Читать книгу: «MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez»
Ulrich Tadday (Hrsg.)
MUSIK-KONZEPTE Sonderband XI/2021
Josquin des Prez
MUSIK-KONZEPTE
Die Reihe über Komponisten
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Sonderband
Josquin des Prez
Herausgegeben von Ulrich Tadday
November 2021
Wissenschaftlicher Beirat:
Ludger Engels (Berlin, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
Print ISBN 978-3-96707-397-3
E-ISBN 978-3-96707-399-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: Filippo Mazzola, Bildnis eines Musikers, akg-images/Erich Lessing und München, Bayerische Staatsbibliothek, 4 Mus.pr. 194#Beibd.9.
Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Vorwort
VOLKER REINHARDT
Josquin des Prez in Italien Macht, Hof und Kultur in Mailand, Rom und Ferrara
PHILINE HELAS Das Porträt des Komponisten und Musiktheoretikers Ein neues Bildthema in Italien im 15. Jahrhundert
LAURENZ LÜTTEKEN Musarum decus? Josquins Wirklichkeiten und die Wirklichkeit Josquins
CHRISTIANE WIESENFELDT Zwischen Ordo und Varietas Strategien des Wiedererzählens in Josquins Messenschaffen
KLAUS PIETSCHMANN Sublimierte Sinnlichkeit Josquins Messen in liturgie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive am Beispiel der Missa Gaudeamus
DANIEL TIEMEYER Josquins marianische Kompositionen im Kontext zeitgenössischer Frömmigkeit
STEFAN MENZEL Josquins Motetten im lutherischen Gottesdienst
THOMAS SCHMIDT Imitationstechnik oder Textbehandlung? Zwei komplementäre Kompositionsprinzipien in den Motetten Josquins
MICHAEL MEYER Werkindividualität, Kanon und Gebet Überlegungen zu Josquins Ostinato-Tenormotetten
FELIX DIERGARTEN Wundersam schön Versuch einer Ehrenrettung von Ecce tu pulchra es
ESMA CERKOVNIK »Poenitentia«, »devotio« und »conversio« Über Josquins Bußpsalmmotetten
NICOLE SCHWINDT »Josquin des Prez, ne faictes plus chanson« Josquin und der Imperativ der Kantilene
GUIDO HEIDLOFF HERZIG Ein Blick in Josquins Komponierstube Sechsstimmige Satzkonzepte in der Chanson Se congié prens
MICHAEL CHIZZALI Aufer a nobis domine, eine neu aufgefundene Kontrafaktur von Josquins Chanson N’esse pas ung grant desplaisir Überlegungen zum Spannungsfeld »humanistischer« Textunterlegung
GESA ZUR NIEDEN Der Weg ins Unbekannte Ernst Blochs Josquin-Rezeption im Spannungsfeld von Geschichtsphilosophie der Innerlichkeit und Musikgeschichte
LUDWIG FINSCHER (†) Von Josquin zu Willaert – ein Paradigmenwechsel?
Abstracts
Bibliografische Hinweise
Autorinnen und Autoren
Vorwort
»Das Buch, das die Zeugnisse für Josquins Ruhm bei den Zeitgenossen und Nachruhm bis ins 17. Jahrhundert systematisch gesammelt und gedeutet hätte, ist«, so Ludwig Finscher, »noch nicht geschrieben, aber die Umrisse des Bildes sind deutlich genug. Josquin war der erste Komponist, der schon die Zeitgenossen als Person interessierte, und er galt spätestens seit den ersten Jahren des 16. Jh. unangefochten als der bedeutendste seiner Zeit«.1 So wenig die Geschichtsmächtigkeit Josquin des Prez’, der am 27. August 1521 in Condé-sur-l’Escaut starb, in Abrede gestellt werden kann, so wenig scheint die Frage, woher genau denn die Geschichtsmächtigkeit des Komponisten rührt, bislang beantwortet worden zu sein. Dafür dürfen an dieser Stelle zwei Gründe angeführt werden: Der erste Grund ist ein ästhetischer, der in der kompositorischen Güte und Auslegungsfähigkeit der Werke Josquins liegt. Der zweite Grund ist ein historiografischer, der in der Selbstbezüglichkeit des Diskurses über Josquin liegt. Letzterer hat im Laufe der Jahrhunderte dazu geführt, dass der überlieferte Spruch Martin Luthers, Josquin sei »der noten meister / die habens müssen machen wie er wolt / die andern Sangmeister müssens machen, wie es die Noten haben wöllen«,2 zwar nirgendwo fehlen darf, wenn von Josquin die Rede ist – auch in diesem Vorwort nicht –, dass die »Noten« selbst jedoch im emphatischen Sinne ihrer zeichenhaften Geschichtsmächtigkeit, weit über die Epoche der Renaissance hinausweisend zunehmend aus dem Blick geraten sind.
