Читать книгу: «Und ich gab ihm mein Versprechen»

Шрифт:

Rainer Stoerring

Und ich gab ihm mein Versprechen

Jedes Leben hat seine Geschichte

3., unveränderte Auflage 2020


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

3., unveränderte Auflage 2020

© 2020 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: Wavebreak Media Ltd © 123rf.com

Herstellung: Au / BoD

ISBN 978-3-8301-9596-2 EPUB

Inhalt

Vorwort

Und ich gab ihm mein Versprechen

Nachwort

Vorwort

Der Tod ist der letzte Abschnitt eines jeden Lebens, den wir alle erfahren müssen.

Der unerwartete Verlust eines Menschen ist schrecklich. Das klare Wissen einen Menschen zu verlieren und machtlos zu sein ebenso, doch anders.

In Erinnerung an meinen Vater Adolf Stoerring und seinen letzten Weg.

Das Jahr neigte sich dem Ende. Der Herbst zeichnete die schönsten Farben. Ein Sommer der alles gehalten hatte, was der Frühling versprach, zog langsam weiter. Gestärkt aus den vergangenen Monaten erwartet die Natur den Winter. In seiner vollendeten Kraft wird er eine sanfte Decke über uns legen. Seine Stille beendet das Jahr.

Wie oft hat jeder von uns diese Zeiten schon erlebt. Immer wieder, Jahr ein Jahr aus, zeigt uns die Natur, ihren beständigen Rhythmus. Schon viele Millionen Jahre konnte sie nichts daran hindern wiederzukommen. Sie nährt uns, lässt uns erblühen. Sie wärmt uns, lässt uns in ihr verweilen. Doch ganz besonders, sie schenkt uns das Leben.

»Dein Vater macht mir Sorgen.«

»Wie meinst du das?«

»Er ist so komisch in letzter Zeit. Ganz anders, als ich ihn kenne.«

»Mutter, du siehst etwas, was nicht vorhanden ist. Mir ist nichts an ihm aufgefallen.«

»Wie sollte dir dies auch aufgefallen sein. Du bist das letzte Jahr nicht hier gewesen. Ich bin jeden Tag mit ihm zusammen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Willst du nicht mal mit ihm reden?«

»Was meinst du, was er mir sagen wird? Wenn er mit dir nicht darüber redet, wird er es mit mir ganz bestimmt nicht tun.«

Meine Mutter schaute mich an. Ihr Gesicht ließ nicht erkennen, was sie gerade dachte. Das einzige, was es zum Ausdruck brachte, waren Sorgen. Sorgen darüber, dass momentan etwas geschieht, was sie nicht einzuordnen weiß. Sieht sie sich hilflos gegenüber dem, was sie nicht kennt? Was sie nicht abzuschätzen weiß? Natürlich, denn genau in diesen Momenten bekommen wir als Mensch gezeigt, dass wir etwas vergessen haben. Etwas, was wir unser ganzes Leben schon hätten lernen können. Aufmerksamkeit. Das schwierige daran ist es, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Jeden Tag werden wir mit Anforderungen konfrontiert. Die allermeisten leisten wir ohne darüber nachzudenken. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Eine Regelmäßigkeit ordnet den größten Teil unseres Lebens. Ab dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken, bekommen wir eine Rolle zugeteilt. Diese Rolle ist schon seit Jahrtausenden bestimmt. Bestimmt durch die Erfahrungen, die wir daraus gemacht haben. Geändert hat der Mensch daran nicht viel. Im Gegenteil, im Laufe unserer Evolution wurden wir immer und immer wieder darin bestätigt. Der Mann ist der Leitwolf. Die Frau ist seine Gefährtin. Richtig betrachtet ist sie nicht nur seine Gefährtin. Schon gar nicht eine. Sie ist nicht nur die, die das Leben des Mannes begleitet. Sich um sein Wohl kümmert. Seinen Kindern das Leben schenkt. Sein Haus organisiert und in Ordnung hält. Meist ihre eigenen Ansprüche hinter denen des Mannes anstellt. Sie ist viel mehr. Sie ist die Macht hinter dem Thron. Was wäre also der Mann als solcher, ohne die Frau an seiner Seite?

