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Im „Dörfle“

Erzählungen und Gedichte

aus der Karlsruher Altstadt

Ausgewählt und

mit einem Nachwort versehen

von Jürgen Oppermann


Kleine Karlsruher Bibliothek

Wir danken der Stadt Karlsruhe

für die Unterstützung des Bandes.

Kleine Karlsruher Bibliothek

Band 6

Herausgegeben von Hansgeorg Schmidt-Bergmann & Thomas Lindemann

Titelbild (Ausschnitt):

Rudolf Schlichter „Thannhäuser“ um 1913,

Radierung , 15 x 20 cm, Privatbesitz

Rudolf Schlichter: Auf abschüssiger Bahn

Copyright: Viola Roehr von Alvensleben, München

Abbildungsnachweis: Stadtarchiv Karlsruhe: 10, 18, 72;

Museum für Literatur am Oberrhein, Karlsruhe: 145, 154, 155;

Viola Roehr von Alvensleben: 148; Privatbesitz: 6, 16, 21, 27, 35, 41,

46, 51, 56, 67, 77, 80, 86, 90, 96, 98, 100, 104, 108, 111, 115, 122,

125, 126, 131, 132, 134, 149, 150, 151, 152, 156, 157; Emil Frommel:

Aus der Chronik eines geistlichen Herrn. Stuttgart 1914: 146

Alle Rechte vorbehalten © 2016

Literarische Gesellschaft, Karlsruhe

PrinzMaxPalais · Karlstraße 10 · 76133 Karlsruhe

www.literaturmuseum.de

und Info Verlag GmbH

Karlsruhe · Bretten

www.infoverlag.de

ISBN 978-3-88190-903-7


Hanna Nagel „Im Dörfle“, Lithographie 1906

Anselm M. Schmitt

Die bösen Buben von Karlsruhe vor 75 Jahren (1933)

Noch vor 75 Jahren wußte wohl jedermann in Karlsruhe, wo und was der „Pfannenstiel“ in Karlsruhe ist und welche Bewandtnis es mit seinen „bösen Buben und Mädchen“ habe. Der „Pfannenstiel“ war jedoch nichts anderes als ein Übername für einen Teil unserer Stadt. Wie uns ein waschechtes „Pfannenstieler Kind aus Karlsruhe, das in dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte“, im Jahre 1858 aufschrieb, so glich die fächerförmige Figur der damaligen Altstadt einer Pfanne und ein Teil der anhängenden Straßen einem Stiel. Es war dies der Teil „vom Durlacher Tor bis zur Sonne einerseits, und bis zum sogenannten scharfen Ecke anderseits und von da bis an das Heckengäßchen gegen den Friedhof, und andererseits von der Sonne bis zu des Baudirektors Müller Haus“. Bald nach Herstellung der Fasanenstraße wurde dieser „Stiel entzweigebrochen“ und bauliche Veränderungen ließen ihn nicht mehr erkennen.

Nach anderer Auslegung soll jedoch diese Gegend Alt-Karlsruhes und damit auch die „Pfannenstieler bösen Buben“ von einem Schwank her ihren Namen erhalten haben, den sich die „Schamauken“ – so nannte man damals die Durlacher, – gerne erzählten. Danach gab es im „scharfen Eck“ einmal einen Knecht, der abends in die „Wette“ (d. i. Schwemme) zu reiten pflegte, um seine Pferde zu kühlen und zu tränken. Als man diesen fragte, wo hinaus er wolle, so war seine Antwort stets: „In die Pfanne“. Sein Herr bedeutete ihm, er solle sich tummeln und mit seinen Gäulen früher als gewohnt nach Hause kommen, kurz, er solle sich beim Tränken nicht so lange aufhalten, „sonst mache er der Pfanne noch einen „Stiel“!“ Da dies den guten Knecht verdroß, begann er seinen Herrn nur noch den „Herrn Pfannenstiel“ zu nennen. Und so oft jemand nach der Wohnung eines Karlsruher Bürgers dieser Gegend fragte, hieß es: „Geh in den Pfannenstiel“.


Modellhaus in der Brunnenstraße 2

Von diesem alten Karlsruher Stadtviertel sei hier einiges erzählt, und wie es zur „ersten festlichen Besprechung der ehemaligen bösen Buben aus dem Pfannenstiel am 16. Oktober 1857 bei Hofgärtners Louis“ kam, welcher der Gasthofbesitzer zum roten Haus in der Waldstraße war.