Damit soll nicht gesagt sein, dass es an Spezialforschungen zu Josquin fehle, das Gegenteil ist wohl eher Fall. Der vorliegende Sonderband verfolgt auch deswegen ein anderes, generelles Interesse, nämlich das Besondere der Musik Josquins mit dem Allgemeinen der Geschichte dialektisch zu verschränken. Deshalb hebt er mit drei einleitenden Aufsätzen zur Geschichte, Kunst- und Musikgeschichte der Josquin-Zeit an, denen Aufsätze zu den Messen, Motetten und Chansons folgen. Die vorgenannten Gattungen werden insofern heuristisch verstanden, als sie nicht gegeneinander abgegrenzt, sondern durch übergreifende Topoi, die zum Beispiel der Frömmigkeits- und Religionsgeschichte entstammen, miteinander verbunden und in dem Bestreben, einerseits ihre Eigenarten zu erkennen, andererseits zugleich entgrenzt werden. In summa geben die Aufsätze ein sehr eindrucksvolles, wenn auch längst nicht vollständiges Bild der deutschsprachigen Josquin-Forschung unserer Zeit, die sie spiegeln.
Den Beschluss bildet ein richtungsweisender Aufsatz Ludwig Finschers (1930–2020),3 dessen Andenken dieser Band gewidmet ist.
Allen beteiligten Autoren, nicht zuletzt Laurenz Lütteken und Klaus Pietschmann, danke ich sehr, dass dieser Sonderband zum 500. Todesjahr von Josquin des Prez entstehen konnte.
Ulrich Tadday
1 Ludwig Finscher, Art. »Josquin des Prez, Ruhm und Nachruhm«, in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel – Stuttgart – New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2003, online veröffentlicht 2016, unter: https://www.mgg-online.com/mgg/stable/46144. — 2 Zit. nach Finscher, ebd. — 3 Ludwig Finscher, »Von Josquin zu Willaert – ein Paradigmenwechsel?«, zuerst erschienen in: Musik/Revolution. Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Bd. 1, Hamburg 1996, S. 145–173. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Renate Finscher, Wolfenbüttel, sowie Rolf von Bockel/von Bockel Verlag, Neumünster.
VOLKER REINHARDT
Josquin des Prez in Italien
Macht, Hof und Kultur in Mailand, Rom und Ferrara
Die Gesetze der Klientel
Die Angaben und Daten zu Josquin des Prez’ Aufenthalten in Italien sind lückenhaft, nicht immer eindeutig und teilweise umstritten.1 Einige Fixpunkte sind gleichwohl durch verlässliche Dokumente gesichert. Auf diese Weise lässt sich trotz aller Lücken und Unsicherheiten aus der Sicht des Historikers zweierlei nachzeichnen: zum einen ein elementares Geflecht aus Patronage und Anstellung, durch das der große Musiker in der Gesellschaft und zumindest partiell auch im politischen Gefüge der Zeit platziert und positioniert ist und durch das seine Relevanz für Selbstdarstellung und Mächtige der Zeit hervortritt, und zum anderen ein Zeithintergrund aus Protagonisten und historischen Ereignissen, vor den dieses Wirken zu stellen ist. Wie des Prez beides wahrnahm und bewertete, wie er darauf reagierte und ob bzw. in welcher Weise er diese Eindrücke als Zeitzeuge in seinem Werk verarbeitete, muss hingegen aus dieser Perspektive reine Spekulation bleiben und kann allenfalls der Musikologie als Deutungsaufgabe überantwortet werden.
