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Es dämmerte schon, als der Zug endlich in Richtung Siegburg weiterfuhr. Gegen 7 Uhr morgens erreichten wir die Stadt. Meine Abteilgenossen wünschten mir viel Glück und ich erkundigte mich als Erstes bei dem einzigen Bahnhofsbediensteten nach meiner Kiste, von der es aber keine Spur gab. Auf meine Frage nach dem Weg nach Braschoß zeigte er mir die Richtung mit der Bemerkung, das einzige und verlässlichste Verkehrsmittel dahin seien die eigenen Füße. Laufgeübt setzte ich mich in Marsch und erreichte Braschoß und die Familie, als sie zum Frühstück zusammensaß.
Etwa eine Woche später teilte mir die Reichsbahn mit, dass meine Kiste in Siegburg angekommen, aber aufgebrochen sei. Wir holten sie mit den schlimmsten Befürchtungen ab, stellten jedoch zu unserer Überraschung fest, dass fast nichts fehlte.
Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass mein Onkel die Verhältnisse in der Bonner Umgebung realistisch geschildert hatte. Die Häuser waren tatsächlich so klein, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Wohnraum für eine Familie boten. Infolgedessen wurde unsere achtköpfige Familie auf vier Häuser aufgeteilt. Entgegen den Erzählungen des Onkels gab es bei den alteingesessenen Rheinländern mit landwirtschaftlichem Hintergrund keine Armut und die Mucher Frauen brauchten nicht mehr mit Butter und Eiern nach Siegburg auf den Markt zu laufen. Stattdessen kamen die hungrigen Siegburger, Bonner und Kölner in Scharen nach Much und das übrige ländliche Rheinland und tauschten Pelze, Uhren und sonstige Wertgegenstände gegen Butter, Brot und Eier. Gerüchten zufolge sollen sogar Kuhställe mit Orientteppichen ausgelegt gewesen sein.
Zum Abschluss meiner Odyssee als Asylant wieherte der Amtsschimmel noch einmal kräftig. Als ich mich bei dem damaligen Amt Lauthausen anmelden und die Lebensmittelkarten in Empfang nehmen wollte, erklärten mir die Bediensteten, ich existiere zwar real aber verwaltungsmäßig gesehen sei ich ein Nichts. Da ich das vorgesehene Aufnahme-, Registrierungs- und Zuweisungsverfahren in Unna-Maaßen nicht durchlaufen hätte, ständen mir weder Wohnraum, noch Lebensmittelkarten oder sonstige Verwaltungsleistungen zu. Auch der Hinweis, dass schließlich weder Amerikaner noch Engländer an meiner Fahrt nach Braschoß etwas auszusetzen gehabt hätten und entsprechende „Marschbefehle“ akzeptiert hätten, fruchtete nichts. Erst nach der Einschaltung vorgesetzter Dienststellen gelang es, mich auch ohne Unna-Maaßen „ehrlich“ zu machen und meine Episode als Asylant zu beenden.
Willi Bröhl
Meine Jugend in meiner Heimatstadt Siegburg
Im Januar 1936 in Siegburg-Stadtmitte geboren, heißt auch: meine Kindheit im Krieg und seine Folgen erlebt zu haben.
1942, also mitten im Krieg, begann meine Schulzeit, und zwar in der Schule „Innere Stadt“, dort wo heute das Rathaus Siegburg steht. Einen schönen Standort hatte die Schule, neben dem schönen Park des damals so bekannten Restaurants „Schützenburg“, wo am Wochenende großer Betrieb herrschte, weil der Park mit seinen Einkehrmöglichkeiten zum Spazieren und Einkehren einlud.
1943: Willi Bröhl als 7-Jähriger, 2. Schuljahr
An meine Schulzeit erinnere ich mich genau, auch heute noch nach mehr als 70 Jahren. Insbesondere zwei Lehrpersonen hatten es mir angetan: zum einen Fräulein Frey, eine kleine, hagere, aber mit großer Schlagkraft ausgestattete Person. Morgens, als Erstes, wenn Fräulein Frey die Klasse betrat, hieß es nicht „Guten Morgen“ oder „Grüß Gott miteinander“. So war auch das Kreuz in der Klasse schon lange nicht mehr da; man sah nur noch die staubigen Umrisse, wo es gehangen hatte. Nein, sie rief laut und kräftig: „Wie grüßen wir unseren Deutschen Führer?“ Und die ganze Klasse musste genauso laut und kräftig „Heil Hitler“ rufen. Dann erfolgte der Befehl: „Setzen. Ich, der Zuhause katholisch erzogen wurde, hatte zwar öfter diese Redewendung gehört, aber ernst genommen hatte ich sie nie.
