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Im März 1936 wurden fast täglich Männer unter dem Verdacht verhaftet, homosexuell zu sein. Die mehr als zwanzig Festnahmen zwischen dem 4. März und dem Monatsende sorgten in breiten Bevölkerungsteilen der Ruhrmetropole für Klatsch. Die National-Zeitung sah sich am 5. April 1936 genötigt, auf die Gerüchte zu reagieren. Bevor der anonyme Autor des Artikels auf die „Reihe der Verhaftungen” dieser Tage einging, legte er die generelle Position des Nationalsozialismus „gegen die Erscheinung des Verfalles” dar: „Mit einer verschärften Gesetzgebung hat der Nationalsozialismus die Grundlage für diesen Kampf um die Reinhaltung unseres Volkskörpers geschaffen.” Dann erst ging er auf die lokalen Verhaftungen ein, „die aus dieser unerbittlichen Kampfhaltung […] herrühren. In der Öffentlichkeit gehen darüber Gerüchte mit den üblichen Übertreibungen und Entstellungen um. […] Uns darf das Bewußtsein genügen, daß der neue Staat von der Waffe, die er sich in der verschärften Gesetzgebung geschaffen hat, rücksichtslos Gebrauch macht, wo immer er auf Eiterbeulen stößt, ohne Ansehung des Namens wie des Standes.”37
Einen Eindruck von der Atmosphäre in der Stadt in jenen Wochen vermitteln die Aussagen, die später Verhaftete gegenüber der Gestapo machten. „Als die Festnahmen von Homosexuellen-Mitgliedern des Essener Stadttheaters von der Polizei vorgenommen worden waren, erschien eines nachmittags ‚Natascha’ reisefertig mit einem Koffer in der Wohnung von K. und erklärte, er müsse flüchten […]. K. hatte ihm einen Paß besorgt.”38 Ein Ende 1936 verdächtigter Folkwang-Schüler sagte aus: „Während der Mahlzeit sagte mir Frau D., daß ich auf ihren Sohn recht aufpassen solle. Er wäre so leichtsinnig. Die Worte von Frau D. wurden deshalb zu mir gesprochen, da das Gespräch sich beim Essen auf die Vorkommnisse homosexueller Art im Stadttheater in Essen bezog.”39 Noch liefen die Ermittlungen und Razzien der Geheimen Staatspolizei gegen die „homosexuellen Umtriebe” auf Hochtouren, denn die Kripo-Beamten konnten nicht ahnen, dass mit der Eröffnung des ersten Prozesses gegen den Bühnenbildner Paul Sträter der Öffentlichkeit neuer Gesprächsstoff über die Gestapo geliefert werden sollte.
„Das Ende eines unerquicklichen Prozesses”
Bis Ende April 1936 hatte sich die Zahl der Verhafteten auf über 50 erhöht. Während die Verdächtigen anfänglich die Vorwürfe bestritten, gelang es der Gestapo durch tagelange Verhöre und Gegenüberstellungen, die Festgenommenen zu überführen. Welche Rolle Folter oder die Androhung von Folter dabei spielte, kann nur vermutet werden. Aus dem Blickfeld geriet dabei der zuvor umjubelte Prinz Karneval, der seine „Bisexualität” gestand.40 Die Staatsmacht plante, ihn mit weiteren geständigen Verhafteten, die sich der „widernatürlichen Unzucht” schuldig gemacht hatten, in einem groß angelegten Prozess in den Sommermonaten vor Gericht zu stellen. „In allernächster Zeit sollte nun gegen 23 Angeklagte, die des Verbrechens nach §§ 175, 175a StGB überführt sind, die Hauptverhandlung beim hiesigen Landgericht stattfinden”, hielt Kriminalkommissar Schweim in einem Bericht fest und fuhr fort: „Aus nicht durchsichtigen Gründen wurde das Verfahren gegen den Bühnenbildner Sträter abgetrennt und aus dem gesamten Komplex herausgenommen. Weil ein sichtbarer Grund hierfür nicht vorhanden war, erregte diese Maßnahme einiges Befremden.”41
Der seit Herbst 1935 verheiratete Bühnenbildner Sträter war durch die Aussagen mehrerer Beschäftigter der Essener Bühnen der widernatürlichen Unzucht bezichtigt worden. Der Bühnenmaler Willi D. sagte aus, dass Sträter sich selbst als „warm” bezeichnet hätte und dass „im ganzen Hause allgemein die homosexuelle Veranlagung Sträters bekannt gewesen sei und aus der er […] keinen Hehl machte”.42 Doch erst die Verhöre des Ballettmeisters Peter Roleff und sein Eingeständnis, es sei zu sexuellen Handlungen mit Sträter gekommen, genügten der Geheimen Staatspolizei, Sträter als überführt zu betrachten. Sträter selbst bestritt die Tat. In den kommenden Wochen bemühten sich sowohl Intendant Noller als auch Oberbürgermeister Grone-Reismann um Sträter – das Schicksal der anderen festgenommenen Ensemblemitglieder berührte sie jedoch wenig.
