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Ulrich Tadday (Hrsg.)
MUSIK-KONZEPTE 190 7/2020
Giacomo Puccini
MUSIK-KONZEPTE
Die Reihe über Komponisten
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Heft 190
Giacomo Puccini
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Juli 2020
Wissenschaftlicher Beirat:
Ludger Engels (Berlin, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)
Birgit Lodes (Universität Wien)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
Print ISBN 978-3-86916-874-6
E-ISBN 978-3-86916-876-0
Umschlaggestaltung: Victor Gegiu
Umschlagabbildung: Giacomo Puccini (Lucca, 1858 – Brussels, 1924), Italian composer, at the piano. Torre del Lago, Museo Pucciniano. © 2020. DeAgostini Picture Library/Scala, Florence
Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Vorwort
RICHARD ERKENS
Verspätete Rehabilitierung Ein Zwischenstand zu neuen und neuesten Perspektiven der Puccini-Forschung
LAURENZ LÜTTEKEN »Il tono della campana« Zur Technik des nicht-linearen Erzählens bei Puccini
CLEMENS RISI »La Tosca in teatro« Puccini und die Kunst des Performativen
ANSELM GERHARD Sekunden und Terzen Giacomo Puccinis Gianni Schicchi als Extremfall motivischer Vereinheitlichung
PANJA MÜCKE Realistisch? Puccinis Spätwerk und die Erweiterung des Ausdrucksspektrums
ULRICH TADDAY »Geheimnis eines Welterfolges« Zu Richard Spechts Puccini
Abstracts
Bibliografische Hinweise
Zeittafel
Autorinnen und Autoren
Vorwort
Die Annahme, Giacomo Puccinis (1858–1924) Opern seien sehr bekannt und weil sie so bekannt sind, wäre auch ihr Gehalt erkannt, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Forschung ist gefordert – mehr denn je. Umgekehrt wäre es aber genauso falsch anzunehmen, bei Erforschung ihres Gehaltes die Opern Puccinis als bekannt vorauszusetzen.1 Die Autoren nähern sich dem Komponisten sowohl als einem unbekannten Bekannten als auch einem bekannten Unbekannten, dessen Spätwerk im Mittelpunkt des Bandes stehend aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird.
Im einleitenden Beitrag führt Richard Erkens in den Forschungsstand ein und eröffnet neue Perspektiven für eine künftige Puccini-Forschung, »die von werkimmanenten und komponistenzentrierten Fragestellungen hinführen zu einer Tiefenerschließung des historischen Zeitkontexts« und damit auch zum tieferen Verständnis der gesellschaftlichen Voraussetzungen, die nicht zuletzt den späten Werken Puccinis eingeschrieben sind. Laurenz Lütteken beginnt mit einer exemplarischen Betrachtung von Tosca, deren Realismus er einen »gebrochenen« nennt, weil Puccini die Handlung der Oper, in der sich wirklichkeitsnahe und fantastisch-fiktive Züge durchkreuzen, nicht linear verlaufen lässt. Einen weiteren Aspekt von Tosca greift im Anschluss Clemens Risi auf, indem er die Oper im Sinne einer Kunst des Performativen interpretiert: angefangen bei Puccinis eigenem Interesse für alle die Aufführung einer Oper betreffenden Bestandteile, gefolgt von den Tendenzen der Inszenierungen bis hin zu deren Diskursivierungen im Kontext des Performativen. Anselm Gerhard wendet sich dann der 1918 in New York City erstmals aufgeführten Komödie Gianni Schicchi als drittem Einakter der Operntrilogie Il trittico zu, um die motivische Arbeit Puccinis auch in übergreifender Hinsicht auf Werke anderer Komponisten genauer unter die Lupe zu nehmen. In welch differenzierter Weise der Realismus in den späten Werken Puccinis wirkt, lässt Panja Mücke in ihrer Analyse von Il tabarro, Gianni Schicchi und Turandot deutlich werden, womit sich der Kreis gewissermaßen schießt. Den Abschluss des Bandes bildet, wenn man so will, ein rezeptionsgeschichtlicher Ausflug in Form eines kurz kommentierten Wiederabdrucks des ersten Kapitels aus Richard Spechts Monografie Puccini: das Leben, der Mensch, das Werk von 1931, weil Specht mit literarischer Verve beschreibt, wie und vor allem warum der Realismus Puccinis zur Realität des deutschen Opernpublikums geworden ist.
