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1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

3 – editorial Wonach suchen wir? von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch In meine Kraft kommen Katharina Schenk im Gespräch mit Renée Herrnkind

5 – thema Das Gelassenheitsgebet und einige andere Tugenden von Jean-Claude Lin

6 – augenblicke Der Stoff, aus dem die Zukunft ist von Julia Meyer-Hermann

7 – kultur phänomenall Was für ein Schauspiel! von Karin Kontny

8 – erlesen Valérie Zenatti «Im Bund der Lebenden» gelesen von Christa Ludwig

9 – mensch & kosmos Der Ruf von oben von Wolfgang Held

10 – unverblüht Die Christrose. Ist es «öd und winterlich»? von Elisabeth Weller

11 – kalendarium Januar 2022 von Jean-Claude Lin

12 – zwölf stimmungen des ich In der Kraft der Gegegnwart von Jean-Claude Lin

13 – blick groß in die geschichte Die andere Urkatastrophe (Teil 2): Ein Trauma und ein Mythos von Konstantin Sakkas

14 – kindersprechstunde Ankommen im Körper – und der Welt von Genn Kameda

15 – ansichten Der Neubeginn von Franziska Viviane Zobel

16 – von der zukunftskraft des unvollendeten Der Berge Grenzen von Konstantin Sakkas

17 – hier spielt die musik Das Konzert von Sebastian Hoch

18 – wundersame zusammenhänge «Alles ist austragen» von Albert Vinzens

19 – literatur für junge leser Sally Gardner «Unsichtbar im hellen Licht» gelesen von Simone Lambert

20 – mit kindern leben Ein gutes neues Jahr von Bärbel Kempf-Luley und Sanne Dufft

21 – sudoku & preisrätsel

22 – weiterkommen Er hörte seinen Namen Dan Lindholm

23 – den hof machen Morgens um 6 im Melkstand von Renée Herrnkind

24 – suchen & finden

25 – ad hoc Verschlungene Fäden des Lebens von Jean-Claude Lin

26 – bücher des monats

27 – impressum


3 – editorial

wonach suchen wir?

Liebe Leserin, lieber Leser!

Suche nicht nach Glück», schreibt der Freediver Alex auf einer Postkarte an seine jüngere Schwester Hebe in dem um einige Lebensweisheiten nicht gerade verlegenen Debütroman Schattenbruder der jungen Reiseschriftstellerin Iris Hannema – und er fährt fort: «so dringend brauchst du es nicht. Suche nach allem anderen.» Und in der Tat: Wenn ich etwas verloren habe, dann bin ich glücklich, wenn ich das Verlorene wiederfinde, dieses ganz Konkrete, nicht irgendetwas anderes. Wenn ich ein Vorhaben zu seiner geglückten Ausführung bringe, dann bin ich glücklich. Wenn mir aber gar kein Vorhaben einfallen will und ich mit mir nichts anzufangen weiß, dann bin ich unglücklich. Wenn ich mich nach der großen Liebe sehne, aber den Menschen nicht finde, bei dem diese Liebe keimen, wachsen und blühen kann, dann bin ich kreuzunglücklich. Auf das Finden dieses einen Menschen kommt es an – nicht auf das Glück. Das Glück stellt sich erst ein bei einer erfüllenden Tätigkeit, beim Finden. Es ist ein Geschenk des Lebens.

So werden wir zu einem «Schmied des eigenen Glücks», wenn wir Befriedigung am Schmieden empfinden. Das ist entscheidend im Leben: jene Tätigkeit finden und ausüben zu können, die uns erfüllt oder deren Sinn wir darin erleben können, dass sie das Bedürfnis eines anderen Menschen erfüllt.

So haben wir uns in der Redaktion dieses Lebensmagazins nicht in erster Linie gefragt, wie glücklich können wir Sie, liebe Leserin, lieber Leser, stimmen, sondern: Was ist in dieser Welt bemerkenswert, das noch nicht so wahrgenommen werden konnte? Beziehungsweise: Was könnte dazu beitragen, dass ein jeder Mensch diejenigen Tätigkeiten in sich und für andere finden und ausüben könnte, die das Leben fördern und stärken? Aber wir hoffen sehr wohl auch, dass Sie an dem einen oder anderen Beitrag ein befriedigendes, auch glückbringendes Erlebnis haben, weil Sie etwas wahrnehmen können, was bereichernd, erweiternd, anregend – ja, impulsierend wirkt. So beispielsweise, wenn wir in unserem Gespräch mit Katharina Schenk lesen können: «Ich bin meinen Eltern unfassbar dankbar dafür, dass sie mich immer gelehrt haben, dass ich nur die Dinge tun kann, die ich tun kann und gerade tun muss. So komme ich in meine Kraft.» – Auch das ist vielleicht ein Ausdruck von Glück: «in meine Kraft kommen». Mögen wir alle im neuen Jahr zum heilen Fortgang dieser Welt in unsere Kraft kommen!

Von Herzen grüße ich Sie zum neuen Jahr, auch im Namen meiner Kollegin Maria A. Kafitz,

Ihr



4 – im gespräch


in meine kraft kommen

Katharina Schenk im Gespräch mit Renée Herrnkind

Fotos: Wolfgang Schmidt

Vor fast 30 Jahren sind Beatrice und Matthias Schenk mit ihren Kindern Katharina und Johannes samt ihrem von Kükelhaus inspirierten Wanderzirkus auf dem Freudenberg in Wiesbaden heimisch geworden. Sie haben das heruntergekommene Schloss und den verwunschenen Park wach geküsst. Stationen und Kunstwerke faszinieren Besucherinnen und Besucher und inspirieren das Wahrnehmen über die Sinne. Jetzt hat Tochter Katharina das Zepter übernommen und führt das Projekt mit ihrem Team, zu dem auch ihr Bruder Johannes und ihr Mann Max gehören, in die Zukunft. Mit künstlerischer Leichtigkeit geht sie den Generationswechsel an. Augenzwinkernd frech weitet sie die Freiheit, die hier immer ein wesentliches Element war, und vernetzt sich mit einer jungen Kultur-Szene. In Verbundenheit kann sie auf das bewährte Team bauen und zudem neue Verbündete integrieren.


Renée Hernnkind | Ihre erste Inszenierung im Schloss trägt den Titel «Das Schloss darin sich Schicksale kreuzen». Steht das nicht für weit mehr als das Theaterstück, für Ihren Lebensweg und die Dynamik des Erfahrungsfeldes?

Katharina Schenk | Ja, da wirken offenbar starke Schicksalskräfte (lacht). In dem Stück nutzen wir jeden geeigneten Raum des Schlosses. Überall treffen die Besucherinnen und Be­­sucher auf einen Bewohner oder eine Bewohnerin. Sie stellen einen eventuell vor eine Aufgabe – oder vor gar nichts. Da liegt etwa in der alten Bibliothek unter der holzvertäfelten Decke mit allen vier Elementen, der Sonne und dem Mond unser Barkeeper aus der Dunkelbar, Sebastian Riese, im Stroh – und wer von den Gästen mag, legt sich zu ihm. Der blinde Mit­arbeiter lässt sich von den Sehenden den Himmel «zeigen». Jede und jeder ist Teil, kann eintauchen in das Stück. Wir heben die Trennung von Schauspielern, Zuschauern, Regisseur auf. Alle stehen im Stück, sind nicht davor oder dahinter, sondern darinnen. Das ist für mich ein Leuchtstern der Entwicklung. Jede kann hier leuchten, kann mitwirken. Ich bin Regisseurin meines Lebens, alles liegt in meiner Hand. In diesem Jahrmarkt der Verführungen kann ich wahrnehmen, was ich möchte, und sein lassen, was nicht zu mir passt. Das ist eine ansteckende Haltung so zu leben, das ist alternativlos.

RH | Der Freudenberg-Barkeeper hatte für Sie ja ganz persönlich eine schicksalhafte Bedeutung …

KS | … vor allem für meinen Mann Max. Ich habe Max während meiner Berliner Zeit an der Schauspielschule kennen­gelernt. Er ist Kontrabassspieler und Tontechniker. Bevor es mit uns beiden richtig ernst wurde, habe ich ihm den Freudenberg gezeigt, diesen Ort zugemutet. Er war sofort fasziniert. Und als er hörte, dass das blinde Paar aus der Dunkelbar seine Hochzeitsreise nicht antritt, weil niemand die Vertretung übernehmen kann, hat er spontan entschieden: «Ich mach, das.» Wir haben in Berlin in U-Bahn-Stationen trainiert, damit er fühlend die Euro-Münzen unterscheiden lernte. Aus den 14 Tagen Vertretung wuchs dann seine Entscheidung, in Wiesbaden zu bleiben. Ein Jahr hatten wir eine Fern­be­ziehung, weil ich in Berlin am Theater meinen Vertrag erfüllen wollte.

RH | Und wann reifte bei Ihnen der Entschluss, zurückzukehren an den Ort Ihrer Kindheit?

KS | Schlussendlich hat mich das Theater hier hin geschubst. 2015 hatte ich in Kiew ein Theater-Kollektiv gegründet. Die Arbeit mit sechs ukrainischen Schauspielerinnen und Schauspielern war eine ungeheuer intensive Erfahrung. Sie haben sich mit Körper und Seele reinfallen lassen in die Spiellust. Für mich als Künstlerin hat sich der Himmel geöffnet. Schwierig wurde es erst, als ich sie dann nach Deutschland einladen wollte. Im klassischen Theater scheiterte das an der Bürokratie. Was lag da näher, als auf dem Freudenberg zu zelten, zu arbeiten und die Freundschaft zu vertiefen? Im Sommer 2016 haben wir in der Ausstellung mitgewirkt und jeden Nachmittag einen Fluxus geboten. Diese Form der Aktionskunst ist ja in Wiesbaden entstanden – und ich finde sie heute notwendiger denn je. Zentral ist dabei die schöpferische Idee. Wir arbeiten mit dem, was da ist. Dafür gibt es rund ums Schloss Freiraum und Nährboden. In dieser Zeit habe ich auch einen Lebensruf gehört, eine Aufgabe gespürt, hier im Erfahrungsfeld der Sinne auch zukünftig tätig zu werden.

Katharina und Matthias Schenk – für Tochter und Vater eröffnen sich stetig kreative Räume, weiten sich Orte zu freien Erfahrungsfeldern.


RH | Sie hatten in Berlin aber bereits Wurzeln geschlagen, wollten auf der großen Bühne stehen – oder?

KS | Den Traum hatte ich mir ja schon erfüllt. Also: Häkchen dran. Und dabei die Enge des Theaterbetriebs durchaus gespürt. Aber es stimmt, Berlin war mir Heimat geworden, das Schloss war weit weg, die Knospen waren für mich in Berlin aufgegangen. Meine Eltern waren damals bereits im Prozess der Übergabe und ich selbst hatte mich da gar nicht gesehen. Es gab auch keinerlei Druck von Matthias und Beatrice.

RH | Und dann wurden Sie ausgerechnet vier Wochen vor dem Corona-Lockdown Geschäftsführerin von Schloss Freudenberg.

KS | Das war ja beinahe ein Dé­jà-vu. Wir saßen vor dem Feuer im Kamin in der Schlosshalle. Max hatte aus Ersparnisgründen bereits die Heizung abgestellt. Wir mussten uns auf eine völlig unerwartete Situation einstellen. Vor fast 30 Jahren saß ich als Kind mit meinen Eltern und meinem Bruder am Abendbrottisch im Schloss, der Regen prasselte neben uns auf den Boden, es gab keine Fenster ohne kaputte Scheiben, das Dach war undicht. Meine Eltern waren Wahnsinnige, hier ohne Wasser und Strom einzuziehen. Sie hatten aber die Kraft, mit dem Gefühl zu starten, morgen eröffnen wir hier das Erfahrungsfeld. Ich glaube, diese Circus-Idee – jeder und jede wächst über sich hinaus, alle sind sicher und warm, in der Gemeinschaft lebt unser Traum –, die trägt uns. Und tief in mir trage ich dieses Bild seit Kinder­tagen. Es war phantastisch, mit dem alten Holz-Circuswagen unterwegs zu sein, ge­mein­sam das Zelt aufzubauen, zusammen­zu­stehen in der Gruppe, Körper und Geist vorzube­reiten auf die Gäste. Das ist eine fortlaufende Sehnsucht in mir geblieben. Es war grandios, wie wir als Familie dann zu meinem von Corona getrübten Start als Geschäftsführerin genau dieses Gefühl abrufen konnten. Das ist eine phantastische Kraft.

RH | Eigentlich haben Sie jetzt drei Hüte auf. Den der Geschäftsführerin, der Schauspielerin und der Regisseurin.

KS | Meine Erfahrung als Künstlerin, meine Ausbildung im Schauspiel-Handwerk sind wertvoll und prägend. Das Erfahrungsfeld war mir oft etwas zu streng. Zu viel Hirn – Goethes Farbenlehre, der Satz des Pythagoras … Zu wenig Freude, Sinnlichkeit und Genuss. Ich lebe in dem Bewusstsein, alles ist Kunst, wenn es geliebt und bedacht wird. Kunst kündigt an, was wir noch nicht verstehen. Etwas, was schon da ist. Daran anzuknüpfen ist die Aufgabe der Kunst. Und daran kann ich in meiner Aufgabe als Geschäftsführerin anknüpfen. Und ich stelle die Frage: Was braucht das Schloss, was brauchen die Menschen, damit sie herkommen und erfüllter gehen? Was brauchen die Einzelnen im Team, um zu leuchten? Ich will sehen, wer, wo, wie dran ist. Das ist ja auch eine Kunst. Meine künstlerische Tätigkeit ist frei von Bedingungen, von Muss und von Gelddruck. So kann ich die Kunst beschützen, denn die Kunst rettet uns. Wenn man im künstlerischen Prozess das Finanzielle und Bürokratische mitdenken muss, kann es keine Kunst werden. Wie kriegen wir das hin, uns davon wieder zu befreien? Wenn das Schöpferische zur Ware wird, dann ist aus. Kunst muss lebensrelevant sein, kein Luxus, sondern Lebenswirklichkeit. Und dann widme ich mich der anderen Seite. Ich finde Antworten für die Fragen, was kostet das, wie bekommen wir die Genehmigungen? Das ist die große Aufgabe als Geschäftsführerin und als Mitwirkende in diesem Gesamtkunstwerk. Beides darf miteinander existieren, ohne zu konkurrieren. Vielleicht so wie die klassische Aufgabe der Regisseurin. Dafür zu sorgen, dass alles seine Berechtigung hat. Was fehlt, wie machen wir den nächsten Schritt, wie stimme ich mich ab – das ist die Sozialkunst, die wir schützen müssen.


RH | Und hat Corona da brutal dazwischengefunkt?

KS | Ich kann es sogar als Vorteil ansehen, dass die aktuelle Zeit buchstäblich alles auf den Kopf gestellt, den Null-Zustand mitgebracht hat. Wir mussten alles neu denken, alle Gewohnheiten waren radikal beendet. Ich bin meinen Eltern unfassbar dankbar dafür, dass sie mich immer gelehrt haben, dass ich nur die Dinge tun kann, die ich tun kann und gerade tun muss. So komme ich in meine Kraft. Diese Konzentration auf das, was ich gerade kann, befreit von der Angst vor Veränderungen. In uns liegt die Lösung. Als Erstes haben wir ein Automatentheater eröffnet, die Puppen tanzen lassen. Dazu dann unseren Waldkiosk. Der wurde ganz schnell zum Umschlagplatz, nicht nur für Hummeln und Bienen, sondern für Menschen. Sie kamen mit Instrumenten, in Kostümen, stellten ihre Bilder aus, tanzten in diesem verrückten Corona-Sommer. Es war ein Jahrmarkt für Groß und Klein, inklusive Demeter-Pommes und -Eis. Realitäts- und Möglichkeitssinn haben zusammen Party gemacht. Dann haben wir vier Stücke inszeniert, neue Stationen gebaut, richtig große Sachen gemacht wie das so lang ersehnte Wasserwerk aus alten Treppensteinen, den Zukunftswald gepflanzt. Ja, uns wachsen die Bäume aus dem Himmel entgegen. 2000 Eicheln wurden nach Planetenkonstellationen in die Erde gebracht. Unzählige freiwillige Helferinnen und Helfer kamen dazu, haben sich anstecken lassen von der Idee. Friday for Future hat ein Klimacamp errichtet. Das, was mir am Herzen liegt, das Überschreiten aller Genres, das gelingt schon. Die innere Haltung verbindet uns.

RH | Das ist ein volles Programm, das Sie da stemmen – selbst jetzt mit dem Babybauch.

KS | Wir sind ein phantastisches Team. Wir üben, wie wir uns streiten, wie wir uns aufteilen, damit jede und jeder am richtigen Platz ist. Es ist uns leicht gefallen, zu sagen: Jetzt erst recht. Natürlich waren wir auch erschöpft, aber die Arbeit mit allen Möglichkeiten menschlicher Potenziale gibt uns Kraft. So wollen wir dem Schloss Flügel verleihen. Wir bleiben wach aneinander und besonnen. Das belebt uns. Hier entsteht eine Lebenstankstelle. Der Berg ist voller Aufgaben – und Menschen sind bereit, sie zu ergreifen. Was uns fehlt wegen Corona ist die Möglichkeit, das mal gemeinsam so richtig groß zu feiern – das holen wir auf jedem Fall nach. In der Fülle nicht diesen Moment verpassen, um gemeinsam inne zu halten.

RH | Generationswechsel sind eine große Aufgabe. Was braucht es, damit er auf dem Freudenberg gelingt?

KS | Meine Eltern Matthias und Beatrice haben die Revolution der Sinne in den letzten Jahren geprägt. Das betrachte ich mit Respekt und einer Portion Ehrfurcht. Nun lassen sie mir Platz für mein eigenes Motiv. Das ist ein genüsslicher Moment. Solche Momente passieren in Freudenberg so unfassbar oft. Ich möchte gemeinsam mit allen hier einen Ort schaffen, an dem Vorurteile und Bedenken an der Garderobe abgegeben werden. Ich lade ein zum Nullmoment im eigenen Erleben. Das wird theatralisch, performativ. Jede und jeder wird zum Mitspielenden, gestaltet das Programm. Jedes Schicksal hat Einfluss auf den weiteren Lauf der Geschichte. Selbstvergessen ins Ergebnis fallen, das ist es. Bei Kindern können wir das so schön beobachten, ich sehe es täglich bei meiner dreijährigen Tochter. Das sind heilige Momente.

RH | Was steht in den Sternen am Zukunftshimmel?

KS | Wir stehen gerade vor dem nächsten Wunder. Im Sommer wird der Natur- und Kunstkindergarten hier im Wald aufmachen. Der schwebt seit 30 Jahren über dem Freudenberg. Jetzt ist der Moment dafür. Wir bieten Landebahnen für diese Zukunftsgeschichten, damit sie rumpelig, aber heil auf der Erde ankommen können. Und ich kann hinträumen zu dem, was ich in 30 Jahren hier sehe. Dann soll auf dem Freudenberg ein Geburtshaus und Raum für Sterbebegleitung sein. Das ist meine Sonne, da will ich hinwachsen.

Gesellschaft Natur & Kunst gemeinnütziger e.V. Schloß Freudenberg 65201 Wiesbaden

Tel: 0611 - 41 101 41 E-Mail: kontakt@schlossfreudenberg.de oder: erfahrungsfeld@schlossfreudenberg.de

www.schlossfreudenberg.de


5 – thema

Das GelassenheitsGebet

Und einige andere Tugenden für ein nachhaltiges Leben

von Jean-Claude Lin


«Gott, gib uns die Gnade, mit Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die sich nicht ändern lassen, den Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr trug dieses Gelassenheits-Gebet im Jahr 1943 in einer Predigt in der Union Church von Heath, einem Dorf im Nordwesten von Massachusetts, auf dem Höhepunkt des Krieges gegen Deutschland vor. 1944 wurde das Serenity Prayer, das Gelassenheits-Gebet, wie es die Amerikaner nennen, erstmalig abgedruckt in einem Buch der Gebete und Andachten für die amerikanische Armee – ohne Nennung seines Urhebers. Und Reinhold Niebuhr überließ es ebenso den Anonymen Alkoholikern als Motto für ihre Bemühungen – ebenfalls ohne dass sein Name damit verbunden wurde. So galt es irrtümlicherweise vielen Menschen in den Nachkriegsjahren in Deutschland als ein Musterbeispiel pietistischer Frömmigkeit und schwäbischer Seelentiefe – bis Elisabeth Sifton über den tatsächlichen Sachverhalt in ihren Erinnerungen an ihren Vater Reinhold Niebuhr aufklärte. Sie erschienen 2001 unter dem Titel Das Gelassenheits-Gebet, von Hartmut von Hentig übersetzt, im Carl Hanser Verlag. Bemerkenswert an diesem so einfachen wie tiefgründigen Gebet ist die unmittel­bare Überzeugung, die es beim Aufnehmenden hervorruft. Wer möchte nicht gelassen hinnehmen, was sich nicht ändern lässt? Wer möchte nicht den Mut haben, das zu ändern, was geändert werden sollte? Und wer möchte nicht so viel Weisheit besitzen, dass unterschieden werden kann, was sich ändern lässt und was nicht? Darin liegt aber die Crux: zu wissen, was geändert werden soll, wenn es sich ändern lässt, und was nicht – und dann den Mut entwickeln, um die Welt zum Besseren zu verändern, andernfalls die Gelassenheit zu üben, das Unveränderbare hinzunehmen. Das Gelassenheits-Gebet entstammt zwar dem lebensvollen Nachsinnen und tiefen religiösen Empfinden des evangelischen Gelehrten deutscher Herkunft, Reinhold Niebuhr, doch ist es konfessionsübergreifend. Ja, seine Wahrheit kann selbst dann empfunden werden, wenn man nicht an einen Gott glaubt. Es ist durchaus auch möglich, an sich selbst die Worte zu richten: Lass mich gelassen alles hinnehmen, was ich nicht ändern kann, mutig alles ändern, was ich ändern soll, und die Einsicht erhalten, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dann allerdings wird deutlich, dass wir mittätig sein müssen, dass wir uns selbst um die Einsicht, um den Mut und um die Gelassenheit kümmern müssen, da wir sie nicht von einem außer uns befindlichen Gott erwarten.

Einsicht braucht Geduld – des Öfteren –

und ebenso Fleiß und Ausdauer.

Verwandlung braucht Mut, wie auch

Taktgefühl und die Demut vor allen

Tatsachen.

Gelassenheit braucht den inneren

Frieden mit dem eigenen Schicksal.

In einem der profundesten Werke der Philo­sophie notierte der bescheidene Linsen­schleifer Baruch de Spinoza in seiner Ethik: «Die Tugend ist das eigentliche Wesen des Menschen, insofern er die Macht hat, etwas zu bewirken, was durch die Gesetze seiner eigenen Natur allein begriffen werden kann.» Eine Anregung, das eigentliche Wesen des Menschen in sich und unsere Umgebung zu pflegen und auszubilden, kann das Gelassenheits-Gebet Reinhold Niebuhrs sein. Und auch eine Beschäftigung mit einer der sogenannten «Monatstugenden» wie Mut, Diskretion, Großmut, Demut, inneres Gleichgewicht, Ausdauer oder Selbst­losigkeit – um nur sieben der zwölf zu nennen – und ihren Verwandlungen kann eine für unsere Zeit willkommene An­­regung sein. So können wir immer mehr zu uns finden und gleichzeitig über uns hinaus wachsen.

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382,08 ₽
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111 стр. 52 иллюстрации
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9783772572654
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