Читать книгу: «Krähenflüstern», страница 3
Mittwoch, 1.3.
Thiemo bahnte sich einen Weg durch die Stadt. Es war eine elendige Gurkerei von Jever zur Südstadt Wilhelmshavens. Bald konnte er von Neustadtgödens aus fahren. Wenn er die Strecke über Mariensiel wählte, ging es schnell, weil er die großen Straßen komplett vermeiden konnte.
Thiemo war jetzt ganz zu Linda gezogen, nachdem sich spontan jemand für seine Bude in Sande interessiert hatte und er sie mit all dem Abstand, den er gezahlt haben wollte, losgeworden war.
Die restlichen Möbel hatte er verschrottet. Sie würden eine neue Küche bekommen, auch das Wohnzimmer hatten sie schon bestellt. Die anderen Sachen wollten sie von Linda nehmen. Sie waren Laurin vertraut, darauf legte Linda Wert. Außerdem hatte sie so ihre Vorstellungen, wie ein Möbelstück beschaffen sein musste, um keine schlechte Aura auszustrahlen. Was verstand er denn schon von diesem Spinnerkram. Aber es war ihm egal, schön waren die Möbel von Linda ja. Wenigstens stand sie nicht auf Schnörkel und Troddeln.
Mit dem Kleinen lief es auch etwas besser. Hin und wieder schlief er jetzt sogar in seinem Bett. Thiemo hatte die vage Hoffnung, dass Laurin ihn langsam akzeptierte.
Das Pflegeheim lag, von der Sonne angestrahlt, im Morgenlicht. Thiemo war froh, sich für die Leitung dieses Heimes entschieden zu haben. Es war zwar eine große Verantwortung, allein schon wegen der Größe des Hauses und der Anzahl der Mitarbeiter. Doch es war einfach schön hier und er konnte seine Vorstellungen von optimaler Altenbetreuung durchsetzen, auch wenn er an der Pflege selbst nicht mehr beteiligt war.
Die Sache Lambacher schien wohl im Sande zu verlaufen. Gut, dass er das nicht an die große Glocke gehängt hatte, obwohl es durchaus zum Personal durchgesickert war. Aber nachdem der Kommissar noch einmal da gewesen war und ihm mitgeteilt hatte, dass die Anschuldigungen offensichtlich haltlos waren, kehrte in den Abteilungen wieder Ruhe ein.
Thiemo grinste. Linda, die gar nichts damit zu tun hatte, war besonders erleichtert gewesen. Sie hatte die Sache als ganz böses Omen gesehen. Linda dachte so. Thiemo fand, dass sie sich zu sehr mit Schicksal, Aura und solchen Dingen beschäftigte und hoffte, sie würde in der neuen Umgebung damit aufhören. Es war ihm etwas unheimlich. Er wusste, dass sie damals in ihrer Zeit in Köln damit begonnen hatte. Wahrscheinlich war sie in ihrer Gutgläubigkeit diesem Spinner aufgesessen, hatte sich nicht nur das Kind machen, sondern auch noch das Hirn vergiften lassen. Es würde hier in ihrer alten Heimat sicher bald besser werden. Er war da, also brauchte sie solche Sachen nicht mehr.
Thiemo schaute optimistisch in die Zukunft. Er hatte alles im Griff.
Der Tod des Drachen war weiß Gott kein böses Omen für ihre Zukunft. Hätte Linda die Lambacher gekannt, würde sie so etwas mit Sicherheit nicht denken.
Thiemo und die zuständigen Schwestern waren pflichtbewusst zur Beerdigung erschienen und hatten Hubert Lambacher ihr ehrliches Beileid ausgesprochen. Es war ein sonniger Wintertag gewesen, der eher gute Laune als Trauerstimmung ausdrückte. Während sich die Sonne funkelnd in den Raureifkristallen brach, wurde der Sarg in die Erde gelassen. Die Trauergemeinde war denkbar klein gewesen, die Lambachers hatten kaum Familie und scheinbar keine Freunde gehabt. Die paar Gesichter waren wahrscheinlich Kollegen von Hubert Lambacher, die sich verpflichtet gefühlt hatten, ihm beizustehen.