Wie immer möchte ich allen Autoren für ihre Mitwirkung danken, vor allem aber Richard Erkens, der mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat.
Ulrich Tadday
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1986, S. 35.
RICHARD ERKENS
Verspätete Rehabilitierung
Ein Zwischenstand zu neuen und neuesten Perspektiven der Puccini-Forschung
Kontinuierliche Gegenwärtigkeit kann eine Crux bedeuten: Manche Dinge sind so vertraut, dass sie als selbstverständlich gelten. Man kennt sie, ein zur Routine gewordener Umgang ist längst gefunden, man schätzt sie bisweilen sogar ein wenig mehr als andere und verlässt sich auf sie, als wären es dauerhafte Garanten des Gewohnten. Mindestens für die Hälfte von Giacomo Puccinis zehn Werken für die Opernbühne dürfte dieses Phänomen einer vermeintlich selbstverständlichen Dauerpräsenz im Operngeschäft rund um den Globus zutreffen (von der fragmentierten Rezeption in massenmedialen und digitalen Kontexten ganz zu schweigen): Ein weltumspannendes Publikum kennt ihn, reagiert enthusiastisch auf seine Musik und Bühnendramatik, ja schätzt ihn bisweilen sogar ein wenig mehr als andere. Bei Puccini füllen sich die Reihen: Das wissen um Auslastungszahlen und Abendeinnahmen besorgte Operndirektoren und Programmplaner und vertrauen auf ›risikofreie‹ Titel wie La bohème, Tosca, Madama Butterfly, Gianni Schicchi oder Turandot. Sicherlich lassen sich bei näherer Betrachtung Konjunkturkurven einzelner Titel ausmachen: Puccini selbst bemühte sich etwa noch zu Lebzeiten, den sinkenden Produktionszahlen der Manon Lescaut entgegenzuwirken, während in jüngster Vergangenheit besonders La fanciulla del West eine in dieser Form noch nicht dagewesene Aufmerksamkeit erfährt. Doch ganz allgemein kann gelten: Puccinis Stellung als Opernkomponist beim ›breiten‹ Publikum und innerhalb verschiedenster Programmkontexte ist seit nunmehr über 100 Jahren unangefochten stabil; ein Nachlassen des Interesses an seiner Musik blieb bislang aus und scheint auch bis auf Weiteres nicht in Sicht. Puccini gehört seit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Kanon der Opernpraxis.
