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1 – über a tempo

a tempo - Das Lebensmagazin

a tempo Das Lebensmagazin ist ein Magazin für das Leben mit der Zeit. Es weckt Aufmerksamkeit für die Momente und feinen Unterschiede, die unsere Zeit erlebenswert machen.

a tempo bringt neben Artikels rund um Bücher und Kultur Essays, Reportagen und Interviews über und mit Menschen, die ihre Lebenszeit nicht nur verbringen, sondern gestalten möchten. Die Zusammenarbeit mit guten Fotografen unterstützt hierbei den Stil des Magazins. Daher werden für die Schwerpunktstrecken Reportage und Interview auch stets individuelle Fotostrecken gemacht.

Der Name a tempo hat nicht nur einen musikalischen Bezug («a tempo», ital. für «zum Tempo zurück», ist eine Spielanweisung in der Musik, die besagt, dass ein vorher erfolgter Tempowechsel wieder aufgehoben und zum vorherigen Tempo zurückgekehrt wird), sondern deutet auch darauf hin, dass jeder Mensch sein eigenes Tempo, seine eigene Geschwindigkeit, seinen eigenen Rhythmus besitzt – und immer wieder finden muss.

2 – inhalt

1 – über a tempo

2 – inhalt

3 – editorial Abschied und Heimkehr von Jean-Claude Lin

4 – im gespräch Dunkle Zeiten, erhellende Gedanken Markus Gabriel im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

5 – augenblicke Von ganz außen ins Innerste. Die Artothek in Hannover von Julia Meyer-Hermann

6 – verweile doch Bethlehem ist überall von Brigitte Werner

7 – erlesen Tove Janson – Meisterin der präzisen Sprache gelesen von Anne Overlack

8 – thema Anfang udn Ende. Oder: Was mich auch heiter stimmen kann von Jean-Claude Lin

9 – mensch & kosmos Ein Ruf für eine innere Geburt von Wolfgang Held

10 – das gedicht Hölderlin 12 / 12

11 – kalendarium Dezember 2020 von Jean-Claude Lin

12 – der himmel auf erden Glück bei Regen von Jörg Ewertkowski

13 – erfinder & visionäre Käthe Paulus. Die Frau der Lüfte von Daniel Seex und Wolfgang Held

14 – sprechstunde Was uns stärkt – was uns anfällig macht von Markus Sommer

15 – warum ich ohne kafka nicht leben kann Kafka, oder: «Ein Vogel ging einen Käfig suchen» von Elisabeth Weller

16 – kulturtipp I beethoven 2020 Ein Heldenleben von Konstantin Sakkas

17 – aufgeschlagen «Die kleine Elfe feiert Weihnachten» von Daniela Drescher

18 – wundersame zusammenhänge Vom Wünschen von Albert Vinzens

19 – literaratur für junge leser «Untu und das Geheimnis des Lichts» von Nora Surojegin und Pirkko-Liisa Surojegin, gelesen von Simone Lambert

20 – mein buntes atelier Matz im Schnee von Daniela Drescher

21 – sehenswert Schmeckt Ihnen das Bild? von Christian Hillengaß

22 – weiterkommen Poetisches Schneetreiben von Michael Ladwein

23 – sudoku & preisrätsel

24 – tierisch gut Tierisch viel Seele von Renée Herrnkind

25 – suchen & finden

26 – ad hoc Kosmos Beethoven. Schluss und ewige Wiederkehr von Jean-Claude Lin

27 – bücher des monats

28 – impressum

3 – editorial

Abschied und Heimkehr

Liebe Leserin, lieber Leser!

«Mich hat schon früh die Frage interessiert, ob man in einer anderen Sprache anders denkt», antwortet der Philosoph Markus Gabriel in unserem Gespräch auf die Frage, woher sein Interesse an Sprachen komme. Das ist in der Tat eine Frage, die die Philosophen und Sprachwissenschaftler immer wieder beschäftigt hat. Zu welchem Fazit Markus Gabriel gekommen ist, möchte ich hier nicht vorwegnehmen. Aber zwei Beispiele in der Dichtung mögen etwas fühlbar machen, wie anders ein Sachverhalt in der einen oder anderen Sprache aufscheinen kann:

Wenn die Malve still / Samenreich der Brise horcht / kehr ich heim zu mir

So habe ich versucht, in dem Kleid eines Haiku ein bestimmtes Erlebnis auf Deutsch zum Ausdruck zu bringen. Als ich diesen Moment aber auch auf Englisch wiedergeben wollte, entstand etwas in der Stimmung doch ziemlich anderes:

Oh, the hollyhocks / leaning on the breeze, seeds ripe / I am home again

Besinnlicher, vielleicht sogar wehmütiger ist die deutsche Originalfassung. Rhapsodischer ist die englische Wiedergabe. Beide aus dem Buch Heimkehren – Die Kunst des Haiku, das im Verlag Freies Geistesleben erschienen ist.