Mein Vater. Mein Erzeuger. Nicht nur das. Ein Vater ist nicht nur der Erzeuger eines anderen Menschen. Er ist das Leittier der Herde. Er sorgt dafür, dass die Familie auf dem richtigen Weg bleibt. Hält Unheil von ihr ab. Als Einzeljäger ist er für die Beschaffung von Nahrung zuständig. Er trifft Entscheidungen in der letzten Instanz. Seine grundsätzliche Aufgabe, er führt die Familie.

Meine Mutter. Die Frau, die mich viele Monate in sich getragen hat. Sie zeigte mir das Licht des Tages und der Nacht. Sie gebar mich. Gab mir meine Rolle, meinen Platz in der Menschheit. Sie schenkte mir das Leben. Nicht nur das. Sie sorgte immer dafür, dass das, wofür mein Vater sorgte, für die Familie zu nutzen war. Sie organisierte das innere Leben der Familie. Durch sie blieb die Familie auf dem Weg, den mein Vater für richtig hielt. Woher auch immer sie wusste, wie man das macht, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Es zu lernen, war ihr nie vergönnt.

»Guten Morgen Vater. Alles klar? Du schaust in den letzten Tagen etwas betrübt. Machst du dir Gedanken über eine ganz bestimmte Sache?«

Mein Vater schaute mich an. Sein Blick zeigte den Versuch die Worte zu entziffern, die aus meinem Mund kamen. Eine Frage wie diese hatte ich noch nie an ihn gestellt.

»Was meinst du damit? Es ist doch alles so, wie es immer ist. Ich kann nicht klagen.«

»Die Mutter meinte, dass du dir über etwas Gedanken machst. Du seiest anders als sie dich kennt.«

»Deine Mutter. Hat sie sich je darum gekümmert, über was ich mir Gedanken mache? Sie soll nicht grübeln und alles so übertreiben. Mir geht es gut.«

»Ich kann mir schon vorstellen, dass ihr Veränderungen auffallen und sie darüber nachdenkt. Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, kann ich dich nicht zwingen. Allerdings wird nichts gelöst, indem man es für sich behält. Also, entweder du sprichst darüber oder eben nicht.«

Mein Vater nickte und beendete das Gespräch, wie immer mit einer Ausweichfrage. Ich musste mich zufrieden geben. In solchen Situationen war kein weiteres Gespräch über das eigentliche Thema möglich. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass sich manches bei ihm erst setzen muss. Er braucht eine gewisse Zeit um sich intern damit auseinander setzen zu können. Nicht, dass er danach von sich aus darauf zurückkam. Durch eine ganz bestimmte Art zeigte er, nun bin ich bereit, sprechen wir weiter. Später, wir saßen gemeinsam am Tisch und aßen zu Mittag, schaute er zu meiner Mutter, dann zu mir. Meine Mutter bemerkte dies und ergriff das Wort.

»Du hast auch dem Rainer nichts gesagt. Was ist denn los mit dir? Glaubst du vielleicht ich merke nicht, dass du etwas hast? Du machst dir Gedanken und ich bin ja nicht blind. Mir fällt das doch auf. Außerdem ist mir auch aufgefallen, dass Blut in deiner Unterwäsche ist. Rede doch endlich mit uns.«

Mein Vater schaute uns an. Etwas verlegen aß er weiter. Der Blick meiner Mutter richtete sich nun auffordernd zu mir.

»Vater, jetzt sage schon, was los ist. Wenn du es uns nicht sagst, können wir es doch nicht wissen. Blut in deiner Unterwäsche. Wo kommt das her? Hast du Probleme beim Wasserlassen? Darüber hat mir die Mutter nichts gesagt. Sie macht sich Sorgen. Darüber haben wir gesprochen. Also, was ist los? Vielleicht bist du nicht der einzige Mann, der dieses Problem hat. Denke mal an Onkel Heinz. Früher oder später kann auch ich in die gleiche Situation kommen. Du hast Probleme beim Wasserlassen. Je eher wir das Problem in Angriff nehmen, umso besser wird die Sache laufen.«

»Es ist ein bisschen komisch. Ich merke, dass ich zur Toilette muss, aber es kommt nichts. Obwohl ich genau merke, da ist ein Druck, kann ich nicht. Das geht ein paar Mal so am Tag. Irgendwann ist der Druck dann so groß, dass nichts mehr geht. Ich drücke, erst kommt ein bisschen Blut und dann kann ich pinkeln. Ich werde mir mal Blasentee in der Apotheke kaufen. Der spült gut und das Problem wird sich in den nächsten Tagen erledigen.«

Das Eis war gebrochen. Sein Gesicht hellte sich auf. Eine gewisse Zuversicht war zu erkennen. Ob diese nun mit der gefundenen Problemlösung, dem Blasentee, zusammenhängt, konnte und wollte ich mir nicht selbst beantworten. Heute glaube ich eher, dass es ihm besser ging endlich mal über sein Problem zu sprechen.