In der Gesellschaft Eintracht, die damals schon seit 22 Jahren bestand, trafen sich im Jahre 1857 und natürlich schon vorher täglich zwischen 1 und 2 Uhr der „Herr Direktor, der Herr Professor, der Herr Doktor“, alles „Spielkompagnone“ und Landsmänner aus dem Pfannenstiel. Da begann einmal einer von ihnen: „Es müßte doch schön sein, wenn wir alte Pfannenstieler einmal irgendwo zusammenkämen und uns unsere Jugendstreiche, die wir als böse Buben verübten, wieder mitteilen könnten.“ Gesagt, getan. Man verfaßte die nachstehende Einladung, die tags darauf im Tagblatt der Residenz erschien:

„Alle bösen Buben und Mädchen aus dem Pfannenstiel, die auf der Reutere ihrer großen Staffel, unter den Kastanienbäumen, aufs Forstverwalters und aufs Hofgärtners Staffel und im Rüdenhof – Reiten-Baalis, Ellmeßles, Marbelis und Fangerlis gespielt, in der Wette gebadet, Schuh und Strümpf versteckt, dann baarfuß geloffen, auf dem Kammergut Mirabellen, im Fasanengarten Bieren, Aepfel, Zwetschgen und Nüsse gebengelt haben, werden zu einer freundlichen Besprechung ins Rothe Haus zu’s Hofgärtners Louis auf den St.-Gallen-Abend, zwischen 6 und 7 Uhr, recht herzlich eingeladen.“ Der St.-Gallus-Abend wurde deshalb gewählt, weil dieser Heilige die Gänse hielt und der Patron der Schäfer und Pfannenflicker sein soll.

Von überall her, auch von auswärts, kamen am 16. Oktober dieses Jahres die ehemaligen bösen Buben, um sich ihre Jugendstreiche zu erzählen und alles, „was vor 60, 50, 40 und 30 Jahren geschah“ der Vergessenheit zu entreißen. Reden wurden gehalten und ein Hoch nach dem anderen auf die Prinzen, Prinzessinnen, das Großherzogliche Haus und alle ehrenwerten Karlsruher Bürger aus dem Pfannenstiel ausgebracht. 42 Personen zählte die Gesellschaft. Viele erfuhren erst später von der eiligen Zusammenkunft. Besonders ungehalten waren die „ehemaligen bösen Mädchen“, welche den Aufruf im Tagblatt übersehen hatten und mangels besonderer Einladung fehlten.

Anfang September 1858 rief sodann der im Vorjahr gewählte Alterspräsident die Mitglieder der ersten Karlsruher Pfannenstielgesellschaft wiederum zusammen, um „die Details eines solennen Festarrangements“ zu besprechen. Denn das Fest der ehemaligen bösen Buben war nahe und sollte auf den 16. Oktober festgesetzt werden. Die Bedeutsamkeit dieses Ereignisses wollte man dadurch betonen, daß man einen Zeremonienmeister und Staatssekretär, einen Intendanten der schönen Künste, einen Haus- und Hofmarschall, zwei Kammerherrn und einen Ordenskanzler bestimmte, um alles Nötige zeitig anzuordnen und so das Pfannenstielstadtviertel „würdig zu repräsentieren“.

Zierliche Einladungskarten, die einige bekannten Gebäude der Pfannenstiel-Gegend zeigten, wie polytechnische Schule, Durlacher Tor, Forstverwaltung und Hofgärtnereigebäude, sandte man an sämtliche ehemaligen bösen Buben und Mädchen, an die jetzigen Bewohner und an die früheren langjährigen Bewohner und Freunde des Pfannenstiels. Der Saal im weißen Löwen in der Langestraße 21 war mit Blumen und allen Spielzeugen ausgeschmückt, die den bösen Buben einst zum Zeitvertreib dienten. An einem großen weißen Drachen brachte man sinnreich die Kinderspiele an, wie papierne Kappe, Tanzknopf, Ballen, verschiedene Knöpfe, Kastanien, Ellmeß, Kornickel, Gerte und Peitsche, alles Dinge, welche die späteren „Briganten“ auch liebten.

„Die Erinnerung unserer Jugend wollen heiter heut wir feiern.“ Mit diesen Worten begann einer der zahlreichen, oft sehr humorvollen Festreden an die Pfannenstieler Bürger, die wohl alle mit dem Orden „zur Pfannenstiels-Treue“ geschmückt waren. Besondere Ehrungen wurden den ältesten Pfannenstielern zuteil, den 60er der ehemaligen bösen Buben und Mädchen. Eine Luisen-Polka-Mazurka wurde aufgeführt, Telegramme aus Heidelberg, Baden, Blankenloch und Bruchsal brachten Grüße von Alt-Karlsruhern, und ein reiches und vortreffliches Konzertprogramm sorgte dafür, daß die festesfrohe Gesellschaft erst am frühen Morgen Abschied nahm.

Aus einer Reihe von witzigen Gedichten fand das folgende, da es von der Entstehung des Pfannenstiels handelt, besonderen Beifall:

Der Pfannenstiel

Als Karlsruhe gebaut ward, da holt’ man die Steine,

Denn hier war es Wald, da hatte man keine,

In Durlachs Gebirge, da steckten sie tief

Man fuhr sie von dorten herauf zu Schiff.

Ein großer Kanal wurde dazu erbaut,

Die leben nicht mehr, die damit vertraut,

Für Karlsruhe war dies ein großer Schatz,

Hier lagerte man sie auf dem Steinplatz.

Mit Pferd’ wurden sie in die Stadt hereingeführt,

Die Maurer hatten den Speiß schon gerührt,

Zimmerleute und Steinhauer zeigten sich groß,

Denn hier stand in kurzem ein prächtiges Schloß.

Die Knechte hielten es öfters für gut,

Des Sommers bei großer Hitze und Gluth,Die Pferde zu baden in der großen Wette,

Sie thaten’s ehe sie gingen zu Bette.

Sie schwenkten die Pferde im Ringe herum,

Da bildete sich in der Mitte ein Strom,

Der wirbelt und schlug an die Pferde hinan,

Daß es gerade aussah wie eine Pfann.

Das brachte die Knechte manchmal zum Lachen,

Sie dachten denn nicht mehr an andere Sachen,

Ja, wurde es Abend, so ging’s in der Eil,

In die Pfann noch zu reiten, zu ihrer Kurzweil.

Doch einer kam immer nach Haus zu spät,

Weil’s Baumwirths Mädle den Kopf ihm verdreht.

Drum sprach der Herr öfters: Hans das ist zuviel,

Gib acht, ich mach Dir an die Pfanne einen Stiel.

Der Knecht verstand nicht der Rede Sinn,

Doch legt er sein Rendezvous anderswohin,

Und dachte gar oft bei sich in der Still,

Herr, Du bist von nun an der Pfannenstiel.

Und weil der Herr hatte die Wirtschaft zum Strauß,

So kamen die Knechte des Abends heraus,

Und tranken und saßen beim lustigen Spiel,

Und riefen dem Herrn nur: Herr Pfannenstiel.

So war denn dieser Exnamen erdacht,

Gespöttelt wurd’ immer und auch dazu g’lacht,

Der Löwenwirth Nägele im Pfannenstiel

Erzählt es vor Alters den Gästen gar viel.

Auch am St.-Gallus-Abend des Jahres 1859 erschienen die Mitglieder mit ihrem Hausorden „zur Pfannenstieltreue“ pünktlich im Gasthaus zum weißen Löwen, wo der Vorsitzende der kleinen Gemeinde, der Tragweite seiner Worte bewußt, seinen Spielkameraden eine pathetische Rede hielt, die unsere biederen Karlsruher Vorfahren sicherlich zu Tränen rührte. Er begann: „Innig klopfet mir das Herz, wie ich Sie so vor mir sehe, blickend ins vergangene Jahr, als wir hier zum erstenmal unserer Jugend Jahr gedachten, unserer Spiele, unserer Freuden, die wir harmlos durchgelebt – bis wir in den Kreis gelangten, den zu wandeln, wenigen unserer lieben Spiel-Kameraden von dem Schicksal ward vergönnet.“

Nach einem Zeitungsbericht nahmen „auch höherstehende Persönlichkeiten an dem Feste teil und hochgeehrte Männer mischten sich unter schlichte Bürger und ärmste Arbeiter“. –

Leider war es das letzte Mal, daß sich Alt-Karlsruhe am St.-Gallus-Tag im Oktober in solch geselliger Runde zusammenfand. Vielleicht haben die politischen Ereignisse der folgenden Jahre diesen echten bürgerlichen Frohsinn nicht mehr aufkommen lassen und einem Pfannenstieler Kinde die Erfüllung seiner frommen Wünsche versagt, welche lauteten: „Möge uns der Allmächtige ruhige Zeiten auch künftig vergönnen, damit die Feier des St.-Gallus-Festes noch oft wiederholt werden könne. Dieses wünschen den Nachkommen die alten Pfannenstieler aus dem vorigen und dem Anfange des jetzigen Jahrhunderts, und schließen mit dem Wunsch Glück auf und Gott zum Gruß!“


Rudolf Schlichter „Der Verführer“,

Lithographie um 1920

Emil Frommel

Aus dem untersten Stockwerk

Erstes Kapitel (Auszug)

O du Heimatflur, o du Heimatflur,

Laß zu deinem heil’gen Raum

Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur

Entfliehn im Traum!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,

War die Welt mir voll so sehr;

Als ich wiederkam, als ich wiederkam,

War alles leer.

So singt’s freilich jetzt im Verfasser, wenn er wieder einmal in die alte Heimat kommt und in seine Geburtsstadt Karlsruhe. Wohl steht sie noch auf demselben Fleck, aber sie ist größer und schöner geworden; die Häuser sind’s zum Teil auch noch, alte Bekannte, aber andere Gesichter schauen heraus. Wie anders als damals, wo man auf dem Schulweg des Morgens früh um sieben oder um acht Uhr jeden Hausbewohner kannte in seinem Morgenkostüm! Da schaute im Schlafrock, uns gerade gegenüber, der Herr Kanzleirat zum untern Stock, auf rotes Polster gelehnt, seine Pfeife rauchend heraus und mit ihm im Morgenhäubchen seine Frau. Man zog ehrerbietig seine Kappe herunter und stereotyp klang der Gruß: „Gutemorge Büble, kann’sch dein’ Sach?“ Ja, das waren manchmal „Gewissenssachen“ mit dem Können, und oftmals stieg der Neid auf in dem Gedanken: „Ach, wenn du’s so gut hättest, wie der Herr Kanzleirat Strohmeyer, der sein Sach’ schon längst kann und nichts mehr zu lernen braucht.“ – Dann ging’s vorbei beim Flügeladjutanten des Großherzogs, einem alten General, und seinem Bruder, dem Forstmeister; ein Blick in die Stube, ob die Geweihe und Sechzehnender noch alle lebten und am Platz waren, und langsam vorüber an dem weißen Hühnerhund, der’s nicht leiden konnte, wenn die Buben sprangen und einen dann für eine Schnepfe ansah und ihm die Hosen zerriß; am Waldhornwirt vorbei, dem Herrn Hartweg, der unter der Tür stand. Da roch’s zu gut nach saftigem Braten und nach kaltem Tabaksrauch aus dem Saal der Stammgäste, in welchem die Pfeifen der Reihe nach hingen wie das Prinzipalregister in der Orgel. Dann bog’s um die Ecke in die Lammgasse: da wohnten zwei Nachbarn einander gegenüber. Der eine im Tuchladen, der Herr Nathan Levis im großblumigten Kaftan und roten Fes, gelb wie eine Quitte und mit gewaltiger Adler- oder Hobnase, die sich im verjüngten Maßstabe bei seinen Kindern wiederfand. Seine lange türkische Pfeife mit großer Bernsteinspitze rauchend, unterhielt er sich mit dem Nachbar, dem Bäckermeister Vorholz, dem Karlsruher Meistersänger und Freunde Justinus Kerners, über die Straße herüber. Dann ging’s vorbei an dem großen Bogenfenster eines alten Kaufmannshauses, in welchem ein kleiner, freundlicher Herr des Morgens zwischen elf und zwölf Uhr Audienz gab. Er war das Börsenorakel der Stadt; dieselben Herren machten zur selben Stunde ihr „Ständerlein“ bei ihm – bis man endlich richtig das Lyzeum erblickte.


Heinrich Meichelt „Der Landgraben“, Aquarell um 1840

Jetzt lebt keiner mehr von allen und keiner fragt die hochwichtige Frage mehr: „Büble, kann’sch dein’ Sach?“

Vornehmlich aber hat sich’s dort geändert, wo der Verfasser das Licht der Welt erblickte, am Spitalplatz. Der lag am Anfang des Stadtteils, den man kurzweg „das Dörfle“ nannte, in gebildeter Sprache auch der „Pfannenstiel“ genannt, der älteste und auch der ärmste Teil der Stadt. Denn bei meiner Vaterstadt ging’s, wie’s in der großen Welt geht: die Kultur drängte von Osten nach Westen: das „Dörfle“ aber lag im Osten. – Aber auch im „Osten beginnt’s zu tagen“, die einstöckigen kleinen Häuser aus Lehm beginnen zu schwinden, und da und dort entsteht im Dörfle ein ansehnlicher Baustil. Der einzige Fluß, an dem die Stadt lag, ist ein Nebenfluß des Rheins, nämlich der Landgraben, dessen Quellen sehr im Verborgenen liegen. In alter und auch zu meiner Zeit zog er noch ziemlich unverblümt durch die Stadt und wälzte seine schwarzen Wogen offenkundig. Nachgerade aber wurde dem alten Gesellen bedeutet, daß er, da ihm jeglicher Sinn für Aufklärung abginge, überbrückt werden müsse – und so ist er denn größtenteils den Augen entschwunden und führt ein unterirdisches Dasein. Zu meiner Zeit aber lag er offen, quer über den Platz, wohl überwölbt, aber man konnte hinabsteigen und – Schiff fahren, was bei dem pestilenzartigen Fluidum für eine Bubennase noch immerhin ein Genuß war.

Das Haus, in welchem wir in den ersten Jahren meines Lebens wohnten, steht heute noch. Später ging ich freilich nie an demselben ohne ein gewisses Gruseln vorüber. An einem Abend – nach Jahren, als wir herangewachsen waren – erzählte auf vieles Bitten der Vater davon. Im unteren Stock wohnte nämlich ein städtischer Beamter mit seiner Frau. Die Leute hatten keine Kinder, keine Sorgen, aber auch keinen Frieden, sondern viel Streit miteinander, und oft mußte der Vater herunterkommen und schlichtend zwischen die beiden treten. So ging’s Jahre lang. Der Mann hatte etwas Finsteres, Verstecktes an sich, und niemand traute ihm. Er brauchte viel Geld für sich, und daher vielleicht auch so mancher Streit. Da, an einem Winterabende, während es draußen stürmte und tobte, war unten wieder Streit. Der Eltern Schlafzimmer lag gerade über dem Schlafzimmer der Leute unten, und man konnte fast die Worte hören. Es wurde Mitternacht. Da ertönte ein gellender Schrei, und dann wurde es plötzlich totenstill. Die Mutter wachte und rief: „Um Gottes willen, was für ein Schrei, da ist gewiß ein Unglück geschehen!“ Der Vater beruhigte sie, es werde eben wieder wie gewöhnlich Streit sein. „Nein,“ meinte die Mutter, „solch einen Schrei habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört, der ging durch Mark und Bein.“

Die Eltern hatten noch nicht ausgeredet, als es draußen vor der Tür leise klopfte. Der Vater stand auf und machte Licht. Draußen stand die hagere, rothaarige Magd der Leute im unteren Stock im Nachtkleid, das Entsetzen auf dem Angesicht, und sagte: „Ach, Herr Professor, kommen Sie – unsere Frau!“

Der Vater stand auf, weckte noch einige von den Atelierherren, seinen Kunstschülern, die oben unter dem Dache schliefen, und ging mit ihnen hinunter. In der Wohnstube am Ofen saß der Mann und stierte die Eintretenden an. „Wo ist Ihre Frau?“ rief der Vater laut und stark, daß der Mutter oben das Herz bebte.

„Drinnen in der Stube liegt sie, sie hat sich selbst entleibt, nachdem sie mich hat umbringen wollen.“ Dabei deutete er auf Wunden an seinen Händen.


Ludwig Barth „Im Dörfle“, Lithographie 1922

„Das ist nicht wahr. Sie haben sie umgebracht!“ rief der Vater; damit nahm er das Licht, schloß die Türe nach dem Gange ab und befahl den drei handfestesten unter seinen Atelierherren, den Mann festzuhalten, der Miene machte, aus der Stube zu gehen. Der Vater ging in die Schlafkammer, das Bild, das sich ihm darbot, war entsetzlich. Da lag die Frau schwimmend im Blute, ein großes Messer in die Brust gebohrt, die Hände durchschnitten. Sie hatte sich offenbar gewehrt, als er das Messer gegen sie führte. – Nachdem der Vater sich von dem eingetretenen Tode überzeugt, schloß er die Kammer ab und schickte zwei Herren nach der Polizei. Gendarmen kamen, legten dem Manne die Handschellen an und führten ihn ab. Damals war noch andere Gerichtspflege, und der Mann leugnete hartnäckig und behauptete, von seiner Frau angefallen worden zu sein, die sich dann, als sie gemerkt, daß sie ihn nicht töten könne, selbst umgebracht habe. Das war sehr unwahrscheinlich, aber dennoch wäre er fast freigesprochen worden. Da wurde auch die Mutter zum Zeugnis aufgerufen, und sie erzählte von dem gellenden Schrei, den sie gehört. Von dem aber hatte der Mann nichts gesagt, sondern im Gegenteil, sie habe das alles ganz still vollbracht. Als die Mutter ihm aber gegenüberstand, ihm die Stunde sagte, zu welcher es geschehen, da erblaßte er und gestand. – Er sollte eben weggeführt werden zum Zuchthause, um gerichtet zu werden, da – auf einem Karren – bohrte er sich einen kleinen Löffel, den er im Gefängnis scharf geschliffen hatte, in die Herzgrube und starb sogleich. Seit jener Zeit war es graulich in dem Hause. Der Mutter ging noch bis in ihr hohes Alter jener Schrei in den Ohren nach. – –