Zur Verwunderung der Geheimen Staatspolizei wurde zunächst gegen Sträter verhandelt, am 19. Juni 1936 begann der Prozess. „Sträter als erster Angeklagter” überschrieb die National-Zeitung vom 20. Juni ihren Artikel. Doch nach vier Verhandlungstagen konnten die Leserinnen und Leser der Essener Volkszeitung am 29. Juni Details über „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses” erfahren. Der Hauptbelastungszeuge Peter Roleff, der drei Monate zuvor den Bühnenbildner Paul Sträter beschuldigt hatte, erschien am 23. Juni vor der III. Strafkammer des Landgerichts Essen und widerrief sein belastendes Geständnis.43 In Anwesenheit der Presse und der Gestapo-Beamten Nohles und Schweim behauptete der Ballettmeister, „daß ihm gerade dieses Geständnis, und zwar dieses allein, von dem vernehmenden Beamten der Staatspolizei durch Schläge pp. erpresst worden sei”.44
In einem internen Bericht der beiden Beamten, die sich bloßgestellt sahen, kam ihr Unmut über den gesamten Hergang des Verfahrens zum Ausdruck. Sie erhoben schwere Vorwürfe über die Zusammensetzung der Strafkammer, besonders über das Verhalten des Vorsitzenden Kammerpräsidenten Thiel und die „Art seiner schlappen Verhandlungsführung”. Den Anwürfen gegen die Staatspolizei sei Präsident Thiel nicht energisch entgegengetreten. In seinen Ausführungen über die Methoden der Verhöre des Kommissars Nohles erklärte der Zeuge Peter Roleff, „er sei von Nohles mehrmals über den Tisch hinweg auf den Kopf geschlagen worden. Hierbei sei der Schreibtisch umgefallen.”45 Zwar widersprach die Protokollantin der Staatspolizei, die das Verhör des Peter Roleff niedergeschrieben hatte, in ihrer Vernehmung den Aussagen des Ballettmeisters. Sie verneinte auch die Frage des Kammerpräsidenten Thiel, „ob Kommissar Nohles während der Vernehmung des Roleffs geboxt bzw. so geschlagen hätte, daß der Tisch umgefallen sei”.46 Die beiden Kriminalkommissare weiter: „Es sei bezeichnend für die Art der Verhandlungsführung des Präsidenten Thiel, daß […] man von dem Verfahren gegen Sträter in ein anderes gekommen wäre!” Jedem Außenstehenden war klar, daß mit diesem anderen Verfahren nur eines gegen die Staatspolizei und deren Vernehmungsmethoden gemeint sein konnte.
Den sich anbahnenden Freispruch Sträters aufgrund des „Umfalles” des Zeugen Roleff versuchte die Staatsanwaltschaft mit dem Antrag zu verhindern, das Verfahren zu vertagen. Der Staatsanwalt versuchte, die Verhandlung gegen Sträter, wie ursprünglich wohl auch vorgesehen, zusammen mit dem „demnächst kommenden großen Prozeß gegen Homosexuelle” führen zu lassen. Die Herausnahme, die sich als „Fehler erwiesen hätte”, sei aus „rein objektiven Gründen erfolgt”, so der Staatsanwalt in seinem Antrag zur Vertagung, „da man Sträter nicht für einen typischen Homosexuellen gehalten habe”. Angemerkt sei hier die Aussage des als weiterem Zeugen vernommenen Intendanten der Essener Bühnen. Noller erklärte vor Gericht, „daß Künstler in ihren Aussagen nicht immer mit den Maßstäben des reinen Verstandes zu messen seien, sondern dass sie von der künstlerischen Fantasie stark beeinflußt würden […], so daß sie zuletzt selber nicht mehr zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden wüßten”.47 Diese Aussage Nollers soll unter den Angestellten der Essener Bühnen große Empörung ausgelöst haben, vermerkte die Gestapo in ihrem Bericht. Auch der Hinweis der Staatsanwaltschaft, „daß derartige Verfehlungen nach der heutigen strengen Auffassung in unserem Staate aus gesundheitlichen und moralischen Erwägungen heraus empfindlich geahndet werden”, und die Beantragung einer Gefängnisstrafe von neun Monaten brachten Kammerpräsident Thiel nicht davon ab, den Angeklagten Paul Sträter freizusprechen.