Der Mann war jetzt ganz allein. Thiemo fragte sich, was Lambacher nun mit seiner vielen Freizeit anfangen würde. »Wahrscheinlich denkt er sich jetzt so richtig fiese Mathearbeiten aus«, dachte er und parkte sein Mercedes-Cabrio elegant in der für ihn vorgesehenen Lücke.
*
Tanja Wildbruch hatte gerade eine Führung durch die Salzwiese gemacht. Ihre blonden Haare hatte sie unter ein buntes Tuch gezwängt, und sie scherzte mit einem Mann, der neben ihr die Straße herunterlief. Der Rest der Gruppe folgte in kurzem Abstand.
Vor Tanjas Wohnung, die in einem Haus gleich unterhalb des Deichfußes lag, blieben sie und der Mann stehen. Er gab ihr die Hand, hielt sie einen Augenblick länger fest, als es nötig war. Dann beugte er sich nach vorn, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Es musste ein guter Witz gewesen sein, beide lachten lauthals los.
Hubert Lambacher stand nicht zum ersten Mal mit seinem schwarzen Golf auf dem Parkplatz am Fußballplatz in Cäciliengroden und beobachtete die Altenpflegerin.
»Naturführungen«, dachte er. »Dabei hat sie wahrscheinlich den Mord an meiner Mutter geplant.«
Hubert Lambacher hatte nachgeforscht. Tanja Wildbruch hatte an dem besagten Nachmittag Dienst gehabt und war für seine Mutter zuständig gewesen. Und die hatte sich oft über diese impertinente Pflegerin beklagt. Tanja sei arrogant und unverschämt, ihr fehle jeglicher Funke von Anstand. Hubert solle doch mal mit ihr reden. Das hatte er dann versucht, aber als die schöne Frau vor ihm gestanden hatte, war Hubert sich nicht mehr sicher gewesen, ob die Anschuldigungen seiner Mutter vielleicht nicht doch ungerechtfertigt waren. So hatte er Tanja nur um eine zusätzliche Tasse gebeten, die sie ihm – sichtlich genervt, weil er sie von der Arbeit abhielt – in die Hand gedrückt hatte.
Tanja zupfte sich jetzt das rote Tuch vom Kopf und ihr Pferdeschwanz wackelte dabei hin und her. Diese Frau war zwar schön, aber sie konnte ihn jetzt nicht mehr einlullen. Hinter ihrem Gesicht schlummerte die teuflische Fratze des Todes.
Ihr Chef, Thiemo Hanken, glaubte ihr wahrscheinlich alles, wenn sie mit ihren blauen Augen rollte und lächelnd die kleinen, ebenmäßigen Zähne freigab. Hubert Lambacher dachte, dass sie wahrscheinlich mit ihm schlief. Doch wie immer sagte er sich, auch das sei nur eine Hypothese. Denn zusammen gesehen hatte er sie nie. Aber die Frau hatte diesen gewissen Blick, das erkannte er sofort. Hubert verachtete solche Frauen. Sie nahmen sich die Männer, vergnügten sich und warfen sie dann weg wie faules Obst, das nicht mehr schmeckte. Er wusste schon, warum er zu den Professionellen ging. Oder die Liebespaare belauschte, die es in der freien Natur oder auf den Parkplätzen trieben. Davon gab es schließlich genug und er konnte so tun, als sei er dabei. Nicht, dass ihn diese Frauen weniger abstießen, aber er musste kein Gefühl investieren und wenn er nicht so konnte, wie er wollte, lachte keiner darüber.
Die Teilnehmer der Führung begannen sich zu zerstreuen. Nur Tanja unterhielt sich noch immer mit dem Typen. Sie würde ihn bestimmt mitnehmen in ihre Wohnung und dort … Hubert Lambacher merkte, dass ihn dieser Gedanke nicht kalt ließ.
Aber dann winkte der Mann Tanja zu und ging zu seinem Wagen. Sie verschwand rasch in ihrem Haus. Hubert Lambacher wartete noch und stellte sich vor, was sie jetzt in ihrer Wohnung tat. Wahrscheinlich stand sie unter der Dusche. Die Wassertropfen perlten an ihr ab, verloren sich erst in der Spur zwischen ihren prallen kleinen Brüsten und glitten dann zielstrebig in die dunkle Tiefe zwischen ihren Beinen. Ihre geschlossenen Lider zuckten unter der Wohltat des heißen Wassers und der Mund war leicht geöffnet, während ihre Hände den Schaum des Duschbades mit dem Wasser vereinten.
Hubert wandte sich ab. In Tanja Wildbruch schlummerte ein Hass, der sich unter ihrer Vollkommenheit verbarg, nur heimlich aus den Poren herausleckte, sich aber dann schnell zu einem tödlichen Fluss auswachsen konnte. Sie war eine Mörderin, eine Hexe! Nur er würde ihr widerstehen, sich nicht einwickeln lassen. Niemals. Huberts Hände zitterten, die Kapillare gehorchten nicht mehr und verfärbten seine Fingerkuppen binnen kürzester Zeit in ein gelbliches Weiß. Er rieb die schmerzenden Spitzen, bis er wieder Gefühl bekam, startete dann den Motor und fuhr aus dem Dorf hinaus.
1968
In der Nacht wacht er auf, weil seine Hose nass ist. Er traut sich nicht, nach der dicknasigen, schwarzen Frau zu rufen. Sie ist ihm unheimlich in dem schwarzen Mantel, der sogar das Haar bedeckt. In seiner Kirche haben die Frauen anders ausgesehen. Die, die ihm die Kekse gegeben haben.
Ganz vorsichtig schlüpft er ins Bad, zieht sich die Hose aus und klettert mit einem Handtuch wieder ins Bett. Aus Furcht, die anderen zu wecken, traut er sich nicht, etwas Trockenes aus dem Schrank zu holen, weil die Tür so quietscht. Die nasse Hose versteckt er am Fußende unter dem Laken, spürt die ganze Nacht das verräterische Knäuel. Es ist nicht gemütlich mit dem kratzenden Handtuch um den Po. Der Junge wälzt sich unruhig im Bett hin und her.
Schließlich schläft er doch wieder ein. Als er morgens aufwacht, liegt die Decke auf dem Boden. Die anderen Jungen stehen um sein Bett herum.
Sie lachen und ziehen das Handtuch weg. »Bettnässer! Der Neue ist ein Bettnässer!«
Der Junge ist froh, dass sie seinen Namen nicht sagen. So kann er sich einbilden, dass gar nicht er gemeint sei.
»Bettnässer, Bettnässer …« Die Töne gleiten wie Wellen auf und nieder, erst hoch, dann abschwellend und wieder ansteigend. Tückisch tragen sie dieses böse Wort, mit dem der Junge in der Mitte getroffen und verletzt werden soll. Weil er neu und angreifbar ist.
Der Junge schließt die Augen, taucht in den monotonen Gesang ein. Er flüstert leise die Worte seiner Mutter. »Ich komme und ich hole dich! Bald.«
Von dem Krach angelockt, kommt die schwarze Frau. Sie sieht den nackten Jungen im Bett. »Hast du an dir gespielt?« Der Junge schüttelt heftig den Kopf. »Du bist vier Jahre alt und so verdorben!« Die Frau zerrt ihn aus dem Bett und stellt ihn unter die kalte Dusche. Das helle Lachen der Jungen, der Hohn und Spott ihrer Stimmen, schicken ihn in einen schützenden Tunnel. Nur noch entfernt kommen die gesungenen Worte bei ihm an. »Bettnässer, Bettnässer …«
Das kalte Wasser schlägt Risse in die schützende Hülle. Der Gesang hat aufgehört, einzig die Wassertropfen klatschen auf seinen Körper. Der Junge beginnt zu zittern.
Schließlich kommt eine andere Frau, die nach Pfefferminz riecht. Sie umwickelt ihn mit einem Handtuch und schließt ihn in die Arme.
Freitag 10.3.
»Gib mir mal den Kleister, ich muss hier noch etwas nachschmieren.« Thiemo hielt Linda die Hand auffordernd hin.
