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Stilmerkmale der Tanzwissenschaft
Wie wenig sich Stil gerade im Tanz über qualitativ eindeutige Merkmale bestimmen lässt und definitorisch aus ihnen hervorgeht, zeigt etwa Laurence Louppe in ihrem gedanklichen Parcours über Stile an:
An sich scheint der Stil im Tanz etwas Vages und Ungreifbares zu sein. […] Der Stil ist vollkommen unabhängig von jeglicher formaler Gestaltung: Er liegt nicht im Vokabular und auch in keinem der lexikalischen Parameter der choreographischen Handschrift, sondern innerhalb des Funktionierens dieser Handschrift. Er begnügt sich damit, die Wege zu bestimmen, durch die wir den ›Kern‹ der Bewegung erfassen werden.1
Konzipiert als ein poetologisches Projekt über den zeitgenössischen Tanz erliegt Louppe dem Streben, Stil als Modus von Tanz schlechthin aufzufassen. Stil gehöre demnach einem Unbestimmbaren an und »wäre somit die Seele des Tanzes selbst, die sich in luftiger Art und Weise, in verborgenem Innehalten, an den Grenzen zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit aufhält, diesseits und jenseits der Geste, und somit wahrscheinlich in ihrem Herzen«.2 Mit Blick auf konkrete Bewegungsweisen käme Stil durchaus zur Erscheinung, werde er doch quasi in der tatsächlichen Bewegungsperformance transparent und als ›innere Haltung‹ der Tanzenden bemerkbar. Mit explizitem Rekurs auf Rudolf von Labans ›effort‹-Theorie, die Louppe »als einen der Höhepunkte der ästhetischen Reflexion im Tanz«3 bewertet, gründet eine ›innere Haltung‹ auf einer körperlichen Ausgestaltung der aktivierten und wirkenden Kraftmomente. Tatsächlich qualifiziert Laban ›effort‹ kategorial nach eingesetzten Zeit-, Raum- und ›flow‹-Parametern sowie dem körperlichen Einsatz der Schwerkraft, die dichotomisch gegliedert (plötzlich – allmählich, direkt – indirekt, frei – gebunden, fest – zart) die Bewegung prägen. Aus ihrer Kombination und zusammenwirkenden Beziehungskonstellationen gehen die grundlegenden Antriebsqualitäten hervor, die Laban in acht Typen scheidet (Drücken, Flattern, Wringen, Tupfen, Stoßen, Schweben, Peitschen, Gleiten).4 Der darin jeweils artikulierte ›effort‹ qualifiziert, so betont Louppe, die stilistischen Merkmale der (Tanz-)Bewegungen, gleichwohl die innewohnende ›innere Haltung‹ nicht mit der Bewegungsqualität identisch und dennoch in ihr bemerkbar ist.5
Die zentrale Frage der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Stil als innere Haltung stellt sich für Laban als ein zu gewinnender analytischer und erzieherischer Bewegungszugang, der den Modi der Veränderbarkeit und damit den Methoden der Modifizierung und Optimierung wirkender Kräfte in der Bewegung gilt.6 Labans Bewegungsforschungen richten sich in seiner englischen Exilzeit der 1940er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Ökonomen F. C. Lawrence genau hierauf: Mit Blick auf bewegungsgestützte Arbeitsprozesse werden körperlicher Energieeinsatz und Kraftaufwand der Ausführenden analysiert und ihre Bewegungsabläufe an Hand gewonnener formaler und emotional-psychischer Strukturen trainiert.7 Rückblickend auf ihre Forschungsergebnisse merken Laban und Lawrence im abschließenden Kapitel »Thinking in terms of effort« ihrer Publikation Effort an:
Modern effort research has led to the discovery of the gradual transmutation of actions through the changes of single elements of effort, as, for instance, speed: But motion has more elements than one, and the harmonious interplay of all of them must be taken into consideration if the aim is to determine how far an operation has been performed efficiently.8