„Unwahre Behauptungen über angebliche Geständniserpressungen”
Wie sehr sich die Essener Gestapo-Leitstelle blamiert hatte, dokumentierte die Berichterstattung der lokalen und überregionalen Presse. Die Schlagzeilen über „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses” und die Umstände, die durch den „Umfall” des „unerklärlichen Zeugen Roleff” einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden, sollten von der Geheimen Staatspolizei nicht einfach hingenommen werden.48 Am 26. Juni erging ein Schutzhaftbefehl gegen Paul Sträter. Seine Ehefrau wandte sich an den Oberbürgermeister, der ihr versicherte, er „verlange Freilassung von Sträter”. In seiner Chronik fuhr er fort: „Ich rufe die Gestapo an. Kommissar Nohles weicht aus, sagt, es lägen gegen Sträter noch andere Sachen vor.” Und den „erregten” Kommissar Schweim zitiert er mit den Worten: „Die Gestapo sei bloß gestellt und das lasse er sich nicht gefallen, er glaube nicht an Sträters Unschuld”. Schweim verwies darauf, dass der Polizeipräsident von Essen, SS-Brigadeführer Zech, „seine Auffassung teile”. Der Oberbürgermeister antwortete, „das Vorgebrachte gehe Roleff an, nicht Sträter. Ich warte bis zum Urteil, dann muß ich für meinen Angestellten eintreten.” Am selben Tag ließ der Oberbürgermeister sich von Stadtrechtsrat Russel berichten: „Sträters Freispruch sei ganz sicher”, aber er sei von der Gestapo nicht freigelassen worden. Im „Schutzhaftbefehl” heiße es, dass „durch die Beeinflussung der Öffentlichkeit das Ansehen der Staatspolizei durch unwahre Behauptungen über angebliche Geständniserpressungen” und somit „die Staatssicherheit erheblich gefährdet” sei. Trotz intensiver Bemühungen anderer Gestapo-Dienststellen, neue Erkenntnisse über Sträter zu erlangen, blieben die Ermittlungen ohne Erfolg.
Oberbürgermeister und Intendant versuchten in den Sommermonaten, durch Eingaben und Entlassungsgesuche an die Essener Gestapo die Freilassung Sträters zu erreichen. Nach einem Gespräch mit dessen Anwalt notierte der OB am 31. Juli in seiner Chronik: „In sechs Tagen werde ich Oberleitung der Gestapo [Himmler] bitten, sich zu entscheiden, da Sträter eventuell ersetzt werden muss, [und da er] auch in Antwerpen nötig ist.” Schließlich zeigte das Engagement um die Entlassung aus der Schutzhaft Wirkung. Einen Auftrag an Sträter, Entwürfe für die Königlich Flämische Oper in Antwerpen zu erstellen, nahm der Präsident der Reichstheaterkammer zum Anlass, sich in einem Schreiben an Kriminalkommissar Schweim für die Freilassung zu verwenden. Anfang September 1936 wurde Paul Sträter aus der Schutzhaft entlassen.
Die Geheime Staatspolizei hielt es in den folgenden Jahren in Schreiben an den Präsidenten der Reichstheaterkammer in Berlin „noch nicht für ratsam”, „Sträter an einem Theater der öffentlichen Hand zu beschäftigen”.49 Obwohl im August 1938 in der Gestapo-Außenstelle Braunschweig erneut der Verdacht der homosexuellen Betätigung aufkam, blieb Paul Sträter unbehelligt.50 Noller nahm Sträter später mit an die Staatsoper Hamburg.
„Verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde”
Anders erging es den 14 Personen, deren Schicksal mit dem Essener Theaterskandal in Verbindung stand. Sie mussten am 25. September 1936 vor der I. Großen Strafkammer des Landgerichts Essen ihre Urteile entgegennehmen. Im Gegensatz zum ersten Prozess fand dieser unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Bericht des Deutschen Nachrichtenbüros wird sicher auch die Zustimmung der Essener Gestapo gefunden haben. Die Namen der 14 Angeklagten aus den „verschieden-sten Volksschichten und Berufskreisen” wurden nicht mehr genannt. Darunter befanden sich der ehemalige Operettenspielleiter und Regisseur Otto Zedler und der Tänzer Peter Roleff. Zedler wurde zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und Roleff, der in der Urteilsbegründung als „der typische Homosexuelle” bezeichnet wurde, zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Laut Essener Anzeiger vom 26. September bezeichnete der Vorsitzende der Strafkammer „die Straftaten als dekadente, anormale Erscheinungsformen, die den gesunden Volkskörper schwer bedrohen […]. Wir alle wissen, zu welchen Zersetzungs- und Verfallserscheinungen die Zustände vergangener Zeiten führten, da ein Magnus Hirschfeld und andere ‚Wissenschaftler’ darauf drängten, den § 175 überhaupt aufzuheben […]. Im neuen Reich werden diese Kreise als das bezeichnet und behandelt, was sie sind, als verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde, mit denen rücksichtslos aufgeräumt werden muss und wird.” In der folgenden Ausgabe wurde die National-Zeitung zitiert, die sich über die Urteile ausließ und bedauerte, „daß das Essener Gericht in seiner Urteilsfindung dem ausdrücklichen Willen des nationalsozialistischen Staates und des deutschen Volkes, in schärfster Form der Gefahr der Volksverseuchung entgegenzutreten, in offensichtlich ungenügender Form begegnet sei”. Das Blatt empörte sich: „Hier liegen doch Straftaten vor, die diejenige, welche sie begangen haben, einwandfrei als verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde charakterisieren, so daß mit ihnen wirklich rücksichtslos aufgeräumt werden müßte.”51
Die Künstler der Städtischen Bühnen in Essen, die von der Geheimen Staatspolizei im Rahmen der „Aktion gegen Homosexuelle” überführt oder verdächtigt worden waren, wurden im Februar 1938 in einer „Künstlerliste” erfasst. Per Erlass forderte das Geheime Staatspolizeiamt Berlin sie an.52 Otto Zedler und sein Lebensgefährte wurden in den Jahren nach der Verbüßung der Gefängnisstrafe weiterhin überwacht. In einem Schreiben vom 28. September 1938 teilte das Geheime Staatspolizeiamt Berlin der Staatspolizei Düsseldorf mit: „Trotz der Bestrafung sind beide wieder zusammengezogen.” Sogleich wurde Zedler auferlegt, nicht nur die gemeinsame Wohnung mit seinem Lebensgefährten aufzugeben, sondern seinen Aufenthaltsort zu verlegen, „widrigenfalls er mit der Inschutzhaftnahme zu rechnen hat. Vollzugsmeldung ist erforderlich”.53 Erst im Januar 1938 wurde die „Aktion gegen Homosexuelle” in Essen von der Gestapo-Außenstelle Essen für beendet erklärt.54 Bis zum Kriegsende wurden den verfolgten Bühnenkünstlern Auftritte verboten und die Betätigung als Künstler verwehrt.
Eine Stunde Null gab es für die homosexuellen Opfer nicht. Auf den 1985 in Berlin und München angebrachten Gedenktafeln steht zu lesen: „Totgeschlagen – Totgeschwiegen. Den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus!” Totgeschwiegen wurde bis vor wenigen Jahren auch die Geschichte des Essener Karnevalsprinzen von 1936, Otto I. Noch heute sucht man in der Chronik des Essener Karnevalskomitees vergebens nach Otto Zedler, dem Karnevalsprinzen, der als Schauspieler und Regisseur in dem Lustspiel „Morgen geht´s uns gut!” von Ralph Benatzky an den Essener Bühnen Erfolge gefeiert und am Rosenmontag 1936 tausende Essener unterhalten hatte. Ignoriert wurde auch seine Nachkriegskarriere in der DDR. Zedler, der seit 1945 im Ostteil Berlins tätig war, starb 1978. Seit dem 8. Mai 2014 erinnern zwei Stolpersteine am Haupteingang des Essener Grillo-Theaters an die „Aktion gegen Homosexelle” an den Essener Bühnen und an die Opfer, die wegen ihrer sexuellen Orientierung denunziert, verhaftet und verurteilt wurden.
