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Christian Wiese und Eric Jacobson (Hg.)

Weiterwohnlichkeit der Welt

Zur Aktualität von Hans Jonas

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Uta Herrmann, Berlin,

nach Entwürfen von Gunter Rambow, Berlin

Print-Erstausgabe: © 2003 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin Wien

EPUB:

ISBN 978-3-86393-612-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort

I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext

Christian Wiese

Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas

Vittorio Hösle

Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie

Konrad Paul Liessmann

Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders

Christian Wiese

Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem

II. Religionsphilosophische Reflexionen: Gnosisforschung und Gottesbegriff nach Auschwitz

Kurt Rudolph

Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht

Joseph Dan

Von Hans Jonas zu Umberto Eco: Der Mythos der Gnosis

Micha Brumlik

Ressentiment – Über einige Motive in Hans Jonas’ frühem Gnosisbuch

David J. Levy

Mythische Wahrheit und die Kunst der Wissenschaft. Hans Jonas und Eric Voegelin über Gnosis und das Unbehagen der Moderne

Eric Jacobson

Hans Jonas und der Gottesbegriff nach Auschwitz

Hans Hermann Henrix

Machtentsagung Gottes? Eine kritische Würdigung des Gottesverständnisses von Hans Jonas

Christian Wiese

„Weltabenteuer Gottes“ und „Heiligkeit des Lebens“. Theologische Spekulation und ethische Reflexion in der Philosophie von Hans Jonas

III. Philosophie des Organischen und Ethik der Verantwortung

Gereon Wolters

Hans Jonas’ „philosophische Biologie“

Wolfgang Erich Müller

Organismus und Verantwortung. Hans Jonas’ Begründung der Ethik in der Philosophie des Lebens

Emidio Spinelli

Hans Jonas und das Problem der Freiheit

Gertrude Hirsch Hadorn

Prinzip Verantwortung oder intergenerationelle Gerechtigkeit? Zur Position von Hans Jonas in der zukunftsethischen Debatte

Michael Löwy

Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ versus Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“

Dietrich Böhler/Horst Gronke

In dubio pro responsabilitate. Die Orientierungskraft des Verantwortungsprinzips im ökologischen und bioethischen Diskurs

Anhang

Anmerkungen

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Am Anfang dieses Buches steht die Überzeugung, daß Hans Jonas, dessen Geburtstag sich 2003 zum hundertsten Mal jährt, nicht nur ein faszinierender Mensch war, in dessen Leben mit seinen dramatischen Erlebnissen und Brüchen sich die Erfahrungen, Krisen und Katastrophen wie die intellektuelle, politische und technologische Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegeln. Vor allem aber war Jonas ein herausragender Philosoph, dessen Werk für die Bewältigung der komplexen politischen und ethischen Probleme unserer Zeit hochaktuell ist. Einem breiten Publikum ist er als Verfasser des berühmten ethischen Entwurfs Das Prinzip Verantwortung bekannt, das seit dem Aufbruch der ökologischen Bewegung Ende der siebziger Jahre vor allem in Deutschland einen enormen Einfluß ausgeübt hat. Noch heute zählt Jonas zu den wichtigsten Stimmen innerhalb der zukunftsethischen Debatten, die in den modernen Industriegesellschaften geführt werden.