Sie merkte, dass seine Laune zum Schneiden schlecht war. Seine Bewegungen, die normalerweise ruhig und ausgeglichen, immer ein bisschen selbstgefällig waren, wirkten abgehackt und fahrig. Dazu stand sein Haar widerspenstig vom Kopf ab. Thiemo musste sich mehrfach mit der Kleisterhand hindurchgefahren sein.
Sie wollten in zwei Wochen einziehen und es war nicht sicher, ob sie es schafften, bis dahin mit jedem Zimmer fertig zu werden. Thiemo kam ständig so spät von der Arbeit, dass Linda ihn, außer auf der Baustelle, fast nur noch schlafend zu Gesicht bekam. Und die Wochenenden verbrachten sie zur Zeit mit irgendwelchen Malerarbeiten oder anderem Kleinkram. Meist bekamen sie sich irgendwann in die Wolle und Thiemo rannte vor die Tür, um sich zu beruhigen.
Linda reichte ihm den Quast und er verschmierte damit den Kleister an der Rückseite der Tapete.
»Wir sollten den Maler kommen lassen«, sagte Thiemo. Er riss wütend die ganze Bahn ab, weil sie sich oben schon wieder löste. »Mir fehlt einfach die Ruhe.«
»Ich glaub auch«, sagte Linda. »Ein Cappuccino wäre jetzt wohl nicht verkehrt!« Sie flüchtete in den Raum, der einmal die Küche werden sollte.
Es lief überhaupt nicht mehr gut in den letzten Wochen. Thiemo wurde unruhiger, je näher der Einzug rückte. Sie konnte nicht genau ausmachen, ob seine Nervosität mit der Baustelle an sich oder eher mit der unterschwelligen Furcht vor dem Freiheitsverlust zusammenhing. Er äußerte ein bisschen zu oft, dass sich in Zukunft doch einiges für ihn ändere. Dazu kam, dass es zwischen Laurin und Thiemo immer mehr Spannungen gab. Es war nicht gerade die große Freundschaft, so wie Linda es erhofft hatte. Sie waren oft eifersüchtig aufeinander. Ständig hatte sie das Gefühl, keinem der beiden wirklich gerecht zu werden. Dadurch wurde sie täglich fahriger, ließ bei Laurin viel zu viel durchgehen. Ständig war sie dabei, die schlechte Laune von Thiemo abzufangen und so zu drehen, dass kein Streit daraus hervorbrach. Immer wieder sagte sie sich, es sei nur für kurz, wenn sie erst eingezogen waren, würden sie alles irgendwie in den Griff bekommen.
Linda sah auf die Uhr. Es war bald Zeit, Laurin von der Tagesmutter abzuholen. Sie gähnte. Der Kaffee würde ihr gut tun. Sie stellte den Wasserkocher an und setzte sich für einen Augenblick auf ein Brett, das sie als Bank auf ein paar Kalksandsteine gelegt hatte.
Sie war so müde. Jede Nacht erwachte sie davon, dass Thiemo aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken. Danach schlief er zwar wieder ein, wälzte sich aber unruhig im Bett hin und her. Sie lag dann den Rest der Nacht grübelnd neben ihm und lauschte seinem unruhigen Atem. Oft merkte Linda, dass er die Decke anstarrte, als bekäme er von dort eine Antwort auf all die Fragen, die sie nicht kannte.
»Ich denke, wir werden dort glücklich und es läuft besser«, hatte Thiemo eines Nachts flüsternd gesagt. Eher zu sich selbst als zu Linda, von der er annahm, sie schliefe.
Damit hatte er wohl seine ureigensten Gedanken das erste Mal in Worte gefasst, aber der Blick seiner Augen war weiter düster und schwer. Er wirkte gehetzt, eine Regung, die Linda an ihm nicht kannte und sie das erste Mal darüber nachdenken ließ, dass sie von ihrem Mann eigentlich nur wenig wusste.
Er sprach nicht viel über sich. Thiemos Vater führte als Steuerberater eine Kanzlei und seine Mutter, eine rundliche Frau, verblasste hinter der Dominanz ihres Mannes. Sie trat nur in Form von gebackenem Apfelkuchen in den Vordergrund, verschwand aber ebenso schnell, wie dieser gegessen wurde.
Thiemo schien nichts dabei zu finden. Er kannte es auch nicht anders, aber Linda kam es immer recht armselig vor. Seine Mutter war für sie das beste Argument, sich doch recht schnell wieder Arbeit zu suchen, damit sie sich nicht unter Zimtschnecken und Schweinebraten als die Frau an Thiemos Seite verlor.
Irgendwann stand sie in solchen Nächten dann meistens auf und sah nach Laurin, der sich inzwischen, trotz Thiemos Anwesenheit, dazu bequemt hatte, in sein eigenes Zimmer zu ziehen, statt in ihrem Bett zu übernachten. Erst sein gleichmäßiger Atem, der beruhigend durch den Raum zog, ließ Lindas Lider wieder schwerer werden. Danach konnte sie dann neben Thiemo endlich einschlafen.
Ein lautes Ratschen nebenan verriet, dass Thiemo eine weitere Tapetenbahn wieder von der Wand gerissen hatte. Er war einfach kein Handwerker.
Das Wasser für den Cappuccino blubberte gerade vor sich hin, als es klingelte.
»Hallo!« Sinje hielt Linda einen Korb mit Tassen und Tellern entgegen. Sie rümpfte die Nase. »Mensch, stinkt das hier nach nassen Tapeten und Kleister.« Sie schüttelte sich. »Brr, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben.«
»Wir wollten euch mal was Gutes tun und haben frischen Kaffee und Butterkuchen mitgebracht«, sagte Hanno. Er stand etwas linkisch hinter ihr und trug eine Thermoskanne und eine Kuchenplatte. Das war typisch für die beiden: spontan aufkreuzen und Hilfe anbieten.
»Super! Wir wollten nämlich gerade einen Cappuccino trinken.« Linda trat beiseite, um Hanno und Sinje hereinzulassen.
»So ein Mist!«, hörten sie aus dem Wohnzimmer.
»Ist dein Gatte etwas ungeduldig heute?« Sinje stellte den Korb auf den Boden. Die Tassen schepperten leise. »Habt ihr kein Radio? Ein bisschen Musik würde seine Stimmung vielleicht etwas heben.« Sie ging zum Fenster, das vor Feuchtigkeit beschlagen war. Mit dem Zeigefinger malte sie das ›Haus vom Nikolaus‹. »Kannst du das auch?«, fragte sie.
Linda nickte. »Von früher, klar. Ich fange aber immer unten links an.«
Hanno feixte und stellte die Kuchenplatte aufs Brett. »Wo ist Thiemo?«
Linda deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer.
»Ich helfe ihm mal.«
Sinje baute mit Hilfe zweier Kartons und eines herumliegenden Brettes einen Tisch. »Ich weiß, wie anstrengend die Endphase ist. Nichts kann schnell genug gehen und die Männer sind dann einfach … seltsam.« Sie öffnete die Thermoskanne und goss etwas Kaffee in die Tassen. Dann hob sie den Deckel der Kuchenplatte. Der Geruch frisch gebackenen Butterkuchens wehte ihnen entgegen. »Schon besser als der Baustellengeruch!«, sagte sie zufrieden.
»Wann hast du denn den gebacken?«, staunte Linda. »Du hast doch den ganzen Tag gearbeitet!«
Sinje winkte ab. »Organisation ist alles«, strahlte sie. »Hatte am Morgen schon alles vorbereitet, der Backofen ist programmierbar …«
Von nebenan hörte man Thiemo wieder fluchen.
»Ich kenne ihn so gar nicht. So schlecht gelaunt.« Linda runzelte die Stirn.
»Im Augenblick ist nix mit Sunnyboy, was?« Sinje schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte es Linda. »Komm, iss! Lass die beiden das mal machen. Seine Laune wird schon wieder besser, wenn der Spaß hier vorbei ist.« Sie nahm sich selbst auch ein Stück. »Hanno ist jetzt in seinem Element«, sagte Sinje kauend. »Es gibt einfach nichts, was er lieber tut, als den Retter zu spielen. – Ganz schön nervig manchmal.«
»Musst du heute nicht mehr arbeiten?«, fragte Linda.