Ihre Analysen und Trainingsmethoden richten sich darauf, Nuancierungen in der Bewegungsausführung zu erzielen und einen harmonischen Ausgleich während der körperlichen Beanspruchung zu ermöglichen. Die individuelle Varianz habitualisierter Bewegungsmuster soll verändert und physisch wie mental optimiert werden. Laban und Lawrence heben hierzu wiederholt die Komplexität der ineinander verschränkten Wirkungskräfte aller beteiligten Bewegungsaspekte – ›flow‹, Gewicht, Zeit und Raum – hervor, denn erst ein bewusstes Zusammenspiel aller Aspekte ermögliche das Changieren zwischen den ›efforts‹ in Bewegung. Laban resümiert dieses Verständnis:
Die Fähigkeit einer Person, die Qualität des Antriebs, also die Art und Weise der Energiefreisetzung zu wechseln, indem Zusammensetzung und Abfolge der Komponenten variiert werden – und dies im Zusammenspiel mit den Reaktionen anderer Menschen auf solche Veränderungen –, macht das eigentliche Wesen der Pantomime [als Teil von Tanz – Anm. S. H.] aus.9
Die offensichtliche Differenz zwischen funktionalen und ästhetischen Bewegungsabläufen ist für Laban dabei eine graduelle. Gegenüber anderen hätten Tänzerinnen und Tänzer ein Denken in ›efforts‹ professionalisiert10 und ein Wissen über das changierende Zusammenwirken der Bewegungsanteile ausgebildet, das stilprägend für ihre Bewegung ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum für Laban Stil letztlich in einem qualitativen Vermögen gründet, ein Zusammenspiel differenter Bewegungsanteile als changierendes ›effort‹-Spektrum zu erwirken. So merkt er an:
Ins Auge fallende, ungewöhnliche Bewegungskombinationen markieren häufig die entscheidenden Stellen […], die feineren Stilnuancen werden erst erkennbar, wenn man intensiv den rhythmischen Gehalt der inneren Einstellungen studiert hat, aus denen heraus eine bestimmte Abfolge von Antriebskombinationen entstanden ist.11
Louppe perspektiviert Labans ›effort‹-Theorie unterdessen unter der Frage nach der Sichtbarkeit des Stilistischen, oder genauer unter der Frage, wie Stil als qualitatives Kennzeichen der Körperbewegung bemerkbar wird. Hierzu betont sie, dass Labans grundlegendes analytisches Interesse an den körperlich und individuell geprägten Antriebskräften (›efforts‹) nicht vordergründig der Bewegungsaktion gälte, der sichtbaren Gestalt einer Bewegung oder äußeren Form einer Geste. Seine Forschungen zielten vielmehr auf »qualitative Dispositive, die mit den ›inner attitudes‹ zusammenhängen.«12
Gegen Ende seines Lebens, als das Exil und die visionäre Suche nach dem Sinn der Bewegung ihn vollkommen vom Tanz entfernt haben, interessiert sich Laban nicht mehr dafür, was der Tänzer oder der ›Bewegende‹ tut, sondern dafür, was in seiner Bewegung liegt – und sogar noch vor der Bewegung, in ihrer Initiationsphase, wo sich die qualitativen Schattierungen aufbauen.
Denn besonders durch den stilistischen (qualitativen) Aspekt jener Beziehungsdispositive wird eine Bewegung, tänzerisch oder nicht, zum Träger dessen, was Laban die moralischen oder philosophischen ›Werte‹ (values) nennt, die uns im wahrsten Sinne des Wortes ›begeistern‹ (›animieren‹).13
Stil zeigt für Louppe demnach den ›Kern‹ der Bewegung an und artikuliert eine der Bewegungsperformance vorgängig eingenommene und ausgebildete Haltung, die sich in der Bewegung wirksam zeigt. Es ist eine artikulierte, dem Subjekt zugeordnete Kraft der Verwandlung, die nicht mit einem ›effort‹ identisch und doch aus dem Wissen seiner wandelnden Gestaltungskräfte hervorgeht. Der Modus des Wahrnehmbarwerdens von Stil ist gleichsam einem Aufmerken geschuldet, das gerade nicht der sichtbaren Formgestaltung der Bewegung gilt. Vor dem Hintergrund dieser bewegungstheoretischen Perspektivierung fasst Louppe die qualitative Dimension von Stil folgerichtig als »Subtext«, ja sogar als »wahren Text« der Bewegung, »den man unter der choreographischen Sprache rauschen hört.«14