Damit ist seine Bedeutung jedoch längst noch nicht erschöpft. Auch den weit weniger bekannten Aspekten seiner Biographie und seines wissenschaftlichen Gesamtwerks, die für das Verständnis seiner Philosophie unerläßlich sind, kommt ein hohes Maß an Aktualität zu. Als in Deutschland geborener, 1933 in die Emigration nach Palästina vertriebener Jude, als Zionist, der als Soldat gegen Nazi-Deutschland kämpfte und dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, ist er ein wichtiger Zeuge des von den Deutschen während der Nazi-Diktatur zerstörten deutschen und europäischen Judentums. Zugleich ist er ein bedeutender Interpret des deutsch-jüdischen intellektuellen Erbes, das er als Philosoph in seinen Werken und in seiner Wirksamkeit an der New School for Social Research in New York fortsetzte. Von so gegensätzlichen Lehrern wie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann geprägt, hat Jonas in seinen frühen Werken eine meisterhafte Gesamtschau der mythologischen Motive und Symbole, religiös-existentiellen Haltungen und ethischen Konzepte vorgelegt, die für das Phänomen der spätantiken Gnosis charakteristisch sind. Die gegenwartsbezogene philosophische Sprengkraft seiner Interpretation besteht dabei in der Entdeckung der Parallelen zwischen dem gnostischen Empfinden eines dualistischen, feindseligen Kosmos und jenem Phänomen, das er als „kosmischen Nihilismus“ des modernen Existentialismus bezeichnete: einer zu Weltangst, Resignation und amoralischer Weltflucht neigenden Überzeugung von der „Geworfenheit“ des Menschen in eine unfreundliche, befremdliche Wirklichkeit.

Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs setzte sich Jonas mit den Ursachen des moralischen wie intellektuellen Scheiterns seines Lehrers Heidegger auseinander, die er in eben jenem ethischen Nihilismus erblickte, und entwarf eine „Philosophie des Organischen“. Sie sollte es dem mit Geist und Freiheit begabten Menschen ermöglichen, sich als integraler Teil einer ganz und gar nicht seelenlosen, sondern sich selbst bejahenden, wertvollen Natur zu begreifen, für deren Integrität und Fortexistenz der Mensch verantwortlich ist. Auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit individuellen Lebens – dem Altern und Sterben – begründet diese Haltung zudem eine für die medizinethischen Debatten der Gegenwart faszinierend natürliche, schlichte Bejahung der Sterblichkeit als eines Bestandteils organischer Existenz. Es ist kein Zufall, daß Jonas auf die philosophische Begründung der Ethik der Verantwortung, die auf das engste mit seiner Interpretation menschlichen Lebens zusammenhängt, in den achtziger Jahren eine ganze Reihe ethischer Konkretionen in so umstrittenen Bereichen wie der Humanbiologie und der Medizin folgen ließ und dort auch für die Gegenwart entscheidende ethische Leitlinien formulierte. Sie gehen von dem grundsätzlichen Recht des Fortschritts der Forschung aus, ziehen aber zugleich klare Grenzen, wobei der Maßstab stets in der Bewahrung der Würde der Person und der Integrität des Menschenbildes sowie in der Achtung vor den unantastbaren Grundphänomenen des Lebens – der Natürlichkeit von Geborenwerden und Sterben – besteht.

Als Philosoph sah sich Jonas in erster Linie der Vernunft verpflichtet und wollte eine universal plausible logisch-vernünftige Zukunftsethik entwickeln, die auf Strategien der Demut, des Verzichts, der Selbstbegrenzung und der Ehrfurcht vor dem Leben zielte. Dennoch reflektierte er in diesem Zusammenhang auch über die ethische Relevanz der jüdischen und christlichen Tradition der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit menschlichen Lebens und brachte seine Verantwortungsethik mit der Kategorie der „Heiligkeit des Lebens“ ins Gespräch. In allen Phasen seines Werkes taucht zudem ein geheimes Thema immer wieder auf, das Jonas in seinem Spätwerk als „metaphysische Vermutungen“ bezeichnete: ein unablässiges denkerisches Bemühen um die Frage nach Gott. Auf Grund der neuzeitlichen Infragestellung aller Metaphysik und der Erfahrung von Auschwitz, die aus seiner Sicht jegliche traditionelle Rede von Gott ins Undenkbare verbannte, erforderte insbesondere das Problem der Theodizee eine ganz neue, radikale Interpretation des Gottesbegriffs.