»Wie meinst du das, Papa? Glaubst du, dass der Blasentee Wunder bewirken kann? Ich denke, du solltest zu einem Urologen gehen und mal nachsehen lassen. Der Heinz hatte diese Probleme auch. Schätzungsweise hängt es mit deiner Prostata zusammen. Ich weiß zwar nicht genau was oder wie da etwas gemacht wird. Doch denke ich, dass ist kein Tabuthema mehr und es ist bei weitem nicht mehr so schlimm, wie es einmal war.«

»Ich kenne keinen Urologen. Und in ein Krankenhaus gehe ich auch nicht.«

»Unwissenheit schützt bestimmt vor vielem, doch hier geht es um deine Gesundheit. Lasse dir mal einen Termin bei deiner Hausärztin geben. Mit ihr werden wir über alles sprechen. Sie weiß, wen man ansprechen kann. Wegen des Krankenhauses mache dir mal keine Gedanken. Zu Hause wird man einen eventuellen Eingriff nicht vornehmen können. Für viele Operationen braucht man heute nur noch wenige Tage. Hinterher wirst du froh sein, dass du dich richtig entschieden hast. Du bist nicht der einzige Mann in deinem Alter mit diesem Problem.«

Zwei Tage später, 8.00 Uhr, der Termin bei Christiane B. stand. Wir saßen im Wartezimmer und schauten Zeitungen an. Die Aufregung war meinem Vater anzumerken. Tausende Fragen gingen ihm durch den Kopf. Vor dem Gespräch, waren diese wohl nicht zu beantworten. Um sich etwas zu lösen, begann mein Vater mit einem Gespräch.

»Ich denke nicht, dass sie mir helfen kann. Wir hätten doch mal diesen Professor D. anrufen sollen. Wie mir der Nachbar erzählt hat, ist er sehr gut auf diesem Gebiet.«

»Wie, du hast mit jemandem nahezu Fremden über dieses Thema gesprochen? Warum hast du es dir dann so schwer gemacht mit mir oder der Mutter zu reden?«

»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Er hatte mir von seiner Operation erzählt. Immerhin kennen wir uns schon ewig und hatten uns eine längere Zeit nicht gesehen. Werner hatte mir von sich aus darüber erzählt.«

»Warum auch nicht. Wie gesagt, diese Krankheit betrifft sehr viele Männer in deinem Alter, manche sogar früher als dich jetzt. Die Schulmedizin basiert auf jahrelanger Praxis. Klar, die Medizin in ihrem vollen Umfang gehört nicht in unser Wissen, doch es gibt genug Ärzte, denen du vertrauen kannst. Vertrauen ist die Grundlage zu allem. Ein Problem welches du selbst nicht lösen kannst, gibt es immer wieder. Bist du am Ende deines Wissens angelangt, musst du fachmännischen Rat einholen. Bezüglich deines momentanen Problems brauchst du einen Arzt. Also, die richtige Schlussfolgerung ist sich an einen zu wenden. Du hast dich richtig entschieden, als du den Termin hierfür vereinbart hast. Warte mal, nach dem Gespräch weißt du mehr.«

Mein Vater schaute mich an, als wären meine Worte in einer fremdländischen Sprache aus meinem Mund gekommen. Er blickte mir direkt in die Augen.

»Nicht nur ich, wir wissen dann mehr.«

Seine Worte klangen sehr bestimmt. In dieser Art habe ich meinen Vater bisher sehr selten vernommen. Wie habe ich ihn bisher überhaupt wahrgenommen. Wer war er? Sonderbar, zum ersten Mal dachte ich darüber nach.

»Kommen Sie dann bitte.«

Die Sprechstundenhilfe nickte uns zu. Wir standen auf und folgten ihr. Leicht war meinem Vater dieser Moment nicht gefallen.

»Nachdem Sie mir alles geschildert haben, werde ich Sie zu einem Urologen überweisen. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, er wird Ihnen helfen. Nach meinem Befund handelt es sich bei Ihnen um eine klare Verengung der Prostata. Die entsprechende Operation wird in einer Klinik vorgenommen werