauküche, zwei Zimmer und Balkon. Und dank massiver Subventionen von der Zentralregierung in Peking und der Provinz alles für einen Kaufpreis von umgerechnet nur 1.300 Euro. Das Geld haben ihr Verwandte geliehen. „Vorher in den Bergen habe ich Gemüse angebaut und Feuerholz geschlagen, Geld brauchte ich gar nicht. In der Stadt zu leben heißt aber Ausgaben für Gas und anderes. Da steigen die Lebenshaltungskosten.“ Geld verdient Lei Wei Xiu jetzt in dieser Textilfabrik – von der Partei vermittelt. Wie glücklich sie über die Umsiedlung ist? Offen sprechen kann sie nicht. Interviews gibt es nur unter Aufsicht. „Manchmal vermisse ich die Vergangenheit, ich hänge da noch dran. Aber jetzt ist mein Leben hier besser. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen. Mich umzustellen dauert etwas.“1

Es handelt sich offensichtlich um ein Programm, das gemessen an allen hiesigen Maßstäben (Armutsbekämpfung, aktive Arbeitsmarktpolitik, Integration, sozialer Wohnungsbau, Teilhabe an sozialen Leistungen sichern …) eine ganze Menge leistet. Das wird auch durchaus informativ dargestellt – darin ist dieser Bericht eine Seltenheit! Andererseits darf China natürlich nicht zu viel zugutegehalten werden. Im Unterschied zur deutschen Sozialpolitik passiert all das nämlich nicht selbstlos: „Bisher hat stetig wachsender Wohlstand der Bevölkerung der Führung ihre Macht gesichert.“ (Eine wirklich üble Art der Machtsicherung!). Zudem trauern die chinesischen Menschen, die natürlich nicht „offen sprechen können“, alten, angestammten Verhältnissen nach, selbst wenn die armseliger waren. Was hierzulande ein klarer Fall von „alternativlos“ wäre, spricht in China letztlich doch eindeutig gegen die Regierung und ihren Reformwillen.

Ideologisch rechnet sich Chinas KP den inzwischen fast vollständigen Einbezug des Volks in die kapitalistische Lohnarbeit als „erfolgreiche Armutsbekämpfung“ an. Während 1978 noch rund 700 Millionen chinesische Menschen arm waren – zugrunde gelegt ist die Armutsdefinition der Weltbank, nach der „absolute Armut“ dann vorliegt, wenn ein Mensch über weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag verfügt –, waren es 2012 noch 98,5 Millionen. Bis 2021, dem 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei, soll diese Zahl auf null gedrückt werden; so strebt es jedenfalls das seit 2013 laufende Regierungsprogramm an, für das (s. o.) viel getan wird.

Es ist gut vorstellbar, dass eine solche Staatsaktion alles Mögliche an Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der zu befreienden „Armen“, bürokratischer Idiotie und dazu ein gehöriges Maß an Erpressung aufbringt – gerade wenn sie auch noch mit dem Gedanken, dass zu einem nationalen Feiertag zumindest symbolisch alles bewältigt sein soll, antritt.

Allerdings: Gemessen an den Maßstäben dieser kapitalistisch verfassten Welt ist der Umbau Chinas zu einer modernen Industrienation mit „bescheidenem Wohlstand“ und einer urbanen Gesellschaft ohne Massenelend, städtische Slums und relevante Bevölkerungsteile, die in „absoluter Armut“ verharren, selbstverständlich eine durchaus bemerkenswerte Leistung.

Kein anderes „Entwicklungsland“, kein „Hinterhof“ der westlichen Staaten hat staatliche Anstrengungen dieser Art aufzuweisen, und die Fortschritte bei den UN-Millenniumszielen zur Beseitigung absoluter Armut auf der Welt leben fast ausschließlich von den in China erzielten. Und erinnern wir uns einmal einen Augenblick an den deutschen Planeten. Hier heißt es seit den Hartz-Reformen „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ – was jede Menge Druck, Sanktionen mit existenziellen Bedrohungen und gesellschaftliche Ächtung gegen die mehr als sieben Millionen „Hartzis“ einschließt, die dauerhaft ohne Tafeln und Kleiderkammern nicht überleben können.

Es ist also schon eine gedankliche Glanzleistung, wenn westliche Politiker, die für diese Zustände verantwortlich zeichnen, oder ihre stets konstruktiv-besorgten Journalisten die chinesische „Armutsbekämpfung“ zum Gegenstand von Vorwürfen an die Adresse Beijings machen.

In einigen Provinzen, insbesondere Tibet und Xinjiang, hat dieses Programm neben dem allgemeinen Zweck einer kapitalistischen In-Wert-Setzung des gesamten Landes und seiner Bevölkerung zusätzlich den einer „Integrationsmaßnahme“ (so würde es jedenfalls hierzulande bezeichnet) für die ethnisch-religiösen Minderheiten, die zum Teil noch als Nomaden und Hirten leben. Auch sie sollen in die moderne kapitalistische Industrie und verstädterte Gesellschaft eingegliedert werden (und nicht in „Parallelgesellschaften“ abdriften, wie es hierzulande heißt).

Davon verspricht sich die Beijinger Zentralregierung auch einen Rückgang des religiös-fundierten Autonomie-Bedürfnisses, das es in diesen Provinzen latent immer gegeben hat und das von außen immer wieder berechnend angestachelt wurde: Unterstützung für den Dalai Lama und seine Politik eines „Groß-Tibet“ und die uigurische Exil-Regierung vor allem durch Indien und die Türkei, die USA und Deutschland.

Das Vorhaben der Regierung besteht also in der Unterwerfung aller Bürger unter Markt & Staat – mit allen Härten, die ein solches Programm an sich hat. Falsch wäre es allerdings, das als spezielles (han-chinesisches) Kampfprogramm gegen die dort lebenden Minderheiten, ihre Kultur und ihre hergebrachte Lebensweise zu interpretieren – so als sei es Ziel der chinesischen Regierung, die in ihrem Land lebenden Minderheiten aus ethnischen Gründen zurückzudrängen oder gar zu „vernichten“. Für eine solche Interpretation braucht es eine ziemliche Ignoranz gegenüber den Regelungen der chinesischen Minderheiten-Politik.10

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9783748520610
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