Die ›Werte‹, die von unseren Intentionen getragen werden, siedeln sich in den Randbereichen des Sichtbaren an und können oft durch eine Geste, das Aushalten einer Dauer oder eine Orientierung im Raum erscheinen.15
Doch was vermag ein solcher Stilbegriff als ästhetischer Denkraum zu leisten, der gleichsam auf einen unsichtbaren und doch wahren Kern von Bewegungen zielt? Louppes Indienstnahme des Stilbegriffs, der einer wirkenden und doch der Sichtbarkeit entzogenen Gestaltungskraft gilt, erfüllt genau jene wissenschaftliche Funktion, die Pfeiffer für den Stilbegriff herausgestellt hat: »Mit ihm kennzeichnen wir die expressive Prägnanz, die von sprachlichem wie nichtsprachlichem Verhalten und Handeln ausstrahlt. […] Im Begriff des Stils versammeln wir nunmehr jene expressiven Reste an Werten und Normen, an Kohärenz und Totalität, ohne welche wir an Phänomenen wohl nicht mehr interessiert wären.«16 Da Louppe mit dem Stilbegriff kein qualitatives bewegungsästhetisches Terrain erschließt, das mit einer tanztechnisch verankerten Bewegungskompetenz der Tanzenden und deren potentiell ausdifferenzierbaren Merkmalen übereinkommt,17 eröffnet sie einen ästhetischen Denkraum, der einem Wahrheitsdiskurs angehört. Hervorgekehrt werden Qualitäten expressiver Prägnanz, deren Wert eine intentionale Haltung im Bewegen beschreibt. Doch hat Louppe weder die von Laban ausgearbeitete tänzerische Verwandlungsgabe zwischen differenten Bewegungsqualitäten im Blick, noch spürt sie einer ästhetischen Struktur von Schönheit nach, die jenseits eines totalitären Denkens eine mitgeführte Ungeheuerlichkeit bedenkt. Um so dringlicher stellt sich die Frage nach der Funktion eines solchen ästhetischen Diskurses, der letztlich einem mystischen Moment tänzerischen Ausdrucks gilt.
Zeitgenössische Perspektiven: Choreographische Handschriften
Zugleich ist zu beobachten, dass zeitgenössische Tanzdiskurse und tanzästhetische Reflexionen über Stil paradoxerweise an Bedeutung verloren haben. Stil fungiert kaum als ästhetischer Denkraum, der über eine Kennzeichnung von Identifikationsmerkmalen einzelner Gruppierungen oder historischen Richtungen hinausreicht. Seine Funktion einer bewegungsästhetischen Differenzfigur zwischen spezifischen Formsprachen, die wie im 18. Jahrhundert gerahmt von Normen einen stilistischen Bewegungscode identifizierbar zu erkennen geben, hat an Bedeutung verloren. Allenfalls werden mit ihm stilistische Bewegungsfiguren im Sinne künstlerischer Handschriften von Choreograph*innen benannt, die im Diskurs eine tanztechnische Identifikation des Stilistischen ersetzen.1 Denn angesichts hybrider Bewegungs- und Tanztechniken, die die einzelnen tanzästhetischen Positionen zeitgenössischer Choreograph*innen prägen, in dem eine Vielzahl sich ergänzender somatischer Zugänge miteinander verbunden werden, erwachsen körpertechnische Konturen im Sinne einer stilistischen Ausprägung nunmehr primär aus der kritischen Reflektion auf choreographische, theatrale oder körperpolitische Maßgaben der tanzenden Körper. Der stilistische Nimbus ihrer explorierten Bewegungsfiguren eröffnet auf diese Weise ästhetische Reflexionsräume, die einem spezifischen choreographisch und theatral verankerten In-Erscheinung-Bringen von Körperbewegungen geschuldet sind. Eine intentionale Haltung der Tanzenden als ästhetischer Fokus, die Louppe beschreibt, ist zugunsten einer bewegungsästhetisch-kontextualisierten, politisch oder ethisch motivierten Arbeit gewichen, die – wie der Beitrag von Christina Thurner verdeutlicht – mitunter selbst die Frage nach dem Stil thematisieren und als Spiel mit Identitätspluralitäten und Weisen der Selbstkonstruktion verhandeln.
TanzStile als ver- und entkörperte Norm: Historische Positionen
Untersucht man indessen historische Stilbildungen im Bühnentanz, so wird auffällig, dass Stile vor allem an der Schwelle eines vollzogenen Stilbruchs bemerkbar werden. Die Relation zwischen spezifischen Vorschriften und ästhetischen Regeln, wie zu tanzen sei, und ihrer aktuellen Ausführung treten in Momenten ihres Überschreitens hervor, wobei die stilistischen Eigenheiten des Tänzers oder der Tänzerin – so zeigen es historische Tanzdiskurse – nicht gänzlich den ästhetischen Kodex verlassen dürfen, um als künstlerische Leistung anerkannt zu bleiben. Doch sind es Momente eines Überschwangs, eines offensichtlichen Übertritts von ästhetischen Vorschriften, mit denen Stilprägungen einzelner Tänzer*innen thematisch werden. Auftritte wie von Auguste Vestris [auch Vestris der Jüngere genannt]1, ein in der Tradition des ballet en action an der Pariser Opéra ausgebildeter Tänzer, kennzeichneten einen solchen Überschwang, der klassifizierte bewegungstechnische und ästhetische Stile unterläuft. Julien-Louis Geoffroy führt in seinem Manuel dramatique (1822) über den Tanz von Auguste im Vergleich zu seinem Vater (Gaetan Vestris) aus:
Dance reached its highest point under Vestris the Elder; if it appears to reach perfection under his son, it is because it amazes more, because it is distorted. Vestris the Younger in fact contributed nothing to what constitutes the true merit of dance, in grace, expression, worthiness of movements, beauty of forms and attitudes; […]. He perfected no essential part of the art, but taking advantage of his extraordinary strength, he mixed that which is true dance with tours de force, which smack of the art of the tumblers, […]. He spurned the earth and the floor, where the true dancer practices his talent; he threw himself into the air, and the boldness of his flight captivated the spectator. […] What was merely corruption was regarded as a wonder of the art, and this mix of jumps and steps, which confound and alter two very different arts, appeared to be a bold and sublime novelty.2
In den Augen der Rezensenten und gebildeten Zeitgenossen verkörperte Auguste Vestris ebenso wie sein Zeitgenosse Salvatore Viganò3 auf nahezu beängstigende Weise ein brillierendes Virtuosentum, das die ästhetischen Prämissen eines einfühlsamen Gestentanzes des ballet en action sprengt. So werden im 18. Jahrhundert zunehmend jene performativen Leistungen einzelner Tänzer und Tänzerinnen bedeutsam, die eine empfindungsvolle Gestalt verkörperten. Jean Georges Noverre schätzte in seinen zahlreichen Berichten über zeitgenössische Tänzer und Tänzerinnen jene, die »frei von aller Affekthascherei« tanzten – wie etwa Marie Sallé (1707–1756), eine Tänzerin der danse sérieuse an der Pariser Opéra der 1730er:
Mlle. Sallé, a most graceful and expressive dancer, delighted the public. […] I was enchanted with her dancing. She was possessed of neither the brilliancy nor the technique common to dancing nowadays, but she replaced that showiness by simple and touching graces; free from affection, her features were refined, expressive and intelligent. Her voluptuous dancing displaced both delicacy and lightness; she did not stir the heart by leaps and bounds.4
Sallé verkörperte einen spezifisch einfühlsamen Duktus, dessen Leichtigkeit nicht dominiert wurde von technischen Raffinements aus kunstvollen jétés, battus und entrechats, wie es dem Tanzstil ihrer Zeitgenossin Marie Carmago nachgesagt wurde.5
Demgegenüber übertritt Vestris’ Tanzstil die seit Mitte des 18. Jahrhundert etablierten Rollenfächer des Bühnentanzes mit ihren klaren dramaturgischen, tanztechnischen und physischen Differenzen. Als eigenständige Darstellungsbereiche wurde eine dem Tragischen zugeordnete danse sérieuse unterschieden von einer dem Komischen zugezählten danse comique und einem komisch-tragischen Tanzstil der danse demi-caractère.6 Die bewegungstechnische Virtuosität von Vestris, die den erhabenen und heroischen Duktus einer danse sérieuse (danse noble) mit den verspielten, eher ausgelassenen Bewegungen einer danse comique und dem leichten Duktus der danse demi-caractère amalgamierte, ließ die normativen Grenzen der Tanzfächer verschwimmen. Vestris’ bewegungstechnischer Übertritt kennzeichnet zwar nicht einen regelrechten Tabubruch innerhalb des ästhetischen Gefüges des Bühnentanzes, da sein Tanzen erkennbar im technischen Kodex des Balletts verwurzelt war, aber seine Auftritte verschoben die Kriterien für eine tänzerische Darbietung im Sinne des ballet en action.
Stil als Arbeit an Erkenntnis
Der Stil ist keineswegs, wie manche glauben, ein Mittel der Verschönerung, ja er ist nicht einmal ein technisches Problem, er ist vielmehr – genau wie die Farbe für die Maler – eine Art des Sehens und Imaginierens (une qualité de la vision), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen. Das Vergnügen, welches uns ein Künstler schenkt, liegt darin, daß er uns ein weiteres Universum kennenlernen läßt.
(Marcel Proust)1
Die Frage nach dem Stil hat für den Tanz inzwischen als ästhetischer Reflexionsdiskurs an Gewicht verloren. Dies ist sicherlich – wie bereits dargelegt – auf einen Verlust einer tanztechnisch identifizierbaren Grundlegung ästhetischer Positionen zurückzuführen, die stilistische Differenzen tragen. Zugleich spiegelt sich der begriffsgeschichtliche Wandel von Stil als ästhetischer Reflexionsraum der Kunst wieder, den Gumbrecht historiographisch nachgezeichnet und dem Bohrer mehrere Essays gewidmet hat.2 Würde man einige der einschlägigen historischen Stildiskurse aufgreifen, mit denen Stil als ein menschliches Vermögen (Buffon), als die künstlerische Kompetenz, das Wesen der Dinge zu erkennen (Johann Wolfgang von Goethe),3 oder als das künstlerische Vermögen zur Visionierung ›anderer Welten‹ (Marcel Proust) aufgefasst werden, so ließe sich die ästhetische Arbeit einiger zeitgenössischen Choreograph*innen (etwa Laurent Chétouane oder Margrét Sara Guðjónsdóttir) als eine stilprägende Arbeit an einem Erkenntnisvermögen der Tanzkunst diskutieren, über sensitiv eingestimmte Körper ein ›weiteres Universum‹ wahrnehmen zu lassen. Eine solche Untersuchung wäre sicherlich lohnend.
Stil, Technik und Risiko – eine kulturhistorische und kulturökonomische Skizze
Wolf-Dieter Ernst
Was ist Stil?
Im Kunstdiskurs ist von Stil traditionell in Hinsicht auf zwei Aspekte die Rede: die fertige, erkennbare Form eines Werkes und seine Herstellungsweise, häufig auch als die Herstellungstechnik bezeichnet. Richard Wollheim etwa spricht von einem erkennbaren Stil dann, wenn ein Kunstwerk – ihm geht es primär um Malerei – eine Form hat, die als entzifferbar und expressiv erscheint.1 In Vincent van Goghs Gemälde Le champ de blé aux corbeaux (Raben über dem Weizenfeld) sehen wir beispielsweise ein Weizenfeld und das soll auch zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens ist ein erkennbarer Stil davon abhängig, ob der Künstler über anerkannte Techniken und deren Beherrschung verfügt. Van Gogh verfügte bekanntlich über eine Maltechnik, die zwar als eigen, aber durchaus als anerkannt gilt. Er stand nie im Ruf ein Dilettant zu sein. Ein Kind hingegen, so Wollheim, dass in Graham-Technik tanze, kopiere nur diese professionelle Tanztechnik, da es der ›rohen Sexualität‹ dieser Technik kaum gerecht werden könne. Auf dieses Bild übertagen heißt das: ein Kind, das im Van-Gogh-Stil malt, teilt nicht dessen existenzielle Dramatik. Dieses Kind also folgt keinem Stil, auch wenn es über Technik verfügen mag.
Wollheims Stilbegriff setzt voraus, dass ein Kunstwerk eine klare Form, eine eindeutige Autor- und Könnerschaft und eine tradierte Herstellungsweise aufweist. Diese Bedingungen sind durch avantgardistische Strategien der Kunstproduktion allerdings konterkariert und auch unterminiert worden. Ein bekanntes Beispiel mag dieses Problem und seine Relevanz für die Bestimmung des Stilbegriffs verdeutlichen: Marcel Duchamps Fountain.
Generischer und persönlicher Stil nach Duchamp
Das Ready-made Fountain, das Duchamp 1917 zur Ausstellung der Society of Independent Artists in New York einreichte, weist keinen klaren generischen Stil mehr auf, denn es handelt es sich um ein Serienprodukt industrieller Fertigung. Seine Gestaltungsprinzipien und Herstellungstechniken wurden außerhalb des Feldes der Kunst bestimmt und vorrangig wohl nach außerkünstlerischen Kriterien wie Haltbarkeit, Nützlichkeit, Marktakzeptanz etc. ausgerichtet. Der Künstler ist also nicht an der Herstellung des Objektes beteiligt, wohl aber an der Auswahl und seiner Ausstellung im Feld der Kunst. Denn, wie sich später herausstellt, veranlasst Duchamp, dass dieses Serienprodukt für eine Ausstellung eingereicht wird und erklärt es damit entsprechend seiner künstlerischen Strategie zur Kunst. An die Stelle eines generischen Stils tritt ein persönlicher Stil.
Mit dieser Geste aber bringt Duchamp die Jury der »Gesellschaft der Unabhängigen Künstler«, die über die Hängung der Exponate entscheidet, in eine unmögliche Situation. Hatte die Gesellschaft noch im Geiste der Sezession sich dazu verpflichtet, alle Einsendungen in alphabetischer Reihe auszustellen, so muss sie nun darüber entscheiden, ob dieses Alltagsobjekt kunstwürdig ist, wiewohl es offensichtlich nicht vom Künstler hergestellt, wohl aber dezidiert signiert ist: Am oberen Rand ist mit schwarzer Farbe der Name »R. Mutt« aufgebracht. Das war nicht zu übersehen. R. Mutt allerdings war als Künstler nicht in Erscheinung getreten.
Geht man davon aus, dass die Signatur eines Kunstwerkes lesbar sein sollte, so verlieh dieser Akt der Signatur dem Objekt eine wundersame räumliche Drehung um 90 Grad und führte natürlich eine gesittete Benutzung als Pissoir ad absurdum. Die Frage war nun: Reichen diese Eingriffe aus, das Objekt zum Kunstwerk zu machen und es damit auch den tradierten Kunstwerken und Kunststilen zur Seite zu stellen?
Bekanntlich wurde das Objekt zunächst von der Kommission, der Duchamp zwar selbst angehörte, bei deren Entscheidung er aber nicht zugegen war, abgelehnt und verschwand hinter einem Vorhang. Es wurde niemals ausgestellt, so dass die Geste der Einreichung als künstlerische Äußerung von der Genese des Werkes und einer stark verzögerten Rezeptionsgeschichte zu differenzieren ist. Das Werk, die künstlerische Autorisierung und die Rezeption weisen dabei sehr unterschiedliche Valenzen auf.
Was geschah mit dem Werk? Der in den Coup eingeweihte Mäzen Duchamps, Walter Arensberg, verlangte es nach der Ablehnung zu sehen und erstand es kurzerhand. Diese erste Version gilt freilich als verschollen (was für einen Massenartikel natürlich eine einigermaßen komische Anmerkung darstellt). Es wurde allerdings zuvor von Alfred Stieglitz fotografiert. Seinen Ausstellungscharakter bekam das Objekt zunächst wohl eher über diese Fotografie, positioniert in Bildmitte auf einem Sockel und in einer Perspektive, die der gebräuchlichen diagonalen Draufsicht auf ein Pissoir widerspricht. Hervorgehoben sind vielmehr die geschwungene, dem körperlichen Organ entgegenkommende Form des Beckens im oberen Bildteil sowie die dunklen Zu- und Abflusslöcher in der Bildmitte, denen vorne links die Signatur zur Seite steht. So inszeniert und von Stieglitz als »Fountain by R. Mutt«, also mit ›Brunnen‹, ›Wasserspiel‹, ›Quelle‹ oder ›Ursprung‹ betitelt, scheint das Objekt weniger eine Flüssigkeit aufzunehmen, als dass ihr etwas entspringt. Repliken des Fountain wurden 1951 und 1964 gefertigt, ein Modell dieses Ready-mades war bereits Teil des von Marcel Duchamp gefertigten Koffermuseums Boîte-en-Valise (1941)1.
Wie verhält es sich mit der Autorschaft? Der Künstler Marcel Duchamp gibt sich erst sehr verzögert und indirekt als derjenige zu erkennen, der den Coup lancierte, eigentlich erst in der Zeit der verstärkten musealen und publizistischen Aufmerksamkeit, die seinem Œuvre in der Nachkriegszeit gewidmet wurde. Weder in der Zeitschrift The Blind Man (1917), in der der Fall Richard Mutt besprochen wurde und die von Beatrice Wood, Henri-Pierre Roché und Duchamp, der unter dem Pseudonym »Totor« fimierte, herausgegeben wurde, noch in dem von Guillaume Apollinaire geschriebenen Artikel Le Cas de Richard Mutt (1918) wird Duchamp oder das Fountain namentlich erwähnt. Hervorgehoben wird vielmehr die Geste des Ready-made an sich, betont wird die Wahl und die Idee der Umfunktionierung, also die neue Form einer Autorschaft und eines persönlichen Stils losgelöst vom Kunstprodukt.
Wenn die Autorenstrategie und die Werkgenese quasi ihr Eigenleben führen, verwundert es wenig, dass die Rezeption von Fountain und die sich daran anknüpfenden Verweise erst allmählich ihre Wirkung entfalteten – in diesem Fall über Dekaden hinweg. Thomas Zaunschirms Anfang der 80er Jahre vorgelegte ikonografische Lesart jener Ready-mades, die er parallel zu Duchamps erstem Hauptwerk, Le Grande Verre (Das Große Glas, 1915 – definitiv unvollendet 1923) liest, legt nahe, in Fountain mehr als nur die Geste einer paradoxalen Autorisierung zu sehen. Dazu gäbe es zu viele Verweise auf andere Ready-mades und Werke Duchamps. Bereits 1918 werde ja, so Zaunschirm, von Duchamp mittelbar in der Zeitschrift The Blind Man enthüllt, dass hinter dem »R.«, dem Vornamen des unbekannten Künstlers, der Name »Richard« stecke. Mit Duchamps Interesse an Sprache und ihren Übersetzungen und Homonymen, so Zaunschirm, werde Richard somit lesbar als ›rich art‹ oder als ›richard‹, was französisch ›ein reicher Kauz‹ ist, welche/r ›Mutt‹, englisch für Trottel, lautsprachlich aber auch für französisch ›mat‹ (= matt, müde, ermüdet sein) steht, oder auch für ›matt gesetzt‹, französisch ›échec et mat‹, wenn man Duchamps Karriere als Schachspieler in die Waagschale wirft, auf die er immer wieder in seinem Werk verweist. Oder ist es ein Verweis auf ›mud‹ im Sinne von Dreck, Schlamm, wenn man der Analogie von ›art‹ und ›merde‹ folgt, die Duchamp in seinen Notizen von 1914 anstellt?2
Die kunstphilosophische Rezeption dieses Falls durch Thierry de Duve3 hingegen interessiert sich nicht für die ikonografischen Bedeutungen und Verweise auf Duchamps Werk. In dieser Interpretation steht der Coup stellvertretend für die Tendenz der modernen Kunst, die Theorie des ästhetischen Urteils nach Kant auf die Probe zu stellen. Wenn jeder Mensch und nicht nur professionelle Künstler dazu in der Lage seien, so de Duve, einen Alltagsgegenstand zu signieren und zur Kunst zu erklären, so verweise das auf eine radikale Demokratisierung des Kunsturteils. Nicht Jurys, Experten, Künstler und professionelle Kräfte des Kunstmarktes, sondern eben jeder sei notwendig verpflichtet, im Akt der Rezeption ein Urteil zu fällen, bzw. bestehende Urteile zu übernehmen oder zu verwerfen. Die Stilfrage wird in dieser Linie der Rezeption nun radikal an den Betrachter zurückgespielt, wobei dann über Ästhetik und Stil notwendig gestritten werden muss.
Vielleicht aber muss man auch die Rezeption noch einmal nach Interessengruppen differenzieren. Niemand, nicht einmal Duchamp, empfand es als stillos, dass das Werk verschollen und die Aufregung um den Fall von relativ kurzer Dauer war. In der ihm eigenen Haltung der Indifferenz hatte Duchamp zwar spezifische Fährten für die Rezeption der Ready-mades ausgelegt, deren Rezeption als Kunstwerk und seine Autorschaft daran jedoch sicher nicht forciert, weil er sie als eine Form ansah, »Ideen abzuladen«4 und nicht als neuen Stil propagierte. So muss also angenommen werden, dass die Künstlerszene, in der Duchamp verkehrte und in der er als etwas enigmatischer Kollege hohe Aufmerksamkeit genoss, das Fountain und das Motiv der Alltagsgegenstände in der bildenden Kunst auch von anderen Künstlern her kannte, wie etwa in Francis Picabia Amorous Parade (1917), Morton Schambergs God (1918) oder Man Rays Man (1918). Ein Alltagsgegenstand im Feld der Kunst erregte also bei Insidern möglicherweise keine besondere Beachtung. Von einer breiteren Öffentlichkeit wurde Fountain erst aufgenommen durch eine sich selbst verstärkende Rezeption, in der der Coup einmal mehr kolportiert wurde und sich die diversen Bezüge allmählich herauskristallisierten, die hinter der Signatur steckten. Damit wurde allerdings zugleich deutlich, dass weniger die Herstellungstechnik, sondern mehr die Zuschreibung eines persönlichen Stils auf Duchamp ein Kriterium der Kunstbewertung geworden war.