Eines Morgens: Fräulein Frey kam wieder rein, stramm stehen und wie immer den bekannten Begrüßungsbefehl. Alle riefen wie immer den „Hitler-Gruß“, nur ich nicht. An diesem Morgen muss mich der Teufel geritten haben; denn ich rief laut und deutlich: „Grüß Gott!“ Totenstille herrschte in der Klasse, und wie eine Furie schoss Fräulein Frey auf mich zu. „Schüler Bröhl, was hast du geantwortet?“ Treuherzig wiederholte ich: „Grüß Gott.“ Ausweichen konnte ich nicht mehr; voll empfing ich eine schallende Ohrfeige, die mich bis in die Bank zurückwarf. So eine Schlagkraft hatte ich dieser kleinen hageren Person nicht zugetraut. „100-mal den Deutschen Gruß schreiben!“, kam noch dazu.
Als mein Vater am Mittagstisch fragte, woher die rote Backe wäre, habe ich ehrlich mein Erlebnis erzählt. Die Entrüstung meiner Eltern über soviel Dummheit war groß, aber weitere Folgen blieben mir erspart.
Und an einen zweiten Lehrer erinnere ich mich genau. Auch seinen Namen habe ich nicht vergessen. Er hieß Herr Schneid und wohnte in Siegburg in der Frankfurter Straße. Er hatte zwei Angewohnheiten, die sehr schmerzhaft sein konnten. Wenn wir etwas nicht wussten oder wenn wir seiner Meinung nach die nötige Aufmerksamkeit vermissen ließen, wurden wir nach vorne gerufen. Er stellte uns ans Fenster, zog uns an den kurzen Haaren über den Ohren kräftig in die Höhe und sagte immer den einen Satz: „Sag mir: Siehst du die Kühe auf der Buisdorfer Seite?“ – das schmerzte so kräftig, dass man schnell sagte, „Ja, Herr Lehrer.“
Die zweite schmerzhafte Untat, die der Kerl an sich hatte, war, wenn ihm etwas nicht passte. Man musste dann immer nach vorne kommen, die Hand ausstrecken und die Finger zusammen drücken und er schlug mit einen dünnen Stock kräftig auf die zusammen gedrückten Finger. Dass diese Maßnahme besonders wehtat, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen. Alles hatte seine Zeit, auch diese Maßnahmen, die sich Lehrpersonen früher gerne herausnahmen. Heute wäre das undenkbar. Was ich später nie verstanden habe, aber jeder wusste, dass Herr Schneid sehr stark dem Nationalsozialismus zugetan war, aber nach dem Ende des Krieges fand man ihn auf der Liste der Zentrumspartei in Siegburg wieder. Ja, so spielt halt Mensch und Zeit eine eigene Geschichte.
Die Erinnerungen an die Schulzeit wurden immer mehr getrübt, weil der Unterricht mehr und mehr ausfiel. Fliegeralarm zwang uns immer wieder in den Keller, bis schließlich der gesamte Schulunterricht wegen Fortbestand der Kriegshandlungen ganz eingestellt wurde. Soweit ich mich erinnern kann, fiel das Schulgebäude später einem Bombenangriff zum Opfer.
Eines der unschönen Erlebnisse war, dass ich zusehen und erleben musste, wie bei uns in der Brandstraße dort lebende Juden und auch welche aus der näheren Umgebung eines Morgens zusammen getrieben wurden und auf Militärlastwagen verfrachtet wurden. Wie ich später erfuhr, wurden sie in ein Lager nach Much gebracht. Für mich war das Geschehen traurig, es waren einige Schulfreunde dabei, die man nie mehr wiedergesehen hat. Erschüttert war ich über den Jubel einiger Bewohner aus der Straße, die dem unseligen Geschehen zusahen und begeistert Beifall spendeten. Ich kann für mich feststellen, dass ich eine weniger schöne Schulzeit hatte in den wenigen Jahren von der Einschulung bis zum Ende des Krieges.
Ein weiteres banges Erlebnis war, als der Krieg zu Ende ging. Amerikanische Soldaten stürmten mit durchgeladenen Gewehren in unseren Keller. Alle, auch wir Kinder, mussten mit erhobenen Händen den Keller verlassen und wurden zur Zeithstraße getrieben, wo wir stundenlang unter Bewachung stehen mussten. Derweil wurden vom Militär Häuser und Keller durchsucht, ob sich irgendwo noch deutsche Bewohner oder Soldaten versteckt hielten. Dass dabei unseren Eltern Uhren und Ringe abgenommen wurden, gehörte wohl mit dazu. Stunden später durften wir dann wieder zurück in unsere Wohnung.
Dann begann die Zeit, wo es nicht viel zu essen gab, weil die meisten Geschäfte geschlossen waren oder keine Vorräte hatten. Den Ofen anzünden war auch nicht immer möglich, denn Heizmaterial war sehr knapp. Ich kann mich noch sehr gut an die Zeit erinnern, wo gesammelt, getauscht und geschmuggelt wurde, was das Zeug hielt, nur um etwas zum Essen zu haben. Und daran, dass im Wald Eicheln gesammelt wurden, oder nachts Kartoffeln von den Feldern geholt, oder aber Kohlen und Briketts von den Zügen geklaut wurden. Ja, es war keine schöne Zeit damals. Es ging ums Überleben. Organisieren war das große Thema, bis es langsam wieder besser wurde.
Auch der Schulbetrieb wurde wieder aufgenommen. Da es unsere alte Schule nicht mehr gab, wurden wir nach Straßen in andere Schulen aufgeteilt. So musste ich eine Zeit lang in die Wolsdorfer Schule gehen und später in die Nordschule. Zum Schluss dann endlich kam ich in die Humperdinck-Schule. Dort bin ich dann auch geblieben, bis zum Ende meiner Schulzeit.
Dass ich 1937 eine böse Krankheit, nämlich die Kinderlähmung, bekam, behinderte mich in jungen Jahren wie auch später. Das hatte zur Folge, dass ich öfter im Krankenhaus in Köln-Deutz lag, manchmal monatelang. So ergab es sich auch, dass ich in einem Schuljahr das Ziel der Klasse nicht erreichte und nicht versetzt wurde. Bei einem bekannten Lehrer aus der Holzgasse mit Namen Heimers, ein begnadeter Fußballspieler des SV 04 Siegburg bekam ich Nachhilfe, sodass ich im folgenden Jahr eine Klasse überspringen konnte und wieder in der normalen Altersklassenstufe war.
Das Spielen war für uns Jungs nach dem Krieg nicht besonders attraktiv. Womit auch? Aus alten Lappen wurde mit Kordel ein Ball zusammen gebunden, damit wir Fußball spielen konnten. Plätze gab es nicht; also wurde auf der Straße gespielt. So manche Scheibe der Nachbarn ging dabei zu Bruch. Man bedenke: Wenn der Lappenball in der Gosse landete, war er ganz schön schwer.
Was sehr gefährlich war, und die Gefahr kannten wir nicht: Überall fand man nicht verschossene Patronen. Diese zu öffnen, indem wir die Spitze abschlugen, gab für uns die Möglichkeit, den Inhalt, nämlich das Schießpulver, rauszunehmen und in Spuren auf den Gehwegen zu streuen und anzuzünden. Damit entfachten wir ein schönes Feuerwerk. Mit anderer Munition machten wir das Gleiche. Wir haben uns immer Plätze ausgesucht, wo wir unbeobachtet waren. Die Gefahr, in der wir uns dabei befanden, haben wir nie erkannt. Viel später, als schreckliche Unfälle bekannt wurden, haben wir erkannt, in welche Gefahr wir uns begeben haben.
Nicht weit von unseren Wohnungen gab es da, wo heute die Siegburger Feuerwehr ihr Domizil hat, einen großen Weiher: ein herrlicher Tummelplatz. Direkt nach dem Krieg fand man ja öfters leere und nicht mehr gebrauchte Benzinkanister aus Militärbeständen. Die konnte man schön zusammenbinden, und aus zwei Stück hatte man ein schönes Floß. Es bot sich ja förmlich an, auf dem Weiher zu paddeln. Ein wunderschönes Nachmittagsvergnügen. Die Warnung der Eltern vor der Gefahr schlugen wir natürlich in den Wind, denn schwimmen konnte keiner von uns. Eines Tages erfuhren wir, dass einer von uns an einem späten Nachmittag alleine gepaddelt hatte und auf tragische Weise ertrunken ist. Fortan durften wir nicht mehr am Weiher, schon gar nicht auf dem Weiher spielen.
Die Wintertage waren für uns ein herrliches Vergnügen. Der Michelsberg mit seinen tollen Hängen lud uns immer zum Rodeln ein. Jede freie Stunde genossen wir bei schönen Wintertagen den Spaß am Rodeln, oft bis in die späten Abendstunden.
Eines hat mich von früher Kindheit her immer begeistert, und zwar das Singen. Eine Eins auf dem Zeugnis war mir immer sicher, insbesondere dann, wenn der Lehrer fragte, wer denn das „Bergische Heimatlied“ singen könne. Natürlich sang ich dies dann mit Inbrunst vor, denn dieses Lied gehörte zu meinen Lieblingsliedern. Als dann die „Siegburger Sängerknaben“ von Dr. Walter Mai gegründet wurden, die er auch dirigierte, wurde ich schnell Mitglied in diesem Knabenchor. Im altehrwürdigen Siegburger Lokal „Herrengarten“, dort wo heute das Siegburger Finanzamt steht, wurde fleißig geprobt. Und schick waren wir bei unseren Auftritten eingekleidet: Kurze schwarze Hose, weißes Hemd mit schwarzer Fliege und Abzeichen auf dem Hemd und dazu weiße Kniestrümpfe. Wir konnten nicht nur gut singen, sondern sahen auch gut aus.
SSK, Siegburg, Herrengarten 1.R.3.v.r,: Manfred Becker, m.R.2.v.r: Willi Bröhl: Mitte: Walter May, Lehrer und Chorleiter
Der Chor wurde immer mehr zu einer Attraktivität, zahlreiche Konzerte und Auftritte in Siegburg und Umgebung, später auch Konzertreisen, waren ein schönes Erlebnis und sind eine schöne Erinnerung. Nach einigen Jahren stellte man fest, dass dann, wenn die Jungs in den Stimmbruch kamen, oder die ersten Freundschaften zu den Mädchen stattfanden, das Interesse am Chorgesang verloren ging. Deshalb wurden Mädchen für den Chor geworben, und man nannte den Chor fortan „Humperdinck-Kinderchor“. Die gesangliche Klasse blieb dem Chor erhalten. Noch gerne ich erinnere mich an die großen Konzertreisen, zum Beispiel nach Luxemburg, wo bei der Großherzogin im Palast ein großes Konzert stattfand. Dabei durfte ich als Junge im Gegensatz zu gut singenden Mädchen alle Solopartien singen. Auch diese Zeit des Chores fand nach einigen Jahren ein Ende, weil die Interessen der Mädchen und Jungen sich änderten.
Das Singen aber ist mir immer von großer Wertschätzung geblieben, bis zum heutigen Tag, nun schon fast 70 Jahre ununterbrochen. In mehreren großen Männerchören habe ich gesungen und nun fast 50 Jahre im Männerchor „Liederkranz Birk“.
Auch meine Kindheit ging spätestens zu Ende, als 1951 eine Ausbildung als Orthopädiemechaniker und Bandagist in dem damals bekannten Fachunternehmen von Laufenberg in Siegburg begann. Man wurde langsam erwachsen, was man daran merkte, dass man sich für das weibliche Geschlecht interessierte.
Das Interesse an meiner Heimatstadt Siegburg ist mir treu geblieben. Die durch Kriegseinwirkung zerstörte Stadt, ob rund um den Markt, die Evangelische Kirche, die Katholische Kirche, die Abteikirche des Michelsbergs, alles lag in Trümmern. Die vielen Jahre des Aufbauens haben meine Heimatstadt wieder zu dem gemacht, was sie früher war, eine liebenswerte Stadt.
Dieter Decker
Ilmenau, Goethe, Krallenfrösche, Schmuggler, Sputnik und Pamir
Wir schreiben das Jahr 1957, in dem auf der ganzen Welt aber auch in meinem jungen Leben eine Menge passierte:
• Am 1. Januar wurde die Saar in die Bundesrepublik eingegliedert.
• Am 14. Februar endete der längste Streik in der Geschichte der Bundesrepublik; es ging um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
• Die erste Massenimpfung gegen Polio beginnt in Oberhausen.
• Maria Schell und Horst Buchholz erhalten den Bambi als beste Schauspieler.
• Am 25. Mai eröffnet nach 3-jähriger Bauzeit in Köln das Wallraff-Richartz-Museum.
• Am 27. Juli wird in Großbritannien das erste Mal eine Geburt live im Fernsehen übertragen.
• Die Union aus CDU und CSU gewinnt mit ihrem Spitzenkandidaten Konrad Adenauer am 19. September mit der absoluten Mehrheit von 50,2% der Stimmen die Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag.
• Westlich der Azoren gerät am 21. September das Deutsche Segelschulschiff „Pamir“ in einen Hurrikan und sinkt. Nur sechs der 86 Seeleute überleben die Katastrophe.
• Sputnik 1, der erste Satellit, wurde am 4. Oktober von der UdSSR ins All geschickt und verglühte 92 Tage später.
• In Köln schließt am 20. Oktober die Bundesgartenschau nach einem knappen halben Jahr ihre Pforten. 4,5 Millionen Besucher waren begeistert und benutzten auch fleißig die Seilbahn über den Rhein, die heute noch fährt.
• Am 22. Oktober wird der „Alte“ erneut zum Bundeskanzler gewählt.
• Am 3. November startet die UdSSR „Sputnik 2“ mit der Polarhündin Leika als erstes irdisches Lebewesen an Bord.
• Mit -30 Grad wird am 17. Dezember in Hannover und Magdeburg der kälteste Tag seit 1876 gemessen.
Im Jahr 1956 war ich mit meinen Eltern von Köln-Ehrenfeld nach Köln-Mülheim umgezogen und ich besuchte seitdem die Städtische Realschule für Jungen in der Lassallestraße. Ich hatte keine Lust auf Schule und das zeigte sich auch in meinen Leistungen. Beide Eltern arbeiteten und ich war den ganzen Tag auf mich allein gestellt. Mittagessen bekam ich in einer nahe gelegenen Kneipe, und nach der Schule war ich ständig unterwegs, entweder im Mülheimer Stadtgarten, nur fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt oder bei einem älteren Freund, drei Häuser weiter, mit dem ich Modellflugzeuge baute.
Von Anfang Mai bis Ende Oktober – ich hatte eine Dauerkarte – war ich sehr oft in der Bundesgartenschau und da gerne im Jugendpark. Dort gründete ich mit ein paar Freunden eine Jugend-Band, und wir konnten in Probenräumen üben und unsere Werke immer wieder einem Publikum von ca. 15-20 Leuten präsentieren. Außerdem begann ich, mich intensiv für Mädchen zu interessieren, das war in einer Schule für Jungen unmöglich, aber die Mädchenschule war nur einen Steinwurf entfernt. Dass da keine Zeit mehr für Hausaufgaben oder Lernen war, versteht sich von selbst. Den ersten Warnschuss erhielt ich mit meinem Halbjahreszeugnis im April 1957, da stand jede Menge „Ausreichend“ und in „Häuslicher Fleiß“ ein „Mangelhaft“, dafür aber in Geschichte und Religion ein „Gut“. Im zweiten Halbjahreszeugnis stand dann die Bemerkung, wenn ich meine Leistungen nicht erheblich steigere, würde ich nicht versetzt werden. Meine Eltern waren ziemlich ratlos, da sie meinen Tagesablauf wegen ihrer Abwesenheit nicht beeinflussen konnten. Ich gelobte Besserung, aber es sollten noch einige Jahre ins Land ziehen, in denen ich die Versetzung gerade so schaffte. Es dauerte lange, bis der Knoten platzte und ich bei allen Herausforderungen immer unter den Besten sein wollte, das ist bis heute so geblieben.
Da meine Eltern wegen vieler Arbeit jahrelang keinen Urlaub machten, schickten sie mich schon ab dem 9. Lebensjahr mit der Deutschen Bahn zu unseren Verwandten und guten Bekannten. Das ging einfach, man konnte sich ein Umhängeschild besorgen, das mit dem Namen, der Heimatadresse, der Telefonnummer und dem Reiseziel versehen war und bekam es um den Hals gehängt. Auf dem Bahnsteig suchte man den Schaffner, der einen in ein besonderes Kinderabteil neben seinem Dienstabteil setzte und am Zielbahnhof bei den Verwandten ablieferte. Das war kostenlos, aber der Schaffner bekam ein Trinkgeld dafür. So kam ich immer in den Schulferien innerhalb von wenigen Jahren nach Ulm, München, Oberstdorf, Nürnberg, Aschaffenburg, Wiesbaden und Münster. Nur einmal klappte es nicht reibungslos. Meine Verwandten in München hatten mich verpasst und ich fiel der Bahnpolizei auf, die mich mit auf die Wache nahm, mit meinen Eltern telefonierte, die Adresse von Onkel und Tante in München bekam, und mich dann im Streifenwagen dort hinfuhr.
Im Jahr 1957 durfte ich in den Pfingstferien im Juni in die DDR nach Ilmenau fahren. Dort hatte mein Onkel Hubert eine Praxis als Frauenarzt, halbtags war er in der „Alten Poliklinik“, die bereits 1920 erbaut und für die ambulante Versorgung der Bevölkerung da war. In der DDR hatten alle Bürger ein Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung, das auch in der Praxis umgesetzt wurde. Dafür wurden vom Bruttoeinkommen ca. 10% einbehalten, der Arbeitgeber bezahlte ebenfalls 10%. Alle vom Arzt verschriebenen Medikamente waren kostenlos. Die Einfuhr von Medikamenten aus dem nichtsozialistischen Ausland in die DDR war bis 1985 untersagt. Die Familie lebte in einem schönen Einfamilienhaus mit einem großen Garten im ruhigen Ortsteil Rhoda.
Am 8. Juni begann in Köln meine über sechsstündige Zugfahrt. Die Dampflok zog ein paar der damals üblichen Waggons hinter sich her. Es gab nur Abteilwagen, die mit den genarbten dunkelgrün oder dunkelrot bezogenen Sitzen ausgestattet waren. Natürlich ohne Klimaanlage oder Lüftung. Die Fenster mussten von Hand rauf und runtergeschoben werden, um Luft hereinzulassen. Wer an der Türe oder am Fenster saß, bekam ständig Zugluft mit. Reiseproviant war wichtig, da es keinen Speisewagen gab. Über den Köpfen die messingfarbenen, schmalen Kofferablagen. Dort lag auch mein Koffer, der gefüllt war mit Kaffee, Mehl, Zucker, Keksen, Kaugummi, Backzutaten, etwas Obst sowie Turnschuhen, Spielen und Kleidungsstücken für die Kinder. Außerdem hatte ich noch zwei Briefe dabei, einen von meinen Eltern mit der Erlaubnis, zu meinen Verwandten zu fahren und ein Einladungsschreiben meiner Gasteltern, dass ich die Pfingstferien bei ihnen verbringen dürfe.
Unterwegs hielt der Zug einige Male auf offener Strecke, um Güterzüge mit Priorität vorbeizulassen. Vor dem Grenzübergang Bebra-Gerstungen übernahm die Deutsche Reichsbahn den Zug. Hier stiegen auch die DDR-Grenzbeamten ein und begannen mit der Ausweis- und Zollkontrolle. Gleichzeitig wurde für jeden Passagier ein Transit-Visum ausgestellt, das fünf DM kostete. Ich musste auch meinen Koffer öffnen und den Zweck meiner Reise angeben. Nach ein paar Minuten war alles vorbei und die Reise nach Erfurt ging weiter. Hier stieg ich in die Regionalbahn ein und war wenig später in Ilmenau. Die nachfolgenden Informationen habe ich mir aktuell aus dem Flyer von Ilmenau-Tourismus zusammengesucht:
„Die Goethe- und Universitätsstadt Ilmenau [damals 8000 Einwohner] liegt am Nordhang des Thüringer Waldes etwa 30 Kilometer östlich vom Wintersportort Oberhof und ca. 60 Kilometer südwestlich von Weimar. In ca. 500 m Höhe gibt es ein Wechselspiel zwischen der Natur des Thüringer Waldes einerseits und der historischen Altstadt. Einen reizvollen Kontrast bildet der Campus der Technischen Universität als Forschungsstandort und die Verbindung Ilmenaus zu Johann Wolfgang von Goethe, in den beiden städtischen Museen und dem Goethehäuschen auf dem Kickelhahn. Auf kulturellem Gebiet zählt Ilmenau zu den Goethe-Städten Deutschlands. Untermauert wird dies beispielsweise mit dem Goethe-Stadt-Museum im Amtshaus. Die Dauerausstellung präsentiert Goethe als Dichter, Beamten und Naturforscher. Stadt und Landschaft inspirierten Johann Wolfgang von Goethe zu zahlreichen Werken.“
Auf dem Weg vom Bahnhof zum Haus meiner Gasteltern, zwei Kilometer entfernt, war ich begeistert von der Lage Ilmenaus, umgeben von bewaldeten Hügeln. Die historische Altstadt zeugt noch von der Geschichte der Stadt am „Ulmenfluss“ oder am „strömenden Gewässer“, von ihrer ersten urkundlichen Erwähnung 1302 bis zu ihrer Stellung als Exklave des Herzogtums Sachsen-Weimar.
Das einstöckige Haus bot genügend Platz für die privaten Räume und eine gynäkologische Praxis. Es gab neben den Schlafzimmern für die Familie in jedem Stockwerk ein Bad und eine Toilette. Besonders fasziniert war ich von dem großen Wintergarten mit riesiger Bibliothek und Blick auf den wunderschönen Garten, der sowohl als Zier- und Nutzgarten angelegt war. In einer Ecke ein ca. fünf Quadratmeter großer Zierteich mit Seerosen und Goldfischen. Vor dem Abendessen packte ich noch meine Mitbringsel aus, und danach bekam ich die erste Thüringer Bratwurst meines Lebens zu essen. Ich erfuhr, dass sie am 2. Juli 1613 das erste Mal urkundlich erwähnt und von Goethe sehr geschätzt wurde. Der war bekannt als Vielfraß und maßloser Weintrinker. Auch seine Tischmanieren ließen zu wünschen übrig. So manches Mal wurde er nur ein einziges Mal eingeladen. Ein Gastgeber sagte einmal über ihn: „Er frisst entsetzlich.“ Ich sollte noch viel mehr über den großen Dichterfürsten erfahren. Stadt und Landschaft inspirierten Johann Wolfgang von Goethe zu zahlreichen Werken. Er schrieb auf dem Schwalbenstein an nur einem Tag den 4. Akt der Iphigenie. Insgesamt weilte er 26-mal in Ilmenau und verbrachte hier auch seinen letzten Geburtstag.
Am nächsten Tag gingen wir Kinder in den nahe gelegenen Wald zum Pfingstlager der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Ursprünglich war die GST eine Organisation, die vor allem der gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung von technisch und sportlich interessierten Menschen jeden Alters in der DDR dienen sollte. So sollten u.a. Heranwachsenden die Möglichkeit gegeben werden, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. Ältere, erfahrene Mitglieder sollten die unerfahrenen unter ihre Obhut nehmen und unterstützen. Die erforderlichen Mittel, wie z.B. Motorräder, Boote, Lkw, Pkw, Flugzeuge, Funkgeräte, Gewehre, Werkstätten und auch Tiere, wurden größtenteils zur Verfügung gestellt und von den Mitgliedern und fest angestellten Personen gepflegt/gewartet. Schnell wandelte sich jedoch die Aufgabe der GST. Zunehmend rückte der Wehrsport in den Vordergrund.
Die Bedeutung der Organisation wuchs weiterhin vom bloßen Wehrsport zur „Schule des Soldaten von morgen“. Sie betrieb Ausbildungsbasen, Schießstände, führte Wehrausbildungslager und Wettkämpfe durch. Die GST vereinigte in ihren Reihen Jugendliche und Erwachsene beiderlei Geschlechts mit dem Ziel, sie durch den Sport körperlich zu ertüchtigen, mit technischen Kenntnissen auszurüsten und insgesamt für das Militär und internationale Sportwettkämpfe nutzbringende Kenntnisse und Fähigkeiten herauszubilden. Oftmals bot sie die einzige Möglichkeit, bestimmte Sportarten, zum Beispiel Segelfliegen, Motorfliegen, Schießsport, Tauchsport, legal auszuüben. Hintergrund bildete u.a. hier die zweijährige Grund- und Laufbahnausbildung zur Vorbereitung auf den Wehrdienst in Speziallaufbahnen oder als Offizier. Durch die im Wehrdienstgesetz festgeschriebene Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung, ohne die in der Regel der Zugang zu Studium und Berufsausbildung versperrt war, kamen fast alle jungen Männer und Frauen mit der GST in Kontakt, die diese „Übungen“ organisierte, auch wenn sie keine Mitglieder der GST waren.
Ich war begeistert. Wir lernten das Leben und Überleben im Wald, Feuermachen, Unterstände bauen, Orientierung im Gelände, Schießen mit Pfeil und Bogen und mit dem Luftgewehr, Schwimmen im See, Paddeln mit dem Kanu, und es gab jede Menge Sportangebote wie Gymnastik, Tauziehen, Laufen, Nachtübungen etc. Viele Jugendliche hatten Uniformhemden und Halstücher. Morgens war Lagerappell mit Hissen der Lagerfahne und abends Zapfenstreich. Die Verpflegung war kostenlos und ganz nach unserem Geschmack. Auch Eintöpfe oder Gulaschsuppe waren im Angebot. Natürlich auch Thüringer vom Holzkohle-Grill. Die oben beschriebenen hintergründigen Absichten waren mir als 12-Jährigem nicht bewusst, und ich konnte ja nach zehn Tagen wieder in die BRD einreisen. Wenn wir abends ziemlich erschöpft im Haus meiner Gasteltern ankamen, hatten wir viel zu erzählen.
Durch Zufall erfuhr ich, dass es noch Lebensmittel-Grundkarten gab. Die Deutschen in der Sowjetzone mussten also weiterhin mit den Lebensmittelrationen auskommen, die ihnen die Wirtschaftspläne der SED zugewiesen haben. Es sind:
Und wer mit seinen Zuteilungen nicht auskommt – und jede Hausfrau weiß, dass das unmöglich ist – muss zusätzliche Lebensmittel zu überhöhten Preisen in den staatlichen HO-Läden kaufen. Da meine Gastgeber zur Oberschicht gehörten, hatten sie keine Probleme sich ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen.
Zwei Tage später wanderten wir zum Kickelhahn, eingeweiht am 12. Mai 1855. Er liegt ca. 3,5 Kilometer südwestlich von Ilmenau. Mit 861 Metern ist er der höchste Berg des Thüringer Waldes, gekrönt von einem 24 Meter hohen Aussichtsturm. Im Inneren führten 107 Stufen zur Aussichtsplattform. Der Blick auf die sanften Hügel und das Vorland ist besonders bei klarem Wetter atemberaubend. Man sieht den Schneehopf, Oberhof, den Inselsberg, nach Stadtilm, den Singerberg und zu den Gleichbergen bei Römhild. Bereits 1955 statteten 10.000 Menschen dem Kickelhahnturm ihren Besuch ab. 1953 baute man eine Schutzhütte als Raststätte für etwa 60 Personen, um bei schlechtem Wetter geschützt zu sein. In der Raststätte probierten wir zu unseren mitgebrachten Broten zum ersten Mal die Vita Cola, die 1957 auf den Markt kam.
Etwas unterhalb davon liegt im Wald das weltberühmte Goethehäuschen, eine ehemalige Jagdaufseher-Hütte. In der oberen Stube hatte Goethe mit einem Diener acht Tage gewohnt und am 6. September 1780 mit Bleistift einen kleinen Vers an die Wand links vom südlichen Fenster geschrieben.
Quelle: Wikipedia
Wanderers Nachtlied
Über allen Gipfeln Ist Ruh‘, In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest Du auch.
Die Verse (als Faksimile) unter Glas können in dem frei zugänglichen Goethehäuschen in verschiedenen Sprachen nachgelesen werden.
Erst 1815 nahm Goethe das bekannteste Gedicht der Deutschen Literaturgeschichte in seine gesammelten Werke auf. Am 27. August 1831 besuchte Goethe die Jagdhütte ein letztes Mal. Am 22. März 1832 legte er sich zur letzten Ruhe.
Das Häuschen wurde 1870 durch einen Brand vernichtet, nach Zeichnungen originalgetreu wieder aufgebaut und bereits 1874 wieder eingeweiht.
Ich war mächtig beeindruckt von dem Besuch in dem Goethehäuschen und bin später noch ein paar Mal da oben gewesen, um den Hauch der Geschichte hautnah zu spüren.
„Im Goethejahr 1999, zum 250. Geburtstag Goethes, fand vom 18.-22.8. eine internationale Konferenz der renommiertesten Übersetzer aus 21 Ländern statt. Goethes Werke gab es bereits in 60 Sprachen. Am 21. August in den Nachmittagsstunden trugen diese Übersetzer vor dem Goethehäuschen „Wanderers Nachtlied“ in 21 Landessprachen vor, darunter in Afrikaans, Urdu, Tagalog, Singalesisch, Hindi und Gälisch.“
Im Haus meiner Gastgeber verbrachten wir alle bei schönem Wetter die Abende auf der Terrasse, oder wenn es kühler wurde, im herrlichen Wintergarten. Die umfangreichen Buchbestände aus allen Wissensgebieten, aber auch mit Werken der Weltliteratur, zogen mich magisch an.
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