»Nein, habe frei. Und Hanno hat Schlechtwetter!« Sinje kaute bereits am nächsten Stück Kuchen.
»Haben die Männer denn bei solch einem Wetter nachher überhaupt Training?« Linda sah auf die Uhr. Freitagabends nahm es Laurins Tagesmutter immer sehr genau.
»Die trainieren immer. Fußballer eben« sagte Sinje. »Solange sie nur trainieren …«
Linda sah auf und entdeckte in Sinjes Gesicht zum ersten Mal etwas Nachdenkliches, das so gar nicht zu ihrem fröhlichen Gemüt passte. »Wie meinst du das?«
»Ach, nichts. Männer eben.«
»Du meinst, Bier trinken in der Kneipe und so?«
Sinje nickte schnell und Linda dachte für den Hauch des Moments, dass ihre Nachbarin vielleicht auch noch etwas anderes für möglich halten könnte. Doch sie wehrte die Vermutung ab. Sinjes Andeutung sollte sich nicht in ihrem Gehirn einnisten wie eine Schlange und womöglich, wann immer es ihr beliebte, wieder zum Vorschein kommen, um das Vertrauen, das Linda in ihren Mann hatte, zu vergiften.
»Wenn Hanno Thiemo jetzt ohnehin noch die halbe Stunde hilft, bis sie zum Fußball müssen, kann ich ja ohne schlechtes Gewissen losfahren, oder?« Linda zuckte mit den Schultern. »Ist immer viel Organisation mit einem Kind.«
»Sei froh, dass du eins hast«, sagte Sinje und verschlang ein weiteres Stück Butterkuchen.
1969
Sie ist nicht zurückgekommen. Der Treter hat gesagt, wahrscheinlich sei sie eine Nutte, die dürften ihre Kinder nicht behalten. Seine Mutter sei auch so eine. Bumst mit jedem für viel Geld. Er sei ein Wechselbalg von irgendeinem idiotischen Freier, der die Gummibarriere durchbrochen hat. »Du bist eben ein Nichts in so einem Spiel«, sagt er.
Der Junge nickt. Er hat keine Ahnung, was eine Nutte ist, aber der Treter hat sicher recht. Er weiß alles.
Manchmal macht er mit den Jungen seltsame Sachen auf dem Klo. Der Junge hat Angst, vor allem, als der Treter meint, demnächst sei er dran. So ein fünfjähriger Hintern hätte was.
Er ist aber nie dran, weil er Schmiere stehen muss. Dabei hört er komische Geräusche, manchmal ein leises Weinen. Dann wird der Treter wütend, schlägt zu. Der Junge legt seine Hände an die Ohren und hält die Klappe. Es ist besser, still zu tun, was der Treter sagt. Einfach nicht auffallen, das machen, was ihm befohlen wird. Der Treter ist schon vierzehn und der Älteste hier. Er sorgt für Ordnung, hat die schwarze Frau gesagt.
»Irgendwann schnapp ich mir eine der Nonnen, irgendwann«, lacht der Treter, nachdem er mit zwei von den kleineren Jungs im Klo gewesen ist. Sie wischen sich verstohlen die rotgeränderten Augen, verschwinden schnell und lautlos, als seien sie nie da gewesen.
»Du machst deine Sache gut, heißt von jetzt an Schmierlapp.« Der Treter klopft dem Jungen leicht auf die Schulter. »Schmierlapp. Von Schmiere stehen.«
Der ist glücklich. Bislang ist er wie ein Chamäleon durch die Räume geschlichen, hat versucht, vor allem dem Treter nicht aufzufallen, aber jetzt ist er wer, hat eine Identität. Er hat einen Namen. Jeder, der hier jemand ist, hat einen Namen. Nicht den, den die Schwestern und Pfleger benutzen, sondern einen besonderen, einen, der die Jungen erst dazugehören lässt. Und den der Treter erfunden hat.
Es ist die erste Nacht, in der der Junge nicht ins Bett macht und durchschläft.
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