In der Forschung unstrittig ist,2 dass Josquin des Prez bei seinem ersten Erscheinen in Italien in den Jahren 1484 und 1485 als Klient des Kardinals Ascanio Maria Sforza auftritt. Wie eng und dauerhaft dieses Verhältnis in den nachfolgenden anderthalb Jahrzehnten danach blieb, darüber gehen die Meinungen aufgrund lückenhafter Überlieferung weit auseinander. Nach Auswertung aller bis heute bekannten Dokumente wird hier davon ausgegangen, dass die damit geschlossene Beziehung zum wechselseitigen Nutzen bis zur Katastrophe des Hauses Sforza in den Jahren 1499/1500 funktional intakt blieb, auch während des Prez’ Tätigkeit an der päpstlichen Kapelle.
Solche Protektion hatte ihren Preis: Der Gefolgsmann (creatura) hatte seinem Protektor (padrone) treue Dienste und Unterstützung in allen Lebenslagen zu leisten und v. a. dessen Rang und Ehre zu vermehren. Alles spricht dafür, dass des Prez diese Aufgaben getreulich wahrgenommen hat. Dass er danach, wie zu vermuten, zum Sieger, König Ludwig XII., überging, der Ascanios Marias Bruder, Herzog Ludovico »il Moro«, stürzte und gefangen nahm, ist nicht als Verstoß gegen das komplexe, schriftlich nie verbindlich fixierte Regelwerk klientelärer Beziehungen zu betrachten – mit dem Untergang des Patrons, der keine Förderung mehr zu liefern vermochte, erloschen auch die Pflichten der »Kreatur«. Des Prez’ Mailänder »Hofgenosse« Leonardo da Vinci hielt es ähnlich; auch er arbeitete später für den Sieger und sandte dem gestürzten Herrscher sogar noch einen hämischen Nachruf hinterher.3
Dass des Prez 1484 auf Kardinal Ascanio Maria Sforza4 setzte, zeugte von intimer Kenntnis der italienischen Politiklandschaft, gepaart mit Risikobereitschaft. Diesem war erst kurz zuvor, im März desselben Jahres, der Purpur verliehen worden, und zwar, wie fast immer in der Regierungszeit Papst Sixtus’ IV. della Rovere (1471–1484), aus rein politischen Opportunitäts-Gründen.5 Der Pontifex stammte aus bescheidenen Verhältnissen einer ligurischen Provinzstadt und hatte es im Franziskanerorden bis zu dessen General gebracht, neben dem Eintritt in die Klientel eines einflussreichen padrone nahezu der einzig beschreitbare Weg nach oben in einer Zeit, in der sich die Elitenverhältnisse dauerhaft verfestigten. Seine für die politischen Beobachter der Zeit überraschende Wahl zum Papst verdankte der kuriale Außenseiter nach neuesten Forschungen6 einem Interessenverbund, der sich aus den versprengten Anhängern des 1477 auf dem Schlachtfeld von Nancy von den Schweizern getöteten Herzogs von Burgund, der Herrscherfamilie Gonzaga in Mantua und v. a. der in Mailand regierenden Sforza-Dynastie zusammensetzte. Dieser schuldete er nach dem an der Kurie tief verinnerlichten pietas-Gebot lebenslangen Dank, den er mit der Erhebung Ascanio Maria Sforzas kurz vor seinem Tod zum letzten Mal abstattete.