Aber der Platz war auch von Erinnerungen besserer Art durchzogen, denn dort hatte der Vater seine Jugend wenigstens vom zehnten Jahre an zugebracht, und so wurde uns auch jedes Haus lebendig, als ob wir drinnen gelebt hätten. Es war allemal ein Festtag, wenn der Vater aus seiner Jugend erzählte. Einiges steht auch schon in der „Familienchronik eines geistlichen Herrn“ zu lesen. Aber ich hole hier noch etliches nach. – Der Vater war auf Schloß Birkenfeld geboren auf dem Hunsrücken – der, damals zur sponheimischen Grafschaft gehörig, badischen Gebiets war. Der Großvater, der dort markgräflicher Baumeister war, wurde im Jahre 1799 nach Karlsruhe versetzt und zog mit seiner Familie dahin. Da war allerdings die schönste Zeit für den Vater vorbei. Denn auf Schloß Birkenfeld war Freiheit, Wald und Feld, ringsum zwischen Pferden, Kühen und Schafen und Hühnern trieben sich die „Buben“ des Landbaumeisters mit denen des Forstmeisters und Gerichtsaktuars herum, dort zogen die Franzosenscharen unter General Ney durch – und da gab’s immer was zu sehen (wenn auch manche Angst dabei war), was einen Buben interessierte. Nun auf einmal herunter in die enge, geradlinige Residenz, damals eine Stadt mit 12 000 Einwohnern, wo jeder den andern kannte. Statt des Hauslehrers, der den gerade nicht gelehrten Namen „Ochs“ führte (mit dem sich allenfalls noch über die Stunden reden ließ), ging es in die Schule, in das damalige „Lyceum illustre“, was nicht weit vom Spitalplatz war. Da gab’s gleich die ersten Tränen bei dem gestrengen Lehrer und bei den Mitschülern die ersten Kämpfe. Denn es war in Karlsruhe nicht anders als wie in andern Schulen: man mußte sich den Einlaß erkämpfen. Es geht den Büblein wie dem Hahn oder Meister Gockeler, der auf einen fremden Hof oder Dunghaufen kommt und sich in manchem ritterlichen Strauß erst das Hausrecht erobern muß. Ein Umstand aber verschlimmerte die Sache gewaltig. Der Großvater, der seinerzeit lange in England gewesen, hatte eine besondere Vorliebe für jenes Land und seine Sitten. So kleidete er auch seine Buben englisch. Ein blaues, feines Wämschen über der Brust, den Hals offen und den weißen Hemdkragen breit über das Wams gelegt, weiße Pantalons und Schuhe; auf dem Kopfe aber nur kurz geschnittene Haare und sonst nichts darauf, kein Hut und keine Mütze; so zogen zum Schrecken der Karlsruher Lyzeisten die englisierten Hunsrücker auf. Denn die Karlsruher „Herren Buben“ trugen große lange Überröcke mit gelben Aufschlägen am Kragen und an allen Ecken des Rockes, welcher bis über die Knie ging; gelblederne Beinkleider, die über dem Knie zugeknöpft waren, große Stulpenstiefeln und schwarze hohe Halsbinden, aus denen der Kopf mit Mühe herausschaute. Oben auf dem Kopfe pomadisierte und gebrannte Locken und – lange Zöpfe, die bis auf den Boden reichten, wenn sie das höchste Maß der Schönheit hatten, auf dem Kopf ein dreieckiger Hut im Sommer, und im Winter eine dicke Pelzkappe mit langem, oben überliegendem Fuchsschwanz – so stiegen die Eingeborenen daher. So kam’s denn bald zu Schlägereien, und die Zöpfe der Schulfüchse mußten gehörig dran glauben, bis endlich Friede ward. Um zehn Uhr erhielten die Reicheren ein Frühstück, bestehend in einem Glas Wein und einem Stück warmem Braten, das die Bedienten im Schulhofe servierten. Oft erzählte uns der Vater, wie die andern, minder Reichen um zehn Uhr zu einem Bäcker wanderten, der in der Nähe des Lyzeums wohnte. Der backte „Salzwecke“ und „Hörnle“ so duftig, und ums Neujahr herum die „Dambedei“, Männlein und Fräulein in Brezelteig. Da passierte es ihm einmal, daß er über dem Backen einschlief und die ganze „Backet“ von Dambedei rein schwarz wurde. Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie den Schaden besah und rief: „Mann, ’s isch alles hin.“ – Er aber besann sich und sagte: „Mutter, geh hinaus und rupf dem Gockeler seine schönsten Federn aus.“ Kopfschüttelnd ging die Frau hinaus, und bald hörte man das Gewinsel des Hahns. Sie brachte die Federn. Der Bäckermeister nahm sie, setzte eine um die andere auf das Haupt seiner schwarzen Legion und wartete, bis er den ersten „Buben“ zur Schule gehen sah. Den rief er herein und gab ihm eins von den Prachtexemplaren zum Präsent und sagte: „Büble, heut ist Dreikönigstag, da hat’s lauter Mohrenköpf gegeben, da hast du einen; sag’s nur den andern.“ Das Büblein bewunderte den schwarzen Mohren und zeigte ihn zum hohen Ergötzen in der Schule. Um zehn Uhr aber stürmte die Jugend die Bäckerei; alle wollten „Mohrenköpfe“ ­haben. In wenig Minuten war der ganze Vorrat aufgeräumt. Schmunzelnd sagte aber der Bäcker: „Siehst du, Mutter, es kommt halt nur auf den Namen an, den man einer Sache gibt“ – womit derselbe eine große und zwar nicht bloß eine „Bäckerwahrheit“ ausgesprochen. – So trocken und philisterhaft die damalige Stadtjugend aussah, so spukte doch in den pomadisierten, zopf­behafteten Köpfen allerhand Bubenmutwillen. In der Residenz war auch ein Theater und da hineinzugehen eine Hauptfreude. Aber woher das Geld nehmen und doch nicht stehlen? Da gab’s nur ein Mittel, das war: selbst mitspielen. Freilich stand keiner von den Buben auf dem Theaterzettel, sondern sie kamen unter die Rubrik: „Volk usw.“ Unter anderem war ein beliebtes Stück: „Die Donauweibchen“, in welchem tanzende Säcke vorkommen. Schnell waren die Hunsrücker Jungen bei der Hand, einen solchen mit Empfindung zu spielen. Also hinein in den Sack und dafür das nächstemal ein Freiplatz auf dem „Juchhe“ im Theater. Aber der verschmitzte Sack war nicht festgenäht und platzte mitten in der Vorstellung beim Tanzen. Der Onkel, der Bruder des Vaters, purzelte aus dem betreffenden Sacke heraus vor die zuschauende Menge, die ihn sofort erkannte und aus einem Munde erstaunt rief: „Das ist ja Frommels Edeward!“ Das gab zu Hause eine Szene, und die Bretter wurden für lange Zeit verboten. – Aber das Theaterspielen war doch zu verlockend. Schillers „Räuber“ waren dazumal ein höchst beliebtes Stück, und vornehmlich das Räuberleben ein Ideal der Schulbuben. Mit „hoher obrigkeitlicher Bewilligung“ wurden denn auch auf einem Liebhabertheater in der damaligen „Affengasse“ von Schülern die Räuber aufgeführt. Die Hauptschwierigkeit bestand allerdings darin, die einzige weibliche Person, die in dem Stücke spielt, zu engagieren, sich unter die Räuber zu wagen. Endlich unter vielen Versprechungen verstand sich auch die Cousine eines Räubers dazu, die Rolle der „Amalia“ zu übernehmen. Die Zettel wurden ausgegeben, ein mäßiges Eintrittsgeld festgesetzt, das Haus war ausverkauft und die Vorstellung begann. Im dritten Akte aber wäre fast gar das Stück zu Falle gekommen. Als die Räuber ihren großen Gewinn überschlugen, wollten sie sich dafür Würste und Schinken und Bier als „räuberwürdiges“ Mahl kaufen, Amalia aber wollte für sich Torten und Eingemachtes haben, und als die Jungen das nicht wollten, lief sie hinüber auf den Hof und setzte sich auf eine Holzbeige, weinte und sagte: „Ich spiel nimmer mit.“ Es bedurfte des ganzen Aufwands der Beredsamkeit Karl Moors (meines Onkels), um sie zu bewegen, wieder zu kommen: sie sollte „ihr Sach’ apart haben.“ Das Stück ging dann zu Ende. – Aber das Ende war noch nicht da. Bei der großen Mehrzahl hatten die Räuber festen Fuß gefaßt. Die Flinten und Säbel, die Schlapphüte waren ja schon vorhanden, Geld auch, das Räuberlied einstudiert – was fehlte da noch? Nichts, als daß man die wohlgelungene Sache auch einmal im Ernst ausführte. Etwa fünf Stunden von Karlsruhe lag die alte verfallene Burg Ebersteinburg, damals im dichtesten Wald liegend, ein herrlicher Schlupfwinkel für Räuber. – Die Kleider wurden in ein einsames Wirtshaus vor dem Stadttor gebracht; damit der ­Torwart nichts merkte, zog man zu verschiedenen Stadttoren einzeln hinaus und sammelte sich in jenem Wirtshause. Dort wurden die Kleider angezogen, in der Nachtstille durch die Ortschaften marschiert und in der Mitternacht langte die Bande oben auf Ebersteinburg an. Am frühen Morgen, nach den Schauern in dem alten Verlies, wurde die Burg in Verteidigungszustand versetzt, der Eingang mit großen Steinen verrammelt und Wachen ausgestellt. Dann wurde ein Feuer angezündet und Eier gesotten und Kaffee, die Würste von der Vorstellung her noch vollends verzehrt. Am folgenden Tage wurde ein nächtlicher Ausfall auf das Dorf Ebersteinburg beschlossen, um dort einiger Gänse habhaft zu werden und diese dann kunstgerecht zu braten. Der Überfall wurde mit großer Schlauheit ausgeführt und gelang. Droben auf der Burg wirbelte der Rauch über der ermordeten Gans in die Luft, und die Bauern wurden aufmerksam. Die beraubte Bäuerin erhob ein Wehegeschrei bei dem Vogt. Einer von den Bauern wollte sich hinauf zur Burg machen, wurde aber von der Wache mit einem blinden Schuß empfangen. Die Räuber stürzten gleich alle hervor, und im Todesschrecken lief der Mann zum Vogt und schrie: „Es sind Räuber da oben, wahrhaftige Mordbrenner!“ Der Vogt ließ Sturm läuten und holte den Gendarmen, der bereits von der Residenz aus avisiert war, „ob man keine Buben gefunden hätte.“ Langsam zog die Schar mit Dreschflegeln und Mistgabeln und alten Nachtwächterspießen unter Anführung des Gendarmen hinauf zur Burg. Den „Räubern“, die vom Wartturm aus zusahen, wurde doch bänglich zumute. Nach kurzem Kriegsrate beschloß man, sich aus dem Staube zu machen. Aber der kriegskundige Gendarm hatte wie ein kluger General den Bergkegel umstellen lassen, damit ihm keiner der Vögel entwische. So fielen denn die meisten den Bauern in die Hände, ihrer sechse aber, und darunter mein Onkel, entwischten, indem sie an den hohen Tannen hinabkletterten und unten übel zerschunden ankamen. Dann liefen sie Karlsruhe zu. Kurz vor dem Tore trafen sie mit den andern Malefikanten zusammen, die per Schub gefahren wurden und ihnen zuriefen: „Mir hen doch noch fahren dörfen!“ – Was es daheim absetzte, kann sich der geneigte Leser selber denken, nebst der Standrede in der Schule. Einer aber kam am schlechtesten dabei weg, der doch gar nicht dabei gewesen: das war der Dichter Friedrich Schiller, der den jungen Leuten die Köpfe verrückt gemacht haben sollte. Mein Vater ist nicht mit dabei gewesen wegen eines kranken Fußes, und segnete sich, daß er am Fuße gepackt worden war.


Werner Kornhas „Hinterhof in der Altstadt“, Tuschezeichung um 1960

Von diesen Geschichten war uns die ganze Umgegend, in der wir wohnten, wie von einem lebendigen Sagenkreise umhüllt. Freilich fand sich vieles nicht mehr vor zu unserer Zeit, was damals noch existierte. Daß auf dem Marktplatz, wo jetzt die geheimnisvolle Pyramide steht, und drin das Herz des Erbauers der Stadt, um die wir trotz des Verbots so oft nach der Schule „Fangerles“ spielten, die Stadtkirche stand und ein großer Kirchhof war, wollte uns nicht in den Sinn, noch daß der Wald ganze heutige Straßen einst bedeckte.

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