Puccini gehörte aber sehr lange Zeit gerade nicht zum Kreis jener Komponisten, mit denen sich besonders eine deutschsprachige Musikwissenschaft auseinandersetzen mochte. Dieses Phänomen von Ausblendung und Negierung der Würdigung seiner Werke wurde von Dieter Schickling zu Recht als »programmatische Nichtbeachtung« und »jahrzehntelange Geringschätzung«1 beschrieben. Das hat sich – wie zu zeigen sein wird – erst in den 1990er Jahren durch konsequent auf internationale Diskussion und Vernetzung setzende Forscher-Persönlichkeiten in grundlegender Weise verändert. Diese zeitliche Verzögerung des Einsetzens einer substanziellen, kritischen Puccini-Forschung unterscheidet sich insofern von sicherlich zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen, als Puccini eben weitaus mehr darstellt als lediglich ein rezeptionsgeschichtlich kontinuierliches Breitenphänomen, das man despektierlich und als der Kunstreflexion wie wissenschaftlichen Erschließung nicht würdige, niedrigstehende Unterhaltungsmusik beiseiteschieben könnte. Bekannt, ja, aber nicht erklärungsbedürftig, hieße pointiert diese inzwischen überwundene Einstellung, die sich im Falle Puccinis durch eine fortschreitende, quellenkritisch gestützte wissenschaftliche Aufarbeitung auch jenseits abwertender Ignoranz im Übrigen als unhaltbar erwiesen hat. Puccinis Œuvre für die Opernbühne besitzt so überdeutlich hohe Anteile an Singularität, dass seine musikhistorische Bedeutung inzwischen auch in der erweiterten Wissenschaftsgemeinde außer Frage stehen dürfte dank der, wenngleich verspäteten, Rehabilitierungsleistung ausgewiesener Forschender nicht allein italienischer Provenienz. Puccini gehört damit zu jener Kategorie von Komponisten, bei denen sich Erklärungen im wissenschaftlichen Kontext größtenteils erübrigen, die verharren auf der Ebene von Werkparaphrasierung, Verständnisanleitung oder Begründungsspekulation über ausbleibende Wirkung – also meist als Kritik an der Oberfläche des Werktextes verhaftet bleiben. Puccini verlangt nach Tiefenerschließung. Und vor dem Hintergrund der konstanten Wirkmächtigkeit seiner Opern bleibt das Phänomen des scheinbar zeitenthobenen Vertrauten und Selbstverständlichen seiner Kunst ganz im Gegenteil ein erklärungsbedürftiger Fakt. Dieser wesentliche Aspekt, mit dem jede Puccini-Forschung umgehen muss, kann indes nicht ohne eine kompetente Aufarbeitung von Zeitkontext, Biografie und Opernschaffen diskutiert werden, benötigt also die Basis detaillierter Partituranalysen (Notentext, Libretto), welche ganz entschieden die bisweilen äußert komplexen Werkgenesen zu berücksichtigen hat, unter Hinzufügung aller aufführungsrelevanten Quellmaterialien und wirkästhetischer Parameter, die Puccini mitgestaltete wie beispielsweise die immer stärker in den Fokus rückende visuelle Dimension gerade seines Spätwerkes (also generell: Szenenanweisungen, disposizioni sceniche2, Selbstaussagen des Komponisten usw.). Vieles ist schon geleistet worden und wartet darauf, auch außerhalb des einschlägigen Fachkollegiums zur Kenntnis genommen zu werden. Vieles aber – so der hier darzulegende Zwischenbefund – steht noch aus.
I Rückblick in die jüngste Vergangenheit
Zeitdimensionen in der Wissenschaft sind relativ: Eingedenk der allgemeinen temporären Dynamiken wissenschaftlicher Aufarbeitung, die in der Opernforschung aufgrund der Komplexität des per se interdisziplinär-verflochtenen Gegenstands (Zusammenwirken unterschiedlicher ästhetischer Ausdrucksformen; Ereignischarakter der Aufführung usw.) verstärkt den Charakter entschleunigter Prozesse annehmen, fällt es mit Blick auf Puccini schwer, von einer bereits existenten ›älteren‹ Forschung im Allgemeinen zu sprechen, die inzwischen von einer ›neueren‹ abgelöst worden wäre. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Puccini lässt sich daher zutreffender als neue bzw. neueste Forschung kennzeichnen. Das Jahr 1996, in dem das Centro studi Giacomo Puccini (http://www.puccini.it) von den führenden internationalen Puccini-Forschern als privater Verein in seiner Geburtsstadt Lucca gegründet wurde, kann rückblickend als wichtige Institutionalisierungsleistung und formelle Zäsur gewertet werden. Sie erwuchs indes aus wesentlichen wissenschaftlichen Aktivitäten und Forschungsimpulsen bereits seit den 1980er Jahren,3 markiert also keine inhaltliche Neu- oder gar Gegenorientierung, sondern eine stringente Konsolidierung und Etablierung einer unabhängigen und kritischen Puccini-Forschung, die in dieser Form noch nicht lange existent, geschweige denn institutionell gebunden war. Kaum eine der wesentlichen Publikationen der letzten Dekaden ist außerhalb der Einflusssphäre dieses Forscherverbundes entstanden, wie ein kurzer Blick auf die standardsetzenden Monografien zeigt, ohne deren Konsultation keine kompetente Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten heute möglich erscheint. Michele Girardis Werkanalysen, Giacomo Puccini. L’arte internazionale di un musicista italiano, erschienen erstmalig 1995 und wurden im Jahr 2000 ins Englische übersetzt.4 Zwei Jahre später legte der namhafte britische Verdi-Forscher Julian Budden eine Puccini-Monografie5 vor, noch bevor Dieter Schickling mit seinem systematischen Werkkatalog von 2003 das akribisch erarbeitete Elementarwissen über das musikalische Œuvre Puccinis veröffentlichte6.
Diese Marksteine haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind kaum älter als annähernd 25 Jahre – in akademischer Zeitrechnung also noch ›neu‹ – und wurden mehrheitlich in englischer und italienischer Sprache publiziert. Letzteres mag den im internationalen Kontext Forschenden nicht tangieren, ist aber mit Blick auf die Sedimentation wissenschaftlicher Erkenntnis und das Einwirken auf einen erweiterten Rezipientenkreis ein reales, verzögerndes Hindernis der Wissenskommunikation. Für den deutschsprachigen Raum und das Puccini-vertraute Publikum einer historisch singulär gewachsenen Dichte an Theatern und Orchestern, deren Aufnahme in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes möglicherweise zeitnah gelingen kann, schlägt diese Diskrepanz zwischen aktuellem Forschungsstand und ›allgemeinem‹, ›breitem‹ Reflexionshorizont von Operngängern, Musikjournalisten, Gesangsolisten, Dramaturgen und Operndirektoren usw. besonders negativ zu Buche. Ablesen lässt sich dieser nachdenklich stimmende Befund am Beispiel des 2016 erschienenen musikalischen Werkführers zu Puccinis Opern aus der Feder des renommierten Opernpraktikers Gerd Uecker, der allerdings die oben lediglich mit ihren wichtigsten Monografien erwähnte ›neue‹ Puccini-Forschung vollständig ausblendet – von der ›neuesten‹ ganz zu schweigen.7 Das 2017 vom Autor dieses Beitrags herausgegebene Puccini Handbuch (Anm. 1) hatte sich aus dieser langjährig angestauten Problematik heraus auch zum Ziel gesetzt, in der synoptischen Form des Handbuch-Genres dem durch Sprachbarrieren entstandenen Wissensgefälle entschieden entgegenzuwirken. Von einem solchen Rückfall der deutschsprachigen Fachliteratur explizit ausgenommen ist die biografische Forschung zu Puccini, denn mit Schickling schreibt der derzeitige und weltweit renommierteste Puccini-Biograf in seiner deutschen Muttersprache, dessen erweiterte Neuausgabe (von 2007) seiner erstmals 1989 veröffentlichten Biografie inzwischen auch in einer italienischen Version vorliegt.8 Eine zweite Ausnahme markiert die biografische Forschung gegenüber den genannten standardsetzenden Monografien der Jahrtausendwende, denn Schicklings Arbeiten heben sich korrigierend und in partieller Neubewertung von einem an dieser Stelle mit Recht so bezeichneten ›älteren‹ Forschungsstand ab, welchen der Pionier der Puccini-Biografik schlechthin, Mosco Carner, mit seiner 1958 erstmalig erschienenen Critical Biography9 etabliert hatte. Den lediglich einsprachigen Leser in Deutschland erreichte dieses vielrezipierte, zuvor bereits ins Italienische, Französische, Japanische und Spanische übersetzte Standardwerk jedoch erst mit der deutschen Ausgabe von 199610, also sogar erst mehrere Jahre nach der weitaus jüngeren Schickling-Biografie. Vor dem Hintergrund eines enormen Zuwachses an biografischem Quellenmaterial und einer Kritik an der von Carner in Engführung auf psychoanalytische Kategorien vorgenommenen Erklärungsansätze einer u. a. durch »ungelöste[…] Mutterbindung«11 bestimmten Persönlichkeit, welche die hauptsächliche Triebfeder seines Kunstschaffens wie seines (außerehelichen) Liebeslebens gewesen sei, formt sich das Bild des Menschen Puccini im Spiegel der neueren Beiträge Schicklings weitaus differenzierter, vielschichtiger und mit bestmöglicher empirischer Grundierung.
Die Fortschritte an wissenschaftlicher Aufarbeitung von Leben und Werk Puccinis innerhalb der letzten Dekaden lassen sich auch anhand des thematischen Spektrums erkennen, das von Fachbeiträgen und Einzelstudien inzwischen abgedeckt wurde. Die systematische Bibliografie, die vom Centro studi Giacomo Puccini erstellt und partiell auf der (lediglich auf Italienisch konsultierbaren) Webseite sowie integral und regelmäßig aktualisiert in den Periodika der Studi pucciniani (seit 1998) veröffentlicht wird, hat sich zum unerlässlichen hilfswissenschaftlichen Orientierungsinstrument mit Vorbildcharakter entwickelt, dem man mehr Sichtbarkeit und Konsultierende wünscht. Die Systematik der Erfassung reicht von den einzelnen Werkbesprechungen (Opern, Instrumental- und Vokalwerke) über die Kategorie der Libretti (Editionen und Libretto-Studien) zu jenen von Quelleneditionen (Briefe, Ego-Dokumente), Findmitteln (Repertorien, Bibliografien), Monografien, Biografien, werkübergreifenden und zeitkontextualisierenden Beiträgen bis hin zu ikonografischen Studien, Ausstellungskatalogen und Erinnerungsliteratur. Auch wenn ein strukturierender wie gleichermaßen quantifizierender Blick auf den verfügbaren Forschungsbestand die Frage nach Qualität und Nachhaltigkeit der Ergebnisse nicht beantwortet, lässt sich doch mit einiger Berechtigung behaupten, dass Themenbereiche, die bezogen auf Puccini noch gar nicht angebrochen worden sind, eine zunehmend verschwindende Größe in diesem Panorama darstellen dürften. Die Schwerpunktsetzungen der einschlägigen werkanalytischen Opernstudien ließen sich skizzenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgendermaßen umreißen: stoffgeschichtliche, werkgenetische, musikdramaturgische und satztechnische Analysen vorzugsweise der ›bekannten‹ Opern (also im Negativ und noch weniger erschöpfend zu Le Villi, Edgar, La fanciulla del West und La rondine), Analysen zum musikalischen Formbau, zur Melodiegestaltung sowie zur Dimension des Klangs, Aspekte des musikalischen und stofflichen Exotismus und Lokalkolorits (besonders zu den beiden ›asiatischen‹ Opern), der Fragmentcharakter von Turandot und Rekonstruktionen des Finalduetts, Puccinis Verfahren der Selbstanleihen, Rollenprofile vorzugsweise seiner weiblichen Bühnenfiguren, Aspekte von Puccinis spezifischem Umgang mit dem Erbe der traditionellen Versifikation, der singuläre Werkstattcharakter der Zusammenarbeit mit seinen Librettisten-Teams wie schließlich auch der musik- und zeithistorische Einfluss- und Abhängigkeitshorizont seiner Kompositionen während aller Lebensphasen. Neben etablierten Themen wie diesen, zu dem auch der weite und hier nicht weiter en détail genannte Komplex der Rezeptionsforschung gehört, formen sich, aus diesen einerseits hervorgehend, sie andererseits ergänzend, Problemfelder heraus, die verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind. Dazu gehört die faktische Komplexität der Werkgenesen mitsamt den mitunter nicht minder schwierigen Revisionsphasen nach den Uraufführungen, welche die Definition von Werkfassungen vor ganz neue Herausforderungen stellt, sowie Puccinis unablässige Rezeption der neuesten musikalischen wie theater-, bühnen- und filmästhetischen12 Entwicklungen Europas und partiell auch Nordamerikas, die sein gesamtes Opernschaffen ab der Madama Butterfly von 1904 zu experimentellen Einzellösungen auf die Frage nach der ästhetischen Relevanz der Gattung überhaupt werden ließen. Vor diesem Hintergrund – der noch lange nicht bis zum Grund durchmessen ist – stellt sich schon jetzt die Frage nach Position und Partizipation Puccinis am Modernitäts-Diskurs völlig neu.