Für die Frage nach der Funktion des Stilbegriffs hat dieser Coup zwei gravierende Folgen: Seit Duchamps Ready-made verliert das von Wollheim aufgemachte Bestimmungsmerkmal, die Beherrschung einer anerkannten Technik, zunehmend an Bedeutung. Die Serialität in der Pop Art, das Sampling in der Musik, die soziale Plastik bei Beuys oder die Institutionskritik in der Body Art wären weitere Beispiele für diese avantgardistische Strategie.
Seit Duchamps Ready-made ist zugleich eine Tendenz zu Individualisierung und damit auch eine Ausweitung des Stilbegriffs auf ästhetische Phänomene aller Lebensbereiche zu beobachten. Selbstverständlich ist von Lebensstil, Erziehungsstil, Programmierstil, Fahrstil etc. die Rede. Stil wird in dieser Denklinie zu einem Synonym für Haltung, sei es eine kritische oder affirmative. Der Philosoph Richard Shustermann spricht in diesem Sinne von einem »personal style«.5
Gilt also eine umfassende Personalisierung und Verinnerlichung des Stilbegriffs, wie es der Sinnspruch »Mode muss man kaufen, Stil muss man haben« nahelegt? Oder gilt umgekehrt, dass Stil eigentlich ein Synonym für Technik geworden ist, dem die Haltung des Künstlers oder der Künstlerin kontrastiv zur Seite gestellt wird? Von dieser Beobachtung ging immerhin das Symposion Das Rauschen unter der Choreografie – Überlegungen zu ›Stil‹ aus. Im Konzept der Veranstaltung wird dabei ein Auseinanderdriften von alltäglichem und künstlerischem Gebrauch des Stilbegriffs konstatiert und letzterem dabei attestiert, – zumindest im Tanz – »keine attraktive Kategorie mehr zu sein«6. Der folgende Beitrag ist diesem Wandel des Stilbegriffs gewidmet, der in einer die Künste vergleichenden Perspektive dargelegt wird. An Beispielen der bildenden Kunst, der Schauspielkunst, des Tanzes und der Architektur wird aufgezeigt, in welcher Weise der generische Stil in eine Krise gerät. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich nicht um ein Oberflächenphänomen handelt. Vielmehr kann am Bedeutungsverlust des Stilbegriffs eine neoliberale Öffnung und Individualisierung des vorherrschenden Verständnisses von künstlerischer Tradition aufgezeigt werden, die auch das Verständnis von künstlerischen Techniken insgesamt erfasst. An die Stelle der Berufung auf eine künstlerische Tradition und ein tradiertes Handwerk tritt nun, vereinfacht gesagt, die Spekulation auf eine zukünftige Akzeptanz der eigenen Kunst. Dieser grundlegende Zusammenhang zwischen Individualisierung und Technikverständnis wird mit Blick auf Überlegungen des Soziologen Ulrich Beck eingeführt, um der aktuellen Stildiskussion – nicht nur im Tanz – eine historische und soziologische Dimension zu verleihen. Denn keineswegs geht es in der Bewertung des Stilbegriffs nur um eine auffällige Verkehrung, die darin bestünde, dass einige Künstler den Stilbegriff ablehnen, während eher traditionsbewusste und einem Kanon verpflichtete Künstler dies nicht tun und wiederum in den Populär- und Alltagskulturen fröhlich eine (Selbst-)Stilisierung betrieben wird. Grundlegender als dieses Für und Wider der Stilbestimmung ist die kulturökonomische Machtfrage, die ja bereits Duchamp implizit zum Gegenstand seiner Intervention machte: Welche gesellschaftlichen Zusammenhänge bestimmen, ermöglichen oder verhindern die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale und nach welchen Regeln wird Stil zu- und umgeschrieben oder auch verweigert? Diesem Zusammenhang soll in vergleichender, historischer Perspektive nachgegangen werden.
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