Mit dem Anschluss an diesen durfte Josquin des Prez also auf gewichtige Vorteile hoffen. Für ihn als Kleriker dürfte die Nähe zur Kirchenspitze und damit zur Bestätigung und Vergabe lukrativer Pfründen wichtig gewesen sein. Solche Benefizien wurden – sofern sie der Papst verteilen konnte – nach einer Reihe von Prinzipien vergeben: An erster Stelle standen Status, Rang, Gewicht und Einfluss des Fürsprechers, also des Patrons; danach kam es auf die Schnelligkeit der Eingabe (Supplik) und das im entscheidenden Moment richtige Wort an die Adresse des Papstes an; die Eignung durch sittlichen Lebenswandel und berufliche Qualifikation trat demgegenüber weit zurück. Nach all diesen Kriterien war Ascanio Maria Sforza erste Wahl, zumindest solange, wie der Della Rovere-Papst regierte. Als dieser im August 1484 das Zeitliche segnete, änderte sich die Situation allerdings grundlegend. Im nachfolgenden Konklave standen sich zwei Parteien in einer unversöhnlichen Konfrontation gegenüber, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einem Dauerkonflikt erweitern sollte, der des Prez’ Aufenthalt in Italien wesentlich mitbestimmte.7
Da Ascanio Maria Sforza von Sixtus IV. den roten Hut erhalten hatte, trat er nach dem vorherrschenden Verständnis und Regelkodex der Kurie in dessen Gefolgschaft ein und schuldete ihm lebenslange Ergebenheit. Im August 1484 hieß das konkret, den neuen Chef der Familie Della Rovere, Kardinal Giuliano, bei seinen Manövern für einen genehmen Kandidaten bedingungslos zu unterstützen. Doch der frischgebackene Kirchenfürst tat genau das Gegenteil: Er verbündete sich mit Giulianos Todfeind Rodrigo Borgia, dem Kardinalnepoten Papst Calixtus’ III. (1455–1458), der selbst mit allen Mitteln nach der Tiara strebte. In den Augen der etablierten Eliten Italiens war diese Parteinahme Sforzas ein unverzeihlicher Bruch mit Normen, die allein das Machtgleichgewicht Italiens und den Schutz vor auswärtiger Intervention garantierten. Dadurch, dass er sich über dieses Gebot hinwegsetzte, machte des Prez’ Patron zweierlei deutlich: dass er die Spielregeln der übrigen Mächtigen nicht akzeptierte und, ungewollt, dass seine Familie nicht zu dieser seit Generationen herrschenden Klasse gehörte.
In der Tat repräsentierte die Sforza-Sippe8 einen Typus der Herrschenden, den die von Jacob Burckhardt so eingängig verbreiteten Legenden sehr zu Unrecht zum Inbegriff der italienischen Renaissance schlechthin erhoben: Ihre Angehörigen waren krasse Parvenüs, Glücksritter, die durch die kriegerischen Wechselfälle der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nach oben gespült worden waren. Ihr Statusbegründer Francesco Sforza (1401–1466) war Söldnerführer in der zweiten Generation, seine Vorfahren vom Großvater abwärts waren obskure Landleute in der Romagna. An die Spitze des Herzogtums Mailand – den Herzogtitel erhielt die Familie erst nach einem dynastischen Tauschgeschäft mit dem römischen König Maximilian im Jahr 1494 – war Francesco Sforza nach dem Aussterben der Visconti im Mannesstamm und langwierigen Verhandlungen mit dem Mailänder Adel aufgestiegen, in denen er diesem zahlreiche Zugeständnisse machte und Privilegien erteilte. Als homo novus an der Spitze einer der italienischen Hauptmächte, also an der Seite des Dogen von Venedig, der Medici in Florenz, des Papstes in Rom und des Königs von Aragon in Neapel und Sizilien, war Francesco Sforza dringend darauf angewiesen, sich das Image eines guten christlichen Herrschers zuzulegen, der seine Untertanen wie ein fürsorglicher Familienvater regierte. Mindestens ebenso dringend musste die ganze Familie ihre wenig prestigeträchtige Herkunft durch die Entfaltung von Kulturglanz überdecken und vergessen lassen – und hier kam, eine Generation später, Ascanio Maria Sforza und mit dessen Bestrebungen Josquin des Prez ins Spiel.