II Seitenblick auf aktuelle (Editions-)Projekte
Insbesondere das letzterwähnte Themenfeld von Reichweite und Art seines Austauschs wie Reflektierens sowie der privaten und geschäftlichen Vernetzung, die Puccini ab der Jahrhundertwende in der unangefochtenen Stellung des arrivierten und in der internationalen Wahrnehmung führenden Vertreters der italienischen Opernkomponisten betreiben konnte, wird sich erst nach Abschluss eines derzeit erst angelaufenen editorischen Langzeitprojekts zur Gänze begreifen lassen: Nach einer mehrjährigen Phase der Sammlung und Erschließung von Puccinis brieflichen und briefähnlichen Quellen (Postkarten, Visitenkarten, kurze Kommunikationsnotizen usw.) und seit 2007 auch mit der kulturstaatlichen Anerkennung einer »Edizione Nazionale« prämiert, konnte das vom Centro studi betriebene Projekt des Epistolario bislang zwei der auf neun Bände projektierten Briefedition (zuzüglich weiterer Ergänzungsbände) vorlegen.13 Waren Anfang der 1990er Jahre ca. 4000 Briefe bekannt, wuchs zur Überraschung auch der involvierten Forschenden die Zahl der von Puccini handgeschriebenen Dokumente auf ca. 8500 an, die nun, systematisch erfasst und dann profund kommentiert, streng chronologisch herausgegeben werden: Der zweite Band des Epistolario reicht bis ins Jahr 1901, deckt also noch die Zeit nach der römischen Tosca-Premiere ab und endet in der frühen Konzeptionsphase der Madama Butterfly. Damit sind jedoch erst ca. 1600 Briefe ediert (mehr als ein Viertel davon erstmalig), sodass die beträchtlichen Dimensionen dieses Langzeitprojekts sowie der proportionale Zuwachs der uns heute bekannten Briefquellen in Puccinis letztem Lebensdrittel recht plastisch vor Augen treten. Die stetige Vergrößerung des Korrespondentenkreises sowie der internationalen Berühmtheit des Senders, die sich auf eine Erhöhung der Überlieferungschance ausgewirkt haben mögen, wären als wesentliche Gründe hierfür zu nennen. Anhand dieser Zahlen lässt sich leicht ermessen, welch ein zukünftiger Erkenntniszuwachs sich aus diesen Quellenkorpora insbesondere für das musiktheatralische Spätwerk, für die Biografie eines routiniert ins europäische Ausland und nach Übersee reisenden Komponisten, für die spezifischen Produktionsprozesse einer ebenso international aufgestellten, verlegerdominierten italienischen ›Opernindustrie‹ sowie für das daran beteiligte Künstler- und Kunsthandwerkernetzwerk, aber auch ganz allgemein für den zeitgeschichtlichen Kontext der Kriegs- und Umbruchszeit des Ersten Weltkriegs ergeben wird. Schon jetzt gehören die beiden erschienenen Bände dieser ›neuesten‹ Grundlagenarbeit zu Puccini zum Vademekum jeder (italienischen) Opernforschung dieser Epoche.
Die »Edizione Nazionale« des Centro studi beschränkt sich nicht nur auf die Herausgabe der nicht-musikalischen Quellen, sondern bemüht sich auch um die systematische Edition der musikalischen Werke nach wissenschaftlich-kritischen Maßstäben. Dieses von Forscherseite angestoßene Großprojekt hatte und hat weiterhin mit Hindernissen umzugehen, die sich aus den unterschiedlichen Interessengewichtungen mit den Musikverlagen ergaben (vorrangig mit dem Ricordi-Verlag, bei dem mit wenigen Ausnahmen alle Werke Puccinis schon zu Lebzeiten erschienen). Eine aktuelle Kooperation zwischen Ricordi bzw. dem Verlagskonzern Universal Music Publishing Classical, zu dem Ricordi seit einigen Jahren gehört, und dem Centro studi existiert diesbezüglich nicht.14 Was unter wissenschaftlicher Federführung des Centro studi bislang publiziert und mit dem Prädikat der »Edizione Nazionale« kenntlich gemacht wurde, sind die Editionen der nicht-theatralischen Werke Puccinis, die im deutschen Carus-Verlag erscheinen. Vier Bände liegen – neben exzerpierten Einzelausgaben – bereits vor: von der Vokalmusik (Serie III) die Messa a 4 voci sowie die Klavierlieder, von der Instrumentalmusik (Serie II) die Orchesterwerke sowie die erst kürzlich wiederentdeckten, liturgiegebundenen Orgelkompositionen des jungen Puccini. Dieser jüngste Band erscheint auch als Resultat eines aktuellen Forschungsschwerpunkts auf die Jugendzeit Puccinis, der sich in den 1870er Jahren als Organist an San Girolamo und anderen Kirchen in und um Lucca zunächst einmal auf seine örtliche Organistenlaufbahn vorbereitete, die ihm, als in fünfter Generation einer in der Region etablierten Kirchenmusikerdynastie stehend, eigentlich vorgezeichnet war.15 So sehr diese editorische Erschließung wissenschaftlich unerlässlich wie gleichermaßen für viele Aufführungskontexte der heutigen Musizierpraxis äußerst attraktiv ist, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine diesen editorischen Standard fortschreibende Realisierung von Werkausgaben des theatralischen und damit zentralen Œuvres von Puccini noch nicht geleistet werden konnte und hier zukünftig – wie im Folgenden zu skizzieren – noch etliche Hindernisse überwunden werden müssen.