Frank Ahland
Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus
Vorläufige Ergebnisse neuerer Forschungen
Den von den Nazis verfolgten Homosexuellen konnte „aufgrund der mangelnden lokalgeschichtlichen Quellenlage im Rahmen unserer Dokumentation leider kein Platz eingeräumt werden konnte”, heißt es noch 2002 im Katalog zur Dauerausstellung „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945” im ehemaligen Dortmunder Polizeigefängnis, der heutigen Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.55 Schon 1969 hatte Kurt Klotzbach in seiner verdienstvollen Lokalstudie zum selben Thema die Homosexuellenverfolgung ausgespart, obwohl er die Haftbücher des Polizeigefängnisses Steinwache systematisch ausgewertet hatte.56 Nicht entgangen sein konnte ihm, dass unter den rund 65.000 Personen, die von Polizei und Gestapo durch die Steinwache geschleust worden waren, jeder Hundertste wegen Verstoßes gegen § 175 StGB eingesperrt, dass von diesen rund 600 verfolgten Homosexuellen etwa jeder zwölfte als politischer Häftling eingestuft und rund ebenso viele von der Gestapo eingeliefert, ja dass zwei dieser Männer auf direktem Wege von der Steinwache in Konzentrationslager verschleppt worden waren. All das ist den Haftbüchern bei gründlicher Durchsicht ohne Weiteres zu entnehmen. Dennoch ließ Klotzbach es unerwähnt. Man mag einwenden, dass Klotzbach den Fokus auf den politischen Widerstand und dessen Verfolgung richtete, schließlich betrachtete er selbst die Verfolgung der Juden auf sehr wenigen Seiten und eher summarisch. Doch spätestens mit der Konzeption der Ausstellung zu Widerstand und Verfolgung in Dortmund hatte sich der Fokus geweitet.
Die Gründe deutete Günther Högl, der die Ausstellung maßgeblich erarbeitet hatte, an, auch wenn er ausdrücklich von anderen Opfergruppen, den Zwangsarbeitern, Polen, Sinti und Roma, den Opfern der sogenannten Euthanasie und den Wehrmachtsdeserteuren sprach: „Ist nach teilweise kontroverser gesellschaftspolitischer Diskussion, sogar unter ehemals von den Nazis verfolgten Gruppen und Personen selbst, inzwischen in vielen Fällen eine Akzeptanz als ‚Opfer’ erfolgt, so vermag man immer noch eine gesellschaftliche Diskriminierung im Vergleich zu anderen Opfern des NS-Regimes zu verspüren.”57 Sie galten mithin als Opfer zweiter Klasse. Um wie viel mehr das für die Homosexuellen galt, brachte Wolfgang Benz deutlich zum Ausdruck: „Die Ausgrenzung marginaler Opfergruppen [seitens der ehemaligen politischen Häftlinge] erfolgt automatisch durch das Beharren auf der Exklusivität der eigenen Verfolgung. Der eigene Opferstatus wird in der Reinheit des eigenen Leidens verteidigt.”58 Zwar wird inzwischen auf Initiative der lesbisch-schwulen Community und auf Beschluss des Rates der Stadt Dortmund in der Steinwache in einem eigenen Raum an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus erinnert, jedoch noch ohne konkrete Bezugnahme auf Dortmund. Inzwischen steht eine Neukonzeptionierung der Ausstellung an, sie wird die aktuellen Erkenntnisse einbeziehen.59
Homosexuelle in den Haftbüchern der Steinwache
Aus den überlieferten Akten der Dortmunder Staatsanwaltschaft sind bislang rund 50 Verfolgungsschicksale bekannt, dabei handelt es sich fast ausschließlich um vor dem Landgericht geführte Prozesse, teils wegen sogenannter Unzucht mit Jugendlichen oder Schutzbefohlenen.60 Einvernehmliche Sexualität zwischen erwachsenen Männern ohne Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses fehlt in diesen Akten weitgehend, sie wäre überwiegend vor dem Amtsgericht verhandelt worden, dessen Akten jedoch nicht überliefert sind. Diesen eingeschränkten Fokus können neuere Forschungen überwinden. Die erstmals vorgenommene systematische Auswertung der Haftbücher der Steinwache nach dem Haftgrund § 175 erfasst die gesamte Bandbreite der von den Nazis verfolgten mann-männlichen Sexualität. Neben den Haftbüchern der Steinwache blieben bisher auch die Daten der Dortmunder Kriminalitätsstatistik unausgewertet.61
Die Haftbücher der Steinwache sind beinahe vollständig überliefert.62 Sie umfassen zunächst Angaben zur Person: Name und Vorname, Beruf, Geburtsdatum und -ort, Adresse. Dazu kommen Datum und Uhrzeit der Einlieferung und der Entlassung, der Haftgrund, Name und Dienstgrad der einliefernden Beamten. Alle Einträge sind handschriftlich. Zieht man die mehrfach inhaftierten Personen ab, so verbleiben 593 aufgrund des § 175 eingelieferte Männer.63 Mithin war fast jeder Hundertste der etwa 65.000 während des Nationalsozialismus in das Polizeigefängnis eingelieferten Häftlinge der Steinwache ein wegen sogenannter widernatürlicher Unzucht verhafteter Mann – eine Quantität, die schwerlich zu übersehen ist. Geht man davon aus, dass zwischen 1933 und 1945 im Deutschen Reich rund 100.000 homosexuelle Männer strafrechtlich verfolgt wurden, so lässt sich für eine Stadt von der Einwohnerzahl Dortmunds auf rund 675 Männer schließen. Berücksichtigt man ferner, dass Dortmund die Funktion eines Oberzentrums der Region einnimmt, so dürfte die Zahl deutlich höher liegen. Zwar wurde nur ein, in seinem Umfang noch unbekannter Teil der in der Steinwache verhafteten Männer strafrechtlich verfolgt, dennoch lässt sich nun ein bedeutender Teilbereich der in Dortmund verfolgten Männer beschreiben.
Die eingelieferten Männer waren zum weit überwiegenden Teil zwischen 21 und 40 Jahren alt, das Durchschnittsalter betrug 35 Jahre. Die jüngsten waren jedoch noch minderjährig. Neben 28 Jugendlichen unter 18 Jahren wurden 48 Heranwachsende unter 21 Jahren festgenommen. Der 15-jährige Schüler Gustav Adolf H. kam im Juni 1944 in die Steinwache, verhaftet hatte ihn die Gestapo. In der Steinwache wurde er zunächst als „politisch” geführt – ein Hinweis darauf, dass er womöglich in einer NS-Organisation wie der HJ aufgefallen war –, der Eintrag wurde jedoch wieder durchgestrichen und der Junge entlassen. Auch elf Männer über 65 Jahren fielen den Verfolgungsbehörden in die Hände, der älteste verhaftete Mann war der 78-jährige Egon W., der im Juni 1938 eingeliefert wurde. Nicht alle Verhafteten waren Dortmunder, jeder zehnte kam aus den umliegenden Städten, teils waren es auch Durchreisende aus Hamburg oder Köln. Die weitaus meisten verhafteten Dortmunder wohnten in den innerstädtischen Bezirken, insbesondere in den Arbeiterquartieren der Nordstadt und der westlichen Innenstadt, hier lebten 150 bzw. 58 von ihnen. In der östlichen Innenstadt wohnten 23, innerhalb des Wallrings im Stadtzentrum 40 betroffene Männer. Die besondere Häufung der der Steinwache benachbarten Wohnviertel der Innenstadt lässt darauf schließen, dass die in den entfernter gelegenen Vororten verhafteten Männer nicht sämtlich in die Steinwache verbracht wurden. Lassen bereits die Wohngebiete auf einen hohen Arbeiteranteil schließen, wird diese Beobachtung durch einen Blick auf die Berufsstruktur bestätigt. Arbeiter und Angestellte überwogen die Bürgerlichen deutlich, wie in einer Arbeiterstadt wie Dortmund zu erwarten.64
Betrachtet man die Einlieferungen im Zeitverlauf, so fällt eine in etwa parallel zum Reich verlaufende Entwicklung auf: Während 1931 keine und 1932 eine Verhaftung vorgenommen wurde, stieg mit dem Beginn des Nationalsozialismus 1933 die Zahl der Verhaftungen sogleich auf elf an und blieb 1934 und 1935 mit sieben und zehn auf dem gleichen Niveau. 1936 stieg zwar die Zahl deutlich auf nun 37, doch erst 1937 schnellte sie in die Höhe: Mit 165 Verhaftungen erreichte sie ihren Höhepunkt und blieb in den beiden Folgejahren mit je 157 Verhaftungen auf einem extrem hohen Niveau. Mit Kriegsbeginn sank die Zahl rapide, 1940 waren es 60, 1941 24 Männer. In den letzten drei Jahren wurden kaum noch Männer eingeliefert.
Hintergründe der verschärften Verfolgung
Von dem in der Literatur oftmals behaupteten Zusammenhang des Anstiegs mit der Verschärfung des § 175 zum 1. September 193565 kann folglich nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Schaut man genauer auf die Dortmunder Zahlen, fällt zunächst auf, dass bis 1936 die Verhaftungen weit überwiegend in den Sommermonaten vorgenommen wurden. Dieses Indiz spricht für eine eher zufällige, wenig systematische Praxis der staatlichen Verfolgungsbehörden. Vermutlich wurden die meisten Männer in öffentlichen Bedürfnisanstalten, Grünanlagen oder ähnlichen Orten in flagranti überführt. Im Januar 1937 schnellten die Zahlen in die Höhe, bis zum August 1939 lagen sie in kaum einem Monat unter zehn. Im April 1939 erreichten sie ihren monatlichen Höchstwert mit 26 Verhaftungen. Mit Kriegsbeginn 1939 sank die Zahl wieder auf unter zehn pro Monat. Seit August 1944 wurde kein Mann wegen Verstoßes gegen § 175 in die Steinwache eingeliefert. Das bedeutet freilich nicht, dass keine Verhaftungen mehr vorgenommen wurden, vieles spricht für die Annahme, dass nicht alle Verhafteten hierher gebracht wurden. Zudem benötigte das Regime in der Endphase des Krieges das Polizeigefängnis vor allem für die Verfolgung von Zwangsarbeitern.
Nicht in erster Linie die Gesetzesverschärfung 1935 war mithin Auslöser der verstärkten Verfolgung. Auch nicht, dass im Dezember 1937 in der in Dortmund-Hörde ansässigen Gestapo-Zentrale für den Regierungsbezirk Arnsberg ein Referat zur Bekämpfung der Homosexualität eingerichtet wurde, denn zu diesem Zeitpunkt lagen die Zahlen längst extrem hoch. Stattdessen lässt sich ein direkter zeitlicher wie inhaltlicher Zusammenhang mit einer Rede Heinrich Himmlers herstellen, inzwischen faktischer Chef der deutschen Polizei, der Gestapo und der SS. Anlässlich des „Tages der deutschen Polizei” fabulierte Himmler am 15. Januar 1937 im Rundfunk, die Pflicht des Regimes läge „in dem unnachsichtlichen und unbarmherzigen Vorgehen gegen die Verführer und Täter”. Wenig später führte er in einer Geheimrede aus, die männliche Kameradschaft des neuen Regimes, dieser „Männerstaat”, sei im Begriff, sich durch Homosexualität selbst „kaputt zu machen”.66 Publizistisch begleitet wurde Himmlers Furor nicht zuletzt durch eine Artikelserie in der SS-Zeitschrift Das schwarze Korps, die zugleich Pflichtblatt der deutschen Polizei war.67 Die verschärfte Verfolgung der Homosexualität lag mithin nicht allein im sittlich-bürgerlichen Rechtsempfinden insbesondere der beiden großen christlichen Konfessionen begründet, sondern im Männlichkeitskult des Nationalsozialismus selbst.68
Neben den Männerbünden des Regimes sollte auch die Jugend von der als Gefährdung verstandenen Homosexualität geschützt werden. So schwor Oberamtsrichter Dr. Reining Vertreter von NSDAP, Hitler-Jugend, Reichsarbeitsdienst, Polizei, Staatsanwaltschaft und anderer staatlicher und kommunaler Stellen im September 1937 bei einer Besprechung in Dortmund unter dem Titel „Wie ist der Schutz sittlich gefährdeter Jugendlicher wirksam zu gestalten?” auf die „die furchtbare Gefahr der Pest der Homosexualität” ein. Reining forderte Wachsamkeit aller Beteiligten: „Leider ist es eine traurige Tatsache, daß Eltern, Erzieher und Lehrherren ihre Aufsichts- und Aufklärungspflicht oft in einem Maße vernachlässigen, daß sie ebensogut vor den Strafrichter gehörten wie die Verführer selbst.” Gemeinsam mit Landgerichtsdirektor Plöger berichtete er von Fällen aus den vergangenen Jahren. Der Bericht in der Dortmunder Tagespresse schloss mit den Worten: „Es ist uns oft verdacht worden, daß wir die Jugendschänder anprangerten, wo wir sie trafen. Die gestrige Zusammenkunft, in der verantwortungsvolle Männer und Frauen aus dem reichen Schatz ihrer leider oft sehr trüben Erfahrungen sprachen, war ein weiterer Beweis dafür, daß die Presse gar nicht genug Aufklärungsarbeit leisten kann und die Arbeit der Polizei und der Gerichte noch weit mehr unterstützen muß als bisher.”69
Rundfunkrede und Zeitungsartikel machten denn auch dreierlei deutlich: Erstens geschah die anschließende, in der Geschichte beispiellose Jagd auf homosexuelle Männer geschah in aller Öffentlichkeit. Zweitens spann Himmler nicht allein die Gestapo für diese Aufgabe ein, er machte sie zur Aufgabe der gesamten Polizei. Und drittens bot er jedem Regimetreuen willkommenen Anlass zur verstärkten Denunziation von homosexuellen Nachbarn oder Arbeitskollegen. Wie sich das auf Dortmund auswirkte, lässt sich nun wenigstens in Umrissen darstellen:
Die Kriminalpolizei und die Homosexuellenverfolgung
In den ersten vier Jahren des Regimes bis Januar 1937 wurden etwa 70 Männer verhaftet. Nur zwölf dieser Männer wurden nachts zwischen 21.00 und 6.00 Uhr in die Steinwache eingeliefert. Ein Drittel wurde zudem von Polizeirevieren und der der Steinwache benachbarten Bahnhofswache eingeliefert. Noch dazu wurden neun dieser Männer zur selben Zeit festgenommen.70 Zwar trat auch jetzt schon das für Sittlichkeitsdelikte zuständige 9. Kommissariat der Kriminalpolizei auf den Plan, doch deutet alles darauf hin, dass es noch keine gezielte Jagd auf homosexuelle Männer machte. Eher beiläufig ergriff es vereinzelt Männer aufgrund von Vergehen nach § 175. So nahm es im März und Juni 1934 drei Männer wegen Kuppelei und Zuhälterei fest, denen es zudem ein Vergehen nach § 175 zur Last legen konnte. Bereits Mitte Januar 1937, unmittelbar im Anschluss an die Himmler-Rede, lässt sich eine Veränderung feststellen: Die Einlieferungen seitens der Polizeireviere traten deutlich in den Hintergrund, das 9. Kommissariat dominierte von nun an die Homosexuellenverfolgung deutlich.
Insbesondere zwei Beamte dieses Kommissariats taten sich in der Homosexuellenverfolgung besonders hervor: Karl Wehmeyer und Fritz Bieder. Wehmeyer war, teils allein, teils mit einem Kollegen, an rund 250 Verhaftungen beteiligt. Bereits bei seinen ersten Einsätzen im Oktober 1936 war er nachts tätig, exakt die Hälfte seiner Verhaftungen nahm er zwischen 21.00 Uhr abends und 6.00 Uhr morgens vor. Besonders erfolgreich war seine Suche in den vier Stunden um Mitternacht: Zwischen 22.00 und 2.00 Uhr nahm er 102 Männer fest. Sein besonderer Eifer wurde ihm gelohnt, der Kriminalassistent wurde im Frühjahr 1937 zum Kriminaloberassistenten und im April 1939 zum Kriminalsekretär befördert. Wehmeyer blieb mindestens bis Mitte 1944 bei der Dortmunder Kripo. Nach Kriegsende diente er als Kriminalpolizeimeister bei der Dortmunder Stadtpolizei, wurde aber am 4. Oktober 1937 im Rahmen der Entnazifizierung entlassen.71 Ob er später im Rahmen der Amnestiegesetze wieder eingestellt wurde, muss derzeit offen bleiben. Sein Kollege Bieder, der ebenfalls als Kriminalassistent begonnen hatte, überstand das Ende des Regimes unbeschadet, 1964 wurde der Beamte des mittleren Polizeivollzugsdienstes als Kriminalhauptmeister in den Ruhestand versetzt.72 Auch ihn belohnte das Regime im Frühjahr 1937 mit einer Beförderung zum Kriminal-oberassistenten, eine weitere Beförderung unterblieb jedoch. Auch er stellte sehr häufig nachts homosexuellen Männern hinterher. Mit Kriegsbeginn trat Bieder zunächst nicht mehr in Erscheinung. Zwischen Februar und Mai 1941 nahm er erneut Verhaftungen vor.
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