Francesco Sforza war sich in den anderthalb Jahrzehnten seiner Regierung der Fesselungen und Einschränkungen, die ihm der Pakt mit der lombardischen Geburtselite auferlegte, bewusst, regierte bewusst defensiv und verschaffte sich durch sein enges Bündnis mit den Medici in Florenz starken Rückhalt. Diese Zurückhaltung legte die nächste Generation zu ihrem Nachteil ab. Sein ältester Sohn und Nachfolger Galeazzo Maria wurde 1476 nach zehnjähriger betont autokratisch-selbstherrlicher Herrschaft Opfer einer Verschwörung mailändischer Adeliger.9 Für seinen siebenjährigen Sohn Gian Galeazzo führte dessen Onkel Ludovico, nach seinem dunklen Teint »il Moro« genannt, die Regierung, die er auch nach der Volljährigkeit seines Mündels, das er 1494 höchstwahrscheinlich vergiften ließ, nicht mehr abgab. Zum Nachteil der nicht-aristokratischen Abstammung kam jetzt der Makel der Illegitimität, eine brisante Mischung, die in den nachfolgenden Jahrzehnten das mühsam austarierte Machtgleichgewicht Italiens erst empfindlich stören und ab 1494 zerbrechen lassen sollte, v. a. durch die daraus resultierenden Spannungen mit dem König von Neapel, dessen Tochter mit dem Schattenherrscher Gian Galeazzo verheiratet war. Ludovico Sforza und sein auf dessen Macht eifersüchtiger jüngerer Bruder Ascanio Maria reagierten darauf mit einer dezidierten Hochrisiko-Politik und dem weiter forcierten Bemühen um eine glanzvolle Hofhaltung, die ihre Schwachstellen zu überdecken vermochte.
I Im Rom der Borgia
Dabei kam Kardinal Ascanio Maria und seinem Gefolge eine Schlüsselposition zu: Er sollte durch eindrucksvolles Auftreten an der Kurie die in Mailand und Umgebung zunehmend ausgehöhlte Machtstellung der Sforza stärken und nach außen glanzvoll repräsentieren. Das wurde durch die Wahl Innozenz’ VIII. im August 1484 schwieriger, aber nicht unmöglich. Obwohl sich der schwache neue Pontifex maximus vornehmlich an die Medici anschloss und mit deren Chef Lorenzo sogar ein Ehebündnis für seinen Sohn Franceschetto aushandelte, war er durchgehend auf gedeihliche Beziehungen zu allen größeren Mächten angewiesen. Für Kardinal Ascanio Maria Sforza schlug sich dieses Bemühen in der Erteilung einer Legation innerhalb des Kirchenstaats nieder, die diesem beträchtlichen Einfluss sicherte; zugleich war ihm Dispens von einem dauerhaften Aufenthalt in Rom erteilt worden, was ein regelmäßiges Pendeln zwischen Mailand und der Ewigen Stadt erlaubte; alles spricht dafür, das Josquin des Prez seinen Patron auf diesen Wegen begleitete. Dessen Rolle während des Pontifikats Innozenz’ VIII. lässt sich am besten als eine Position im Wartestand beschreiben. Der Papst war chronisch krank, sodass während seiner ganzen achtjährigen Regierungszeit stets mit einem Konklave zu rechnen war, für das die rivalisierenden Parteien ihre Ressourcen ordneten und mobilisierten. Dass des Prez ab 1489 als Mitglied der päpstlichen Kapelle erscheint, fügt sich nahtlos in dieses Bild – einem anderen Mächtigen renommierte Künstler zur Verfügung zu stellen, war ein politischer Akt, durch den man auf Wohlwollen und Gegenleistungen zählen durfte.
In den acht Jahren von 1484 bis 1492 spitzte sich allerdings auch die Feindschaft zwischen den Sforza und den Borgia auf der einen und den Della Rovere auf der anderen Seite weiter zu, eine Eskalation, der der schwache Pontifex ohnmächtig zusehen musste. Dabei schenkten sich beide Seiten nichts – sowohl Giuliano della Rovere als auch Ascanio Maria Sforza schreckten nach der glaubwürdigen Einschätzung von dessen Biografen10 nicht einmal vor Anschlägen auf das Leben ihres Todfeindes zurück. Da diese erfolglos blieben, musste das nächste Konklave eine Entscheidung herbeiführen, die nicht nur für die Parteiführer, sondern auch für deren Klientel, unter ihnen des Prez, folgenreich sein würde.