Ein Seitenblick auf ›neueste‹ Aktivitäten der Puccini-Forschung bliebe unvollständig, wenn nicht auf einen Bereich hingewiesen würde, der insbesondere im Kontext der deutschsprachigen Opernforschung noch nicht den Stellenwert an Selbstverständlichkeit erlangt hat, der ihm eigentlich innerhalb des wissenschaftlichen Reflexionsgeschäfts über das ästhetische Gesamtgefüge zustünde, das Oper darstellt. Was mit visueller Dimension angesprochen ist, bezeichnet umfassend und im theoretisch gleichberechtigten Sinne neben der auditiven Dimension einer Aufführung das Zusammenspiel aller optisch wahrnehmbaren theatralischen Wirkmittel: Bühnenbild samt Requisiten, Licht, Kostüm wie spezifische Körperlichkeit der Darsteller (Solisten, Chor, Komparserie usw.) und ihrer Bewegungen im Bühnenraum (bzw. die ›Personenregie‹). Auch wenn die (deutschsprachige) Erforschung historischer Szenenanweisungen im Zuge der Konsolidierung der Opernforschung als musikwissenschaftlicher Teildisziplin und im interdisziplinären Verwandtschaftsgefüge mit Theater-, Kunst-, Tanz- und Literaturwissenschaften zumeist im Kielwasser von Partitur- und vergleichender Szenenanalysen einen eher nebengeordneten Platz zugewiesen bekommt,16 besitzen die italienischen, französischen und anglo-amerikanischen Forschungskulturen bezogen auf diesen Aspekt historischer Szenografie weitaus länger schon mehr Sensibilität und partiell auch einen breiteren Wissensbestand. Vor allem basierend auf profunden Forschungen zur französischen Grand Opéra hat die Untersuchung des Verhältnisses von Musik und Szene für das 19. Jahrhundert, sowohl in notentextbezogener, musikdramaturgischer Perspektive wie auch mit Blick auf spezifische Theaterräume, Malerwerkstätten und Produktionsbedingungen, ihren unstrittigen Platz im opernhistorischen Themenspektrum erhalten und trägt außerhalb des Pariser Sonderstatus vorrangig anhand der Erforschung des Werks von Giuseppe Verdi und Richard Wagner reiche Früchte.17 Ohne Kenntnis dieses hier nur lose skizzierten Forschungspanoramas und ohne Rückbindung an die Empirie der so oft als Krisen- bzw. Transformationszeit der italienischen Oper beschworenen 1870er und 1880er Jahre kann der Frage nicht stichhaltig nachgegangen werden, auf welche Weise Puccini die visuelle Dimension einer Szene während des Kompositionsprozesses nicht nur vorab imaginierte und dann durch Musik determinierte, sondern auch, welchen Grad an Autorschaft ihm gar an manchen Bühnenraum-Dispositionen und Lichtdramaturgien18 seit seinem Durchbruch mit der Manon Lescaut von 1893 zufiel19. Puccini, der an den Probenprozessen nicht nur (fast) aller Uraufführungen, sondern auch zahlreicher Folgeproduktionen Teil oder Anteil nahm, verfeinerte sein inszenatorisches Gespür im Austausch vor allem mit dem Librettisten Luigi Illica. Ebenso wirkten seine Erfahrungen mit den hochprofessionellen Produktionsbedingungen in Paris (also im Zuge der französischen Erstaufführungen seiner Werke) wie auch seine persönlichen Erlebnisse mit der amerikanischen Theaterästhetik von David Belasco ganz entscheidend auf seine schöpferische Arbeit ein.20 Die von Michele Girardi herausgegebene und kommentierte Ausgabe des gedruckten Regiebuchs von Albert Carré (Livret de mise en scène) der ersten Pariser Butterfly-Produktion an der Opéra-Comique von 1906 macht eine wichtige Quelle innerhalb dieses sehr weiten und noch nicht abgeschlossenen Forschungsfeldes zur visuellen Dimension zugänglich. Es ist der erstveröffentlichte Band innerhalb einer Sektion der »Edizione Nazionale«, die den disposizioni sceniche vorbehalten ist.21 Sein ausführlicher Katalogteil, der auch auf die inzwischen digital (Open Access: https://www.archivioricordi.com/en) konsultierbaren Bestände des Ricordi-Verlagsarchivs (Mailänder Nationalbibliothek Braidense) rekurriert, macht eindrücklich bewusst, welch hohen Anteil bereits die Fotografie als Medium für den Herstellungsprozess der Bühnenausstattung (u. a. als Orientierungshilfe zur Darstellung realer Orte) sowie zur Dokumentation von Bühnenproduktionen einnahm. Im Zuge zukünftiger Aufarbeitung dieser visuellen Aspekte insbesondere anhand des Spätwerks von Puccini wird sich auch der Einsatz und Wandel neuer Medien22 wie dieser und der Grad ihrer Bedeutung für den Produktionsprozess von Oper genauer in den Griff nehmen lassen.