Philosophie und Religion wies Jonas zuletzt die Aufgabe zu, sich unbeirrt von allen Zweifeln an der Wirksamkeit ihrer ethischen Maximen in der eigendynamischen modernen Industriegesellschaft dem Verhängnis menschlicher Machtentfaltung zu stellen. Zu wissen, daß die Menschheit für alle Zukunft im Schatten drohender Folgen des eigenen technologischen Handelns wird leben müssen, ohne dabei dem Fatalismus zu verfallen – diese Herausforderung gehört zu dem bleibenden Vermächtnis des Philosophen. In seiner mit „Technik, Freiheit und Pflicht“ überschriebenen Rede, die er anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1987 hielt, brachte er seine Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des zerbrechlichen menschlichen Lebens und sein denkbar aktuelles Plädoyer für eine nüchterne Hoffnung und für ein verantwortliches Handeln in Formulierungen zur Sprache, die auch den Titel des vorliegenden Buches inspiriert haben: „Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unsern Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem Prinzip Hoffnung zusammen – nicht mehr die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.“

Der Aufbau dieses Bandes konzentriert den Blick auf drei wesentliche Aspekte, die den inneren Zusammenhang von Biographie, zeitgeschichtlichen Umständen und den differierenden Strängen des wissenschaftlichen Œuvres von Hans Jonas sichtbar machen. Der erste Teil befaßt sich zunächst mit Jonas’ Verwurzelung im deutsch-jüdischen Milieu sowie überhaupt im deutschen kulturellen wie geistesgeschichtlichen Kontext vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Er eröffnet sodann eine vergleichende Perspektive auf zwei ebenfalls aus dem deutschen Judentum stammende wichtige Weggefährten, die sich – auf dem Hintergrund der Schoah – zeitlebens mit ähnlichen religionsgeschichtlichen (Gershom Scholem) und ethischen (Günther Anders) Fragestellungen auseinandergesetzt haben, aber zum Teil zu durchaus unterschiedlichen Schlußfolgerungen gelangten. Der zweite Teil widmet sich der Bedeutung und Aktualität der religionsgeschichtlichen und -philosophischen Arbeiten von Hans Jonas. Aus der Perspektive eines in den vergangenen Jahrzehnten durch den Fortschritt der Forschung stark differenzierten Verständnisses der spätantiken Religionsgeschichte erfährt Jonas’ philosophische Gnosisdeutung Würdigung und Kritik; sie wird auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Heidegger analysiert und mit anderen zeitgenössischen politisch-philosophischen Interpretationen des Phänomens verglichen. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Abschnitts beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven Jonas’ Reflexionen über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“, die in den sechziger Jahren – zeitgleich mit der Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Gnosis und Existentialismus – einsetzten und mit den Arbeiten über die Gnosis auf vielfältige Weise verbunden sind: nicht allein durch das Interesse an Religion überhaupt, sondern vor allem auch durch den für den Philosophen charakteristischen antinihilistischen Impuls, durch das Aufgreifen einzelner gnostischer Motive und die Verwendung der Form des philosophischen Mythos, die ihm auf Grund seiner religionsgeschichtlichen Arbeiten so vertraut war. Jonas’ Nachdenken über einen Gott, der sich im Laufe der Evolution um der Freiheit seiner „Schöpfung“ willen seiner Allmacht entäußerte und dem Handeln der Menschen auslieferte, wird im Kontext jüdischer Tradition und jüdischer Religionsphilosophie nach Auschwitz kritisch beleuchtet und auf den Zusammenhang mit seiner philosophischen Ethik hin befragt. Im Zentrum des dritten Teils steht die Frage nach der Begründung, Bedeutung und zukunftsethischen Relevanz von Jonas’ Entwurf Das Prinzip Verantwortung. Auf dem Hintergrund wissenschaftsgeschichtlicher Überlegungen zu seiner „Philosophie des Organischen“, der Interpretation ihrer Funktion für die Begründung der Ethik der Verantwortung und eines Blicks auf Jonas’ Begriff der Freiheit wird dessen nüchterne, antiutopische und auf die Bewahrung der Zukunftschancen kommender Generationen zielende philosophische Ethik mit dem utopischen Entwurf Ernst Blochs und alternativen Entwürfen intergenerationeller Gerechtigkeit in der demokratischen Massengesellschaft konfrontiert. Am Schluß stehen Reflexionen über die orientierende Kraft des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten ökologischen, bioethischen und sozialethischen Debatten der Gegenwart.

Ziel dieses Bandes ist es, die so unterschiedlichen und doch unauflöslich miteinander verbundenen Facetten des Werkes von Hans Jonas zusammenzuschauen und auf diese Weise ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Religionsgeschichte, Theologie und Judaistik über die intellektuellen Herausforderungen anzuregen, die sein Denken auch für das einundzwanzigste Jahrhundert in sich birgt. Dabei vermitteln die ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Jonas’ Denken, die sich in den einzelnen Beiträgen widerspiegeln, nicht nur einen Eindruck von dessen Reichtum und Vielfalt. Sie lassen zugleich erkennen, daß auch in Zukunft nicht mit einer einlinigen Rezeption zu rechnen ist. Die in einzelnen Beiträgen aufscheinenden konträren Sichtweisen – ob nun mit Blick auf die religionsgeschichtliche Bewertung des Phänomens der Gnosis, die Bedeutung Heideggers für Jonas’ Philosophie, die Tragfähigkeit des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten gesellschaftlichen und ethischen Probleme der Gegenwart oder die Relevanz jüdischer Existenz im zwanzigsten Jahrhundert und jüdischer Traditionselemente für das Verständnis der ethischen wie religionsphilosophischen Reflexion des Philosophen – widerstreben dem Versuch, eine verbindliche Lesart zu etablieren. Sie machen das Buch vielmehr zur Grundlage einer offenen, fruchtbaren Diskussion über Jonas’ philosophischethisches Vermächtnis und die wichtigen Themen, mit denen er sich in seinen Arbeiten auseinandersetzte. Ungeachtet unterschiedlicher Perspektiven und Bewertungen gehen jedoch alle Beiträge von der Prämisse aus, daß Jonas’ Thesen, Anregungen und Provokationen von solch drängender Aktualität sind, daß es sich lohnt, sie nicht nur im inneren Kreis der Fachwissenschaft zu diskutieren, sondern einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen und ihnen zu weiterer Wirksamkeit zu verhelfen. Wenn es diesem Buch gelänge, erneut auf Hans Jonas aufmerksam zu machen, zur Lektüre seines Werkes anzuregen und Interesse für die damit angesprochenen historischen, gesellschaftspolitischen und ethischen Diskurse zu wecken, wäre jedenfalls ein wichtiger Teil seiner Zielsetzung erfüllt.

Die Entstehung des Bandes wäre undenkbar gewesen ohne die spontane Zusage der darin versammelten Autorinnen und Autoren, in ungewöhnlich kurzer Zeit vielfach neue, originelle Beiträge zu verfassen und in diesem Kontext zur Diskussion zu stellen. Ihnen ist daher in erster Linie herzlich zu danken. Dank gilt in nicht geringerem Maße Axel Rütters und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Philo Verlags, die sich ebenso spontan wie entschlossen des Projekts angenommen und für sein rechtzeitiges Erscheinen eingesetzt haben. Dank gebührt nicht zuletzt Stephan Lahrem für sein engagiertes, zuverlässiges und professionelles Lektorat, das die Zusammenarbeit an diesem Buch zu einem echten Vergnügen gemacht hat.

Für die Herausgeber

Christian Wiese

I. Der Philosoph im zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext

Christian Wiese

Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas

1903 in Mönchengladbach im Milieu des liberalen jüdischen Bürgertums geboren, gehörte Hans Jonas zur Generation jener jungen „postassimilatorischen“ Juden, die in der Zeit kurz vor oder nach dem Ersten Weltkrieg trotz selbstverständlicher sozialer und kultureller Integration in Deutschland neu mit ihrer jüdischen Identität konfrontiert wurden und aus dem Empfinden der bleibenden Differenz zur nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft heraus so etwas wie eine religiös-kulturelle oder nationale „jüdische Renaissance“ verkörperten.1 Er wuchs in einem Umfeld auf, in dem das Jüdische weniger in der Erfahrung alltäglicher religiöser Praxis als vielmehr in dem Willen zur Bewahrung des Judentums und in einem kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck kam. Als Jugendlicher wurde er Zeuge der patriotischen Begeisterung der jüdischen Gemeinschaft zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die eng mit der Hoffnung verbunden war, der Beweis der Zugehörigkeit zur „Schicksalsgemeinschaft“ des deutschen Volkes werde zur endgültigen Anerkennung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden beitragen. Wenig später erlebte er jedoch die tiefe Desillusionierung, die mit der antisemitisch motivierten „Judenzählung“ 1916 und der präzedenzlosen Welle antijüdischer Verleumdung und Gewalt im Übergang vom wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik einherging, und wandte sich daher schon früh zionistischen Überzeugungen zu. Die von heftigen ideologischen Streitigkeiten begleitete Abgrenzung vom Vater, dem Vorsitzenden des örtlichen Zweiges des „assimilatorischen“ Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), in dem antizionistische Polemik ebenso selbstverständlich war wie die „Abwehrarbeit“ gegen den Antisemitismus, mag dabei eine gewisse Rolle gespielt haben.2 Prägend für das politische Selbstverständnis des jungen Hans Jonas war jedoch vor allem das frühzeitig ausgeprägte „Bewußtsein eines Außenseitertums“, die Erfahrung, trotz aller Integration eine stets von judenfeindlicher Entlarvung bedrohte „Sonderexistenz“ zu führen: „Jede Spur von Antisemitismus“, so stellte er rückblickend fest, „bestärkte mich darin, daß wir Fremde sind.“3 Aus dieser Zeit jugendlicher Identifikation mit nationaljüdischen Ideen rührte das tiefverwurzelte Empfinden für die Gefährdung der Würde der jüdischen Bürger her, das Jonas’ politische Wahrnehmung schärfte. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Juden vertraute er nicht darauf, daß es sich bei dem zu Beginn der Weimarer Republik aufbrandenden Judenhaß um eine vorübergehende Erscheinung handelte, sondern teilte die Auffassung Theodor Herzls oder Leon Pinskers, derzufolge der Antisemitismus nur durch „Selbstemanzipation“, die stolze Bejahung jüdischer Identität, und letztlich durch die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina überwunden werden könne. Als Schüler hegte Jonas in dieser ideologischen Aufbruchszeit „dreams of glory“, wie er später nicht ohne Selbstironie bekannte – Heldenträume, die ihm eine herausragende Rolle bei der Befreiung der Juden aus dem immer stärker von rechtsradikalen Bewegungen bedrohten Deutschland einräumten:

„In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland Verbände wie der Stahlhelm und die Nationalsozialisten aufkamen (die man zu Beginn noch nicht so sehr ernst nahm), aber auch die aggressiv antisemitischen sogenannten Freikorps, da habe ich mir schon gedacht, daß wir Juden in Deutschland direkt physischen Attacken ausgesetzt sein würden. Ich habe mir dann vorgestellt, wie wir uns, im Schießen ausgebildet und mit Waffen versehen, in unseren Häusern verschanzen und dem bewaffneten Angriff dieser Judenfeinde Widerstand leisten würden. Das war ein Traum, aber jedenfalls leistete man Widerstand: ‚Nur nicht einfach wehrlos sein!’ Gleichzeitig ging es darum, sich auf diese Weise Achtung zu erringen. Als sich dann mein Zionismus entwickelte, war mir sofort klar, daß diese Strategie bestenfalls eine vorübergehende Sache sei und daß es in Wirklichkeit darauf ankam, nach Palästina auszuwandern. Ich stellte mir vor – und das war mein letzter dream of glory, denn dann wurde ich genügend Realist, um auf solche Träume zu verzichten –, daß ich mich an der Spitze einer bewaffneten jüdischen Armee, die sich in den verschiedenen Gegenden der Galut gebildet hatte, begleitet von Frauen und Kindern, durch ein feindliches Europa auf dem Landweg über den Bosporus durch Kleinasien bis nach Palästina durchschlagen würde. Ich sah mich in diesem Traum als Heerführer dieses Restes der jüdischen Verzweifelten, die sich nach schrecklichen Verfolgungen selbst retteten und nun im Land ihrer Väter ankamen, und ich war einigermaßen erstaunt, als ich Jahre später las, daß das auch der Jugendtraum von Ferdinand Lassalle war! Genau derselbe, daß er als der Führer eines bewaffneten jüdischen Zuges Palästina für einen jüdischen Staat erobern würde.4 Ebenso wie ich erfreulich erstaunt war, als ich viel später, nämlich erst vor wenigen Jahren, las, daß der Jugendheld von Sigmund Freud Hannibal war,5 und zwar aus demselben Grund, aus dem Hannibal in meiner Schulzeit auch mein großer Geschichtsheld war – der große semitische Feldherr, der es den ‚Ariern’ aufs Dach gegeben hatte, der gezeigt hatte, daß man mit den ‚Semiten’ nicht einfach so umspringen kann.“6

In die Zeit seiner Hinwendung zum Zionismus und der Aktivitäten in der jüdischen Jugendbewegung, in der „der Geist Martin Bubers mächtig wehte“,7 begann sich Jonas ausgiebig mit der jüdischen Tradition zu befassen. Was seine akademische Ausbildung betrifft, so gewann allerdings sein Interesse an der Philosophie die Oberhand über seine judaistisch-theologischen Neigungen. 1921 studierte er zunächst in Freiburg beim berühmten Phänomenologen Edmund Husserl, der – als konvertierter Jude und nationaldeutscher Professor – Jonas’ zionistischen Aktivitäten mit äußerster Skepsis begegnete,8 und beim jungen Privatdozenten Martin Heidegger. Wenig später ging Jonas nach Berlin, um sich neben der Philosophie und Religionsgeschichte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auch dem Studium der jüdischen Geschichte und Tradition zu widmen. In dieser Zeit kam er intensiver mit der zionistischen Studentenbewegung in Berührung und dachte – tief beeindruckt von Martin Bubers Diagnose der Zwiespältigkeit jüdischer Existenz in der Diaspora und seinem Plädoyer für die Bewußtwerdung der geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes – verstärkt darüber nach, sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.

Politische Stellungnahmen zur zionistischen Ideologie und Praxis aus Jonas’ Feder liegen aus dieser Zeit nicht vor, doch sein Aufsatz über „Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten“, der 1922 in der Zeitschrift Der Jüdische Student erschien, gestattet zumindest einen Blick auf die politischen Implikationen seiner zionistisch inspirierten Lektüre der Bibel. Hinter seiner religionsgeschichtlichen Analyse der Entwicklung des prophetischen Motivs des Exils als Strafe für die Versündigung des Volkes Israel und der nachexilischen Hoffnung auf eine Rückkehr ins Land der Verheißung scheint unverkennbar das Leiden des modernen Zionisten an der „Nacht der Galut“ durch. Mit „einem seltsamen Gefühl“ las Jonas „jene düsteren Verkündigungen eines in der Geschichte einzig dastehenden Strafaktes der beleidigten Gottheit gegen ihr abtrünniges Volk – der Entwurzelung aus der Heimaterde unter die Völker. Erkennen wir doch in diesen prophetischen Drohungen zutiefst die beispiellose Tragik unseres eigenen Völkerdaseins wieder, damals erschaut in visionärer Zukunftsschau und gefordert von dem Glauben an die in der Geschichte sich auswirkende sittliche Weltordnung, heute seit mehr als zwei Jahrtausenden Wirklichkeit und dauernde Gegenwart.“9 Zwar betonte Jonas, wie sehr das kollektive Gedächtnis des jüdischen Volkes davon bestimmt sei, daß das Wohnen im gelobten Land ein Geschenk des Ewigen und keine historische Selbstverständlichkeit sei. Er wandte sich aber zugleich eindeutig gegen die seit dem neunzehnten Jahrhundert typische jüdischliberale Verabschiedung der religiösen Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion und stellte der „moderne[n] liberal-jüdische[n] Missionsidee“, derzufolge gerade das Exil dem Judentum die Möglichkeit einer universal wirksamen Verbreitung des prophetischen „ethischen Monotheismus“ eröffnet habe, die Überzeugung der Propheten von der zukünftigen Wiederherstellung des jüdischen Volkes entgegen: „So sehr sie [die Juden] sich auch mit ihrem Gott identifizierten, so war doch die Vorstellung, daß ihr Volk auf ewig als Zerrbild der Nationen zwischen Leben und Sterben hangen sollte, für sie schlechthin unerträglich.“10 Ausdrücklich spielte er nicht nur auf die von Zionisten nicht selten aufgenommene Ahasver-Metaphorik an, um das Exil im Gegensatz zur liberalen Interpretation als Ort uneigentlicher, „ungesunder“ jüdischer Existenz zu beschreiben, sondern setzte die prophetischen Visionen vom Ende des Exils auch in Beziehung zu Theodor Herzls Programm der Schaffung eines „Judenstaates“ und postulierte damit die Notwendigkeit, in der gegenwärtigen Situation der Steigerung des europäischen Antisemitismus die Verwirklichung der religiösen Zionshoffnung in die eigenen Hände zu nehmen.11

Nachdem Jonas sein Studium für kurze Zeit unterbrochen hatte, um im Rahmen der Hachschara-Organisation, die jungen Zionisten eine landwirtschaftliche Ausbildung zur Vorbereitung auf die Einwanderung nach Palästina vermittelte, in Wolfenbüttel in einem bäuerlichen Betrieb zu arbeiten, entfaltete sich sein weiterer intellektueller Werdegang scheinbar unabhängig von seinen zionistischen Ambitionen in der fruchtbaren Atmosphäre der Marburger Universität. Hier begegnete er Hannah Arendt und einem Kreis jüdischer Studierender, der ihm intellektuell anregend, aber politisch auf Grund der dort herrschenden apolitischen Begeisterung für Heideggers Philosophie und der Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Krisen der Weimarer Republik äußerst zwiespältig erschien. Dabei interessierte sich Jonas selbst auch nicht für die politische Gestaltung der deutschen Gesellschaft, sondern konzentrierte sich angesichts des Ende der zwanziger Jahre stetig wachsenden Antisemitismus darauf, „daß die jüdische Galut-Existenz – menschlich, psychologisch und politisch – auf die Dauer unhaltbar war und mit Hilfe der zionistischen Lösung überwunden werden mußte.“12 1933 gehörte Jonas folgerichtig zu jenen, die unmittelbar nach Hitlers „Machtergreifung“ das Ende des deutschen Judentums gekommen sahen und daraus die Konsequenz der Emigration zogen. Später hat er diese Überzeugung und die Neigung der deutschen Zionisten, bereits die ersten Entrechtungsmaßnahmen als unwiderrufliche Aufhebung der Integration zu deuten, in einem heftigen Streit mit Hannah Arendt verteidigt.13 Als 1934 Jonas’ von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann inspiriertes frühes Meisterwerk Gnosis und spätantiker Geist erschien, hatte er Nazi-Deutschland unter dem Eindruck des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 längst verlassen, da er zu der Auffassung gelangt war, er könne in einem Land, in dem Juden ihrer Bürgerund Menschenrechte beraubt würden, nicht bleiben, ohne seine Würde zu verlieren. Nachdem er zunächst nach London gezogen war, gelangte er 1935 nach Jerusalem, wo er in die Welt der deutsch-jüdischen Emigranten und der Hebräischen Universität eintauchte. Die Gefühle, die ihn bei seinem Fortgang aus Deutschland erfüllten und seine Entscheidungen in den kommenden Jahren bestimmen sollten, sind in einer Passage seiner Erinnerungen eindrucksvoll beschrieben:

„An den Tag, als ich Deutschland verließ, erinnere ich mich genau. Es war ein wunderschöner Spätsommertag Ende August, und meine Eltern und ich gingen in unserem Garten auf und ab […]. Bis dahin war keine Träne über alle Geschehnisse vergossen worden, auch nicht über den Beschluß der Auswanderung, aber als es dann soweit war und die letzte halbe Stunde, die letzten zehn Minuten anbrachen, da fingen wir schrecklich an zu weinen. Und ich tat einen heimlichen Schwur, ein Gelöbnis: Nie wiederzukehren, es sei denn als Soldat einer erobernden Armee. Ich habe bereits erwähnt, daß meiner Phantasie ein gewisser militaristischer Zug zu eigen ist, und ich meinte, Juden könnten, gerade weil sie als Weichlinge, Feiglinge und Schwächlinge galten, Ehrenbeleidigungen überhaupt nur mit Blut abwaschen. Und hier – ganz abgesehen von der Bedrohung unserer ökonomischen Existenz, die der Judenboykott ja klar signalisierte, und von der drohenden Ghettoisierung, auf die die Ereignisse hindeuteten – erfaßte mich das Grundgefühl, daß man meine Ehre beleidigt hatte, daß man durch die Absprechung unserer Bürgerrechte und die anderen rechtlichen Schikanen, die wir Juden nun mehr und mehr von Staats wegen erfuhren, unsere Ehre als Menschen verletzte. Ich hatte instinktiv das Gefühl, das könne nur mit der Waffe in der Hand wieder ausgeglichen werden.“14

Ob Jonas’ jugendliche „dreams of glory“, die entschlossene Emigration 1933 oder das Bewußtsein eines zwangsläufig bevorstehenden Krieges – stets stand dahinter ein empfindsames Bewußtsein der Würde, die er sich als Jude auf keinen Fall nehmen lassen wollte. Diese von Stolz auf sein Judesein und von tiefer Verletzung durch den Antisemitismus bestimmte Haltung und die Begegnung mit den zionistischen Pionieren in Palästina, deren Leistungen man, wie er rückschauend schrieb, „dieser ganzen schmachvollen Judenverleumdung, an die man vom europäischen Antisemitismus gewöhnt war und die ihren Höhepunkt in der Untermenschentheorie der Nazis fand, getrost entgegenstellen konnte“,15 sollten mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens existentiell prägen. Aus dem Privatgelehrten, der sich darauf eingestellt hatte, in Deutschland seine religionsgeschichtlichen Studien zur Gnosis fortzusetzen, wurde ein homo politicus, der weit über das bei vielen anderen Zionisten erkennbare persönliche Engagement hinaus für die Sache Palästinas und für die Rettung der Juden Europas aus der Hand der Nazis eintrat und dafür seine akademischen Ambitionen aufs Spiel setzte, und ein Philosoph, der in Auseinandersetzung mit Krieg, Tod und Vernichtung ganz neu über das Leben nachzudenken begann. Wie sehr Jonas bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vom Ende des deutschen Judentums überzeugt war und wie sehr ihn die Verfolgungen in Nazi-Deutschland erschütterten, zeigt ein Radiovortrag, den er 1938 in Jerusalem im Gedenken an seinen soeben verstorbenen Lehrer Edmund Husserl hielt. Er begann mit folgenden charakteristischen Worten:

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