Als es Anfang August 1492 so weit war und 23 Kardinäle zur Kür des neuen Papstes zusammenkamen, schlug Ascanio Maria Sforzas große Stunde.11 Da er mit gerade einmal 37 Jahren und als Bruder eines der mächtigsten Herrscher Italiens selbst keine Aussichten auf die Tiara hatte, da seine Wahl das immer prekärere Mächtegleichgewicht auf der Halbinsel irreparabel zerstört hätte, betätigte er sich als Wahlhelfer Rodrigo Borgias, und zwar so umtriebig und energisch, dass ihm im Erfolgsfall eine herausragende Stellung, manche Beobachter schrieben sogar: die Position eines »Über-Papstes«sicher sein musste. Und dieser Erfolg trat ein: Sforza und Borgia bestachen einen Kardinal nach dem anderen mit der Aussicht auf reiche Pfründen und sicherten dem Letzteren, der nach seiner Wahl den Namen Alexander VI. annahm, so die nötige Zweidrittelmehrheit. Dabei gingen sie so brachial und ungeniert vor, dass sich die Kenntnis dieser Praktiken in Windeseile durch ganz Europa verbreitete, einschließlich der Tarife, zu denen sich die Kirchenfürsten korrumpieren ließen. Damit war der kirchenrechtlich verpönte Tatbestand der Simonie gegeben, der eine schwere Sünde bedeutete, die Wahl jedoch nicht ungültig machte. Ab August 1492 hatte somit ein Pontifex maximus den Stuhl Petri inne, dessen Ruf bei den kurialen Insidern und den meisten europäischen Intellektuellen schwer beschädigt war. Für fromme Naturen stellte sich von jetzt an immer dringender die Frage, ob man einem solchen Oberhaupt der Kirche ohne Schaden für das eigene Gewissen und Seelenheil überhaupt dienen durfte. In den nächsten Jahren beantwortete eine Minderheit der Kirchenfürsten, die sich um Kardinal Todeschini Piccolomini, den Neffen Pius’ II. (1458–1464) scharte, diese Frage abschlägig und zog sich in ihre Diözesen zurück. Wie der nach Ausweis seiner Kompositionen tiefgläubige Josquin diese von nun an in ganz Europa immer kontroverser diskutierte Frage für sich beantwortete, ist mangels Quellen nicht zu bekannt. Eine gewisse Antwort liegt darin beschlossen, dass er als Mitglied der päpstlichen Kapelle gut zwei Jahre lang unter Alexander VI. aktiv blieb. Welche Eindrücke er in dieser Zeit gewann und mehr noch: welche Schlüsse er aus dieser Zeitzeugenschaft zog, ist in Ermangelung von Dokumenten nicht zu ermitteln.
So muss es an dieser Stelle genügen, ein kurzes Panorama der historischen Entwicklung am Beginn des zweiten Borgia-Pontifikats zu zeichnen – mit der Vorbemerkung, dass der Name Borgia seinen unheimlichen, schließlich geradezu apokalyptischen Klang12 erst nach einigen Jahren und vollends in der zweiten Hälfte des elfjährigen Pontifikats gewann. Bei seinem Amtsantritt war einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass er als Kardinal und Vizekanzler der römischen Kirche, also als Stellvertreter von fünf Päpsten, eine Reihe von Kindern gezeugt und die vier prominentesten von diesen, Cesare, Lucrezia, Jofré und Juan, notariell als seine Sprösslinge anerkannt hatte. Das war für wertkonservative Theologen ein Zeugnis abgrundtiefer Unmoral, aber in den Augen jüngerer Kardinäle und breiter Kreise allenfalls eine lässliche Sünde. Darüber hinaus erwarb er sich in den mehr als dreieinhalb Jahrzehnten seines Kardinalats den Ruf eines gewieften und oft auch skrupellosen Diplomaten mit ausgezeichneter Kenntnis der europäischen Mächtelage und des kurialen Apparats. Die Prognosen zu seinem Herrschaftsantritt waren daher durchaus nicht eindeutig – die meisten Beobachter erwarteten einen theologisch und kirchenpolitisch konservativen Pontifikat nach dem Vorbild Calixtus’ III.: eine Betonung des päpstlichen Primats gegenüber den weltlichen Herrschern, Anstrengungen für einen neuen »Kreuzzug« und Stärkung der Inquisition, allerdings verbunden mit dem Bestreben, der Familie Borgia eine unabhängige fürstliche Stellung in Italien zu verschaffen. Was sich ab 1497 dann tatsächlich abspielte, sprengte den Vorstellungs-Horizont der Zeit völlig auf.
Dass des Prez eine Zeitlang im Rom der Borgia blieb, dürfte wiederum ebenso wie sein Ausscheiden im Jahr 1495 mit der Stellung zusammenhängen, die sein Patron Ascanio Maria Sforza zu Beginn des neuen Pontifikats einnahm. Diese Position war, wie vorhergesagt, so stark, dass sie den Handlungsspielraum des Borgia-Papstes sehr weitgehend einschränkte, ja diesen sogar in vieler Hinsicht zum Befehlsempfänger des Hauses Sforza herabdrückte.13 Dessen Politik zielte mehr denn je auf die Vernichtung der aragonesischen Dynastie in Neapel ab, was ohne die Intervention einer auswärtigen Großmacht kaum zu bewerkstelligen sein konnte. Diese Strategie verfolgten Ludovico Sforza, der den nominellen Herzog immer weiter zurückdrängte und völlig entmachtete, und sein Bruder Ascanio Maria ab dem August 1492 in konzertierter Aktion bzw. aus der Perspektive des neuen Papstes betrachtet mit einer erpresserischen Zangengriff-Strategie. Alexander VI. fürchtete nichts mehr als eine Intervention der Großmächte Spanien oder Frankreich, von der er Prozess und Absetzung befürchten musste. V. a. ein militärisches Eingreifen Frankreichs war das Menetekel, das die beiden Sforza stets aufs Neue an die römischen Mauern malten – und an die neapolitanischen: Der ab 1483 regierende König Karl VIII. von Frankreich erhob als Rechtsnachfolger des Hauses Anjou Ansprüche auf das Königreich Neapel. Sollte er sich zu einem Heereszug in Richtung Vesuv entschließen, würde er damit das Gleichgewichts-Gefüge Italiens endgültig aufbrechen.
Zwei Jahre lang spielten Ludovico und Ascanio Maria diese Karte in ihrem Machtpoker mit Alexander VI. stets aufs Neue aus, und zwar mit Erfolg. Der Papst musste zähneknirschend in eine Tripelallianz mit Mailand und Venedig eintreten, die gegen Neapel gerichtet war und ausdrücklich für einen Beitritt Frankreichs offengehalten wurde. Und in der Ewigen Stadt folgte eine Demütigung nach der anderen. Der Tiefpunkt war erreicht, als Lucrezia Borgia im Juni 1493 mit Giovanni Sforza, dem Herrn von Pesaro, aus einer Nebenlinie der Dynastie verheiratet wurde, obwohl ihr Vater weit höhere Pläne für seine Lieblingstochter hegte. Ascanio Maria Sforza war der wahre Herrscher Roms und der Papst sein Kaplan, so konnte man es an den Spottsäulen der Stadt in satirischen Gedichten nachlesen. Auch in Mailand stellte sich auswärtigen Beobachtern die Herrschaft der Sforza gefestigter denn je dar. Ludovico il Moro hatte sein seit Längerem angebahntes Tauschgeschäft mit dem römischen König Maximilian erfolgreich abgeschlossen: Der Habsburger heiratete Ludovicos Nichte Bianca Sforza und erhielt für diese nach aristokratischen Kriterien krasse Mesalliance die stolze Mitgift von 400.000 Dukaten; seine Gegenleistung bestand darin, Ludovico den Titel eines Herzogs von Mailand als Nachfolger seines Neffen Gian Galeazzo zu verleihen. So schien die Familie Sforza das Schicksal Italiens in der Hand zu halten. Des Prez durfte sich mehr denn je zur Wahl seines Patrons und Protektors gratulieren.
Doch mit der französischen Intervention zu drohen, war das eine, sie wahr werden zu lassen, das andere.14 Im Spätsommer 1494 hatten das Drängen Kardinal Giuliano della Roveres, der am französischen Hof im Exil lebte, und das Anstacheln Ludovico Sforzas schließlich Erfolg: Der französische König setzte sich mit dem für damalige Verhältnisse gewaltigen Heereszug von 40.000 Mann nach Italien in Bewegung. In Mailand traf er mit seinem Alliierten Ludovico zusammen, wo der Schattenherzog Gian Galeazzo just zum rechten Zeitpunkt, höchstwahrscheinlich durch Gift, starb, um seinem Onkel Ludovico den Weg zur feierlichen Krönung zum Herzog freizumachen. Im November lieferte ihm Piero de’ Medici in vorauseilendem Gehorsam Festungen am Nordrand des florentinischen Herrschaftsgebiets aus, was seinen Sturz und den Aufstieg des politisierenden Bußpredigers Girolamo Savonarola zu maßgeblichem Einfluss auf die jetzt aus der Taufe gehobene Republik zur Folge hatte, in der sich das Patriziat die Macht mit dem Mittelstand zu teilen hatte.
Am Ende des Umsturz-Jahres 1494 erreichte die französische Armee Rom, in das sie kampflos einziehen konnte, da Alexander VI. auf aussichtslosen bewaffneten Widerstand verzichtete. Damit war der Tiefpunkt seiner Macht und das Maximum an Sforza-Dominanz erreicht. Doch diese Verhältnisse kehrten sich rasch um. Die Entourage Karls VIII. riet diesem dringend davon ab, ein Verfahren zur Absetzung des Papstes zu initiieren. Stattdessen begnügte sich dieser mit einem Unterwerfungsvertrag, in dem der Pontifex maximus demütigende Zugeständnisse, zum Beispiel die Auslieferung Cesare Borgias als Geisel an den König, machen musste. Alle diese Klauseln waren kurz darauf nicht mehr das Papier wert, auf dem sie standen. Der französische Monarch zog nach Neapel weiter, das er gleichfalls ohne größeren militärischen Widerstand einnahm; auf dem Weg dorthin war ihm seine Geisel abhandengekommen, die Familie Borgia im Vatikan also wieder vollständig. Kurz darauf musste Karl VIII. sein neues Königreich am Vesuv wieder verlassen und wurde danach bis zum Sommer 1495 von einer nahezu gesamtitalienischen Koalition aus Italien zurückgedrängt.
Damit kehrten sich die Machtverhältnisse in Rom um. Von jetzt an saß Alexander VI. am längeren Hebel, und sein Vizekanzler Ascanio Sforza war persona non grata am Tiber. Die Logik des Patronageverhältnisses spricht dafür, dass Josquin des Prez 1495 die Ewige Stadt an der Seite seines jetzt aufs Höchste gefährdeten Protektors verließ, der ihm dort keinen Schutz und erst recht keine Förderung mehr zukommen lassen konnte. Ebenso logisch war es, mit diesem nach Mailand zurückzukehren, wo die Herrschaft der Sforza nach der Allianz mit dem Haus Habsburg weiterhin gefestigt zu sein schien. Es ist nochmals zu betonen, dass eine kausale Querverbindung zwischen den erregenden und folgenreichen Zeitereignissen und dem päpstlichen Musiker Josquin des Prez nicht sicher herzustellen ist. Wie er das Rom der frühen Borgia-Jahre wahrgenommen und darauf reagiert hat, bleibt Vermutung, ja Spekulation. Auch daraus, dass er in der Folgezeit trotz seines stetig gewachsenen Rufes nicht nach Rom zurückkehrte, lassen sich keine weiterreichenden Schlussfolgerungen ziehen. Denn ein solches comeback – wenn es denn überhaupt angestrebt wurde – war durch den Machtwechsel, der sich am 1. November 1503 in der Ewigen Stadt vollzog, ausgeschlossen. An diesem Tag erlangte mit Giuliano della Rovere der lebenslange Hauptfeind Ascanio Maria Sforzas für knapp zehn Jahre die Tiara; diese Gegnerschaft musste sich automatisch auf die Angehörigen von dessen Haushalt übertragen, sowenig ein Musiker wie des Prez auch mit der großen Politik zu schaffen hatte. Trotzdem war auch für ihn ein erneuter Aufenthalt am Tiber nicht ratsam – der neue Pontifex maximus ging mit greisenhaftem Furor daran, im gesamten Kirchenstaat und darüber hinaus alte Rechnungen zu begleichen, und scheute sich nicht, an der Spitze einer eigenen Armee zur Wiederherstellung seiner Ehre ins Feld zu ziehen.15