Bei dem zweiten Beispiel aus dem Buch Den Himmel wiegen – 29 Haiku, das bei AQUINarte erschienen ist, ist die Reihenfolge umgekehrt. Die deutsche Fassung entstand nach dem französischen Original:

Brumes blanches du matin / les chemins embaumés / des départs d’été

Weiß verschleiert / sind alle Wege des Abschieds / Spätsommermorgen

Fast übertönt die Musik, das Melos des Französischen die geschilderte Szene. Das Bildhafte ist in der deutschen Fassung viel fasslicher. Ja, die deutsche Fassung ist insgesamt viel gedanklicher, was auch dem Gebrauch des Wortes «alle» geschuldet ist.

Das sind aber Beispiele aus nur drei Sprachen dieser Welt. Wie reichhaltig haben es die Menschen mit der Vielfalt so vieler Sprachen! Wie gut, dass eine Übersetzung nie alles wiedergeben kann und wir uns dadurch geneigt fühlen können, neben unserer Muttersprache noch andere Sprachen zu lernen.

Freuen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, an Ihren Begegnungen mit fremden Sprachen, ob auf der Reise, in der Dichtung oder in der Heimat! Meine Kollegin Maria A. Kafitz und ich wünschen Ihnen eine gesegnete Adventszeit. Bleiben Sie wohl auf!

Von Herzen grüßt,

Ihr




4 – im gespräch

Dunkle Zeiten, erhellende Gedanken

MarKus gabriel im Gespräch mit doris kleinau-metzler

Fotos: Wolfgang Schmidt

Dieses seltsame Jahr 2020 lastet wie ein Rucksack auf uns, wenn auch unterschiedlich schwer. Denn das Corona-Virus hat jeden getroffen, manche als Krankheit mit individuellem Verlauf, alle mit staatlich angeordneten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, viele mit existenziellen ökonomischen Folgen. Gelassenheit, Ärger, Skepsis und Ängste sind Folgen zwischen Entschleunigung und Aufregungsmodus. Wie geht es wohl weiter? Selbst denken, einen Schritt zurücktreten ist ein Weg, meint der Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel. Klar, das tun wir doch ständig, denke ich. Aber Gedanken haben und denken ist nicht dasselbe, lerne ich. Hilfreich in diesem Chaos ist, die Wirklichkeit als ungemein komplex zu erkennen. Das gilt für Geschehnisse und Erlebnisse rund um die Pandemie, aber auch für die Erfahrung, dass der notwendige Umbau der Umwelt machbar ist − mit Nachhaltigkeit in Konsum, Mobilität und Tourismus.

Doris Kleinau-Metzler | Lieber Herr Gabriel, als ich Ihren Lebenslauf gelesen habe, staunte ich zunächst über die vielen Sprachen, die Sie können. Und nun lernen Sie auch noch Chinesisch. Woher kommt Ihr Interesse an Sprachen?

Markus Gabriel | Mich hat schon früh die Frage interessiert, ob man in einer anderen Sprache anders denkt. Das bedeutet natürlich, dass man erst einmal verschiedene Sprachen lernen und darin Erfahrungen sammeln muss. Und durch eine gründliche und frühzeitige altphilo­logische Aus­bildung, wozu für mich vor allem Altgriechisch gehörte, auch Latein natürlich, lernt man einfach schneller fremde Sprachen, weil man rigoros trainiert wird.

DKM | Und was ist das Ergebnis – denkt man in anderen Sprachen anders?

MG | Das Denken verändert sich überhaupt nicht. Ich glaube: In einer anderen Sprache denkt man anderes, aber man denkt nicht anders. Man kann andere Ge­danken erfassen, erweitert sein Spektrum und verändert dabei auch teilweise seine Persönlichkeit − ich bin anders, wenn ich in Brasilien Portugiesisch spreche, als wenn ich in New York Vorträge auf Englisch halte. Der Mythos, dass Eskimos so viele Worte für Weißtöne haben, weil sie in der Schneelandschaft leben, stimmt übrigens nicht. Aber mein Bonner Kollege Michael Forster glaubt völlig anders als ich, dass es andere Weltsichten gibt in anderen Sprachen. Daraus ergeben sich immer wieder spannende Diskussionen, denn die eigentliche Denkarbeit findet für mich im Gespräch statt.

DKM | Gute Gespräche bei gegensätzlichen Meinungen scheinen mir nicht leicht. Diskussionen oder eher Konfrontationen gibt es derzeit über Corona und die Maßnahmen. Manche Aspekte werden so dominant, dass das Gemeinsame nicht mehr ge­­sehen wird, in einigen Argumenten erkenne ich die Wirklichkeit nicht mehr.

MG | Bei der Corona-Diskussion zeigt sich, dass manche Geschichten nicht den Tatsachen entsprechen und damit falsch sind, also Fake News. Wir leben beispielsweise nicht in einer Diktatur, lediglich das Bundesinfektionsgesetz wurde aktiviert, es gibt die kritische Berichterstattung und differenzierte Analysen − und niemand hat die Macht, die Welt einschließlich China zu manipulieren. Die Spaltung, die wir jetzt er­leben, kommt sehr stark aus dem digitalen Bereich. Hier werden Bilder der Sachlage gezeichnet, die der Komplexität nicht entsprechen. Die Überschriften im Internet locken, appellieren an etwas und produzieren eine Eindeutigkeit, die es so nicht gibt. Doch die Wirklichkeit ist immer schief.

DKM | Aber sitze ich nicht gerade wirklich und eindeutig vor Ihnen?

MG | Ja, das nenne ich «Basiswirklichkeit», dass wir beide vor­einander auf Stühlen im Hof des Instituts sitzen. Aber damit sind ganz verschiedene Vorstellungen verknüpft – mir ist zum Beispiel bewusst, dass nebenan eine Methadon-­Ausgabestation ist und ich hier schon oft mit Kollegen gesessen habe. Das könnte man fortsetzen, auch mit physikalischen Aspekten, denn in Wirklichkeit ist alles noch viel differenzierter. In unserem Alltag denken wir ja in Stereotypen, weil es schneller geht. Dafür gibt es tausend Gründe. Aber irgendwann macht man die Erfahrung, dass ein Bild, wie wir es uns vorstellen, so nicht stimmt – und man lernt, an Stereotypen vorbeizudenken. Das ist der Kontakt mit der Wirklichkeit, in der ich erlebe und für möglich halte, dass die vereinfachte Erwartung, die ich habe, nicht stimmt (wie beispielsweise Mädchen sind schwach, Jungen stark). Auch Berichterstattungen, Daten und Statistiken sind immer Vereinfachungen der Wirklichkeit, eine Komplexitätsreduktion − und daraus ent­stehen Polarisierungen.


DKM | Was meinen Sie mit Polarisierungen?

MG | Die Wirklichkeit, der Kontakt zur Basiswirklichkeit, ist in Gefahr geraten, denn der Bildschirm sendet Illusionen und Eindeutigkeiten einer Sachlage, die der Komplexität nicht entsprechen. Das Netz polarisiert strukturell. In durchdigitalisierten Ländern, insbe­sondere England und den USA, sehen wir dies an Brexit und Trump. Deshalb finde ich es auch sehr problematisch, dass große US-amerikanische und chinesische Tech-Monopole mit ihren Suchmaschinen und sozialen Netzwerken die realen Sozialstrukturen, wie Menschen miteinander umgehen und sich informieren, ändern. Durch dieses Eindringen der sozialen Netzwerke und der damit verbundenen Systeme künstlicher Intelligenz erfolgt eine aggressive Unterminierung des demokratischen Rechtsstaates, die meiner Ansicht nach bisher massiv unterschätzt wird. Wir brauchen für den digitalen Bereich ethische Regelungen und technische Lösungen auf europäischer Ebene. Alle denken in digitalen Modi, was auch Teil der «Corona-Inszenierung» ist, also der Darstellung der viralen Pandemie in der Öffentlichkeit. Die Corona-Statistiken, die monatelang in der Tagesschau verlesen wurden, sind aber fatal, denn sie sind nicht aussagekräftig, wenn sie nicht in größeren Zusammen­hängen interpretiert werden. Dann suggerieren diese steigenden Zahlen für Zuschauer etwas, was nicht der Fall ist – und erzeugen Angst oder Abwehr. Risikotheoretisch war es erst einmal richtig, einen Lockdown durchzuführen nach den Erfahrungen, die wir in China sahen – plus der Bilder aus Norditalien. Wir hatten Glück, jetzt wissen wir etwas mehr und können nachdenken und differen­zierter handeln.

DKM | Denken – was heißt das für Sie als Philosoph?

MG | Denken ist das Fassen von Gedanken. Aber was ist ein Gedanke? Ein Gedanke ist etwas, was wahr oder falsch sein kann. Die Gedanken fallen mir ja ein. In die Gedanken eine Ordnung zu bringen, ist Denken – auch philosophisches Denken. Ich überprüfe dann: Ist das auch im großen Zusammenhang einleuchtend? Gibt es Widersprüche darin? Oder passt alles zu glatt in meine An­­nahmen? Das ist in der Philosophie wie aber auch im Alltag komplex. Doch bevor wir uns ernsthaft mit dem Denken be­­fassen, müssen wir erst einen Schritt zurück­treten, hinter unsere Gedanken, und uns fragen, warum wir sie haben. Wieso hat dieser Gedanke Macht über mich? Das kann man an sich selbst erproben, indem man seine eigene Gedankenwelt studiert, auch im Hinblick auf Einwände und Nachfragen, die andere einem gestellt haben.


DKM | Angesichts unserer Denkgewohnheiten nicht so leicht … Kann man denken üben wie Fitnessübungen für die Muskeln?

MG | Ja, auch wenn wir nicht mehr darin geübt sind, wirklich zu denken – aber das kann man ändern. Wir brauchen das Training. Die Prinzipien, die ich für das philosophische Denken angeführt habe, kann jeder in seinem Alltag anwenden. Das Nicht-mehr-Denken ist zudem ein massives Bildungsproblem. Klassische Bildung mit anspruchsvoller Mathematik, Fremdsprachen usw. bereitet auf das Selbstdenken vor − nicht aber das Vermögen, eine App herunterzuladen oder Knöpfe auf Benutzeroberflächen zu drücken. Das Schlagwort von der notwendigen Digitalisierung der Schulen sehe ich skeptisch. Natürlich ist guter Informatikunterricht sinnvoll, aber es kommt auf das Alter an – und vor allem darauf, was dafür gestrichen wird.

Zum Denken noch ein abschließendes Beispiel: Wir treffen auf jemand, der die Corona-Situation anders sieht als man selbst. Das sollten wir ernst nehmen. Der andere könnte Recht haben, ist ein Kernsatz der Ethik. Deshalb ist Zuhören so wahnsinnig wichtig. Wenn man immer dieselbe Meinung hat, spricht das eigentlich dagegen, dass die Meinung richtig ist. Zur Meinung gehört, dass sie sich bewegt, differenziert, ver­ändert. So funktioniert auch Wissenschaft – und wir haben ja in der Pandemie Meinungsänderungen des Robert-Koch-Instituts, der Virologen erlebt. Das bedeutet, dass wir auf einem guten Weg sind. Hätten die Virologen die ganze Zeit dasselbe gesagt, wäre ich bei der neuen Krankheit, die ja auch eine vorher ungekannte Pandemie ist, skeptischer.

Ich sehe die Corona-Pandemie als «Übungsplatz» für das eigentliche Problem, die Klimakatastrophe, die unvergleichlich gefährlicher ist. Die Lebensform, die uns Corona aufgezwungen hat (in Regionalität bei Konsum, Mobilität und Tourismus beispielsweise), müssen wir weiter nachhaltig gestalten und uns vom Maßstab des Wachstums und des Bruttoinlandsprodukts verab­schieden. Verantwortlich handeln, kooperieren und neue Wege gehen ist möglich. Und wir haben in den vergangenen Monaten viel erlebt, was zuvor für unmöglich gehalten wurde.

Von Markus Gabriel erschien jüngst das Buch: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Berlin 2020.


5 – augenblicke

Von ganz außen ins Innerste

Die Artothek von Hannover kennt keine Kunst-Outsider

von Julia Meyer-Hermann (Text) und Wolfgang Schmidt (Fotos)

«Art Brut» oder «Outsider Art» – so nennt man Kunst von Menschen am Rande des Kunstbetriebs. Die Künstler sind oft geistig oder psychisch beeinträchtigt. Sie machen ihre Kunst nicht um der Wirkung willen oder um zu gefallen, sondern um sich selbst auszudrücken. Die Unmittelbarkeit dieser Kunst lenkt den Blick aufs Wesentliche und spricht immer mehr Menschen an. In der Artothek von Hannover (artothek-hannover.de) kann man die Originale solcher «Outsider Artists» ausleihen. Ein Besuch in einer besonderen Bilderleihstelle.

Kaum habe ich den Raum betreten, macht es «Bäm» in meinem Kopf. Das Motorrad droht zu explodieren. Es flimmert, es glüht grellrot. Ich kann die Hitze fühlen, die es ausstrahlt, sie flutet den Raum. Der Boden changiert zwischen Sonnengelb und Violett, der Himmel leuchtet orange. Was für ein Farbspektakel! Ich bin kurz geblendet und gleichzeitig fasziniert, wie sekundenschnell mich die Stimmung dieses Gemäldes packt. Keine Frage, der Künstler Robert Picker fand das Motorrad magisch. Er wäre wohl selbst gern damit gefahren, das fühlt man. Aber, so sagt es der Titel, Das ist Andreas sein Motorrad.


Das Kunstwerk hängt in einem weiß getünchten Raum in einem Hannoveraner Hinterhofgebäude. Die Adresse ist ein Geheimtipp, was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, was für Schätze hinter der schweren Metalltür warten. Hier, in einer ehemaligen Bilderrahmenwerkstatt, befindet sich Hannovers Artothek, eine Kunstsammlung der besonderen Art. Der Verein hat etwa tausend Gemälde in seinem Fundus, etwa 80 Stück werden in den Ausstellungsräumen präsentiert. «Alle Kunstwerke sind Originale und wem sie gefallen, der kann sie ausleihen», fasst Anke Pauli (Aufmacher-Foto) das Prinzip der Einrichtung zusammen. 32 Euro kostet eine private Jahresmitgliedschaft. Für den Betrag kann man eines der Kunstwerke mit nach Hause nehmen und es dann drei Monate später wieder gegen ein anderes austauschen. «Wer sich unsterblich in ein Bild verliebt, kann es auch kaufen.» Pauli, groß, schlank und mit eindringlichem Blick, ist die Leiterin der Artothek. Sie tritt an einen der Bilderständer und zieht ziel­sicher eine etwa 80 mal 80 Zentimeter große Leinwand heraus. «Das Bild hier ist zum Beispiel ein All-time-favorite. Das ist eigentlich ständig verliehen und jetzt auch schon wieder reserviert», sagt die Kunsthistorikerin. «Es ist von Herbert Schmidt und heißt Frau Sonne.» Ich blicke auf die Leinwand. Mein Auge ertrinkt in Blau, in unordent­lichen, beinahe dahin geschmierten Kreisen aus Petrol, Grün und Hellblau. Ganz entfernt erinnern sie an eine abstrakte, wüste Variante von Claude Monets Seerosen. Warum bloß heißt dieses Bild Frau Sonne? Anke Pauli grinst und zuckt mit den Schultern. Auch das gehört zu den Besonderheiten ihrer Kunstsammlung: Manches erschließt sich dem Betrachter einfach nicht intellektuell. Muss es nicht. Kann es vielleicht auch nicht. «Viele unserer Künstler haben geistige Behinderungen oder psychische Beeinträchtigungen», erklärt Pauli. «Sie schaffen ihre Kunst außerhalb der gängigen Beurteilung und vollkommen unbeeinflusst von starren Kunstkategorien.»

Die Artothek in Hannover setzt auf diese Kunstform und hat damit einen Schwer­­punkt, der sie von anderen Artotheken in Deutschland abhebt. «Outsider Artists» nennt die Fachwelt diese Künstler und Künstlerinnen, die ihre Werke abseits des etablierten Kunstbetriebs schaffen. Es sind Autodidakten, die sich oftmals gar nicht als «Künstler» wahrnehmen. «Outsider Art», «Raw Art» oder «Art Brut» lauten die Begriffe, mit denen man ihre Kunstwerke charakterisiert. Den Begriff «Art Brut» prägte 1945 der französische Maler Jean Dubuffet. Die deutsche Übersetzung lautet in etwa «rohe, unverfälschte Kunst». Jean Dubuffet war einer der Hauptvertreter dieser vermeintlich naiven Malerei und anti-intellektuellen Kunst. Er war außerdem ein begeisterter Sammler solcher Werke und exportierte die «Art Brut» nach dem Zweiten Weltkrieg von Paris in die USA. Dort ent­wickelte sie sich unter dem Namen «Outsider Art» weiter und ist heute international unter diesem Begriff bekannt.

Anke Pauli kannte diese Kunstrichtung aus ihrem Studium, «aber ich war keine Spezialistin». Die 44-Jährige hat in Bonn Kunsthistorik studiert und danach eine Zeit lang die Kunstsammlung des Senders Deutschlandfunk betreut, die lange Jahre niemanden interessiert hatte. «Irgendwann habe ich mit dem Hausmeister den Keller inspiziert und in einem Bretterverschlag einen Gerhard Richter entdeckt. Da habe ich von der Intendanz Geld angefordert, dieses und andere Kunstwerke neu rahmen lassen und wieder in die Flure gehängt.» Anke Pauli lacht laut und man merkt ihr an, dass diese Art von Schatzsuche genau ihr Ding ist. Schönes entdecken und unters Volk bringen, dafür ist sie eine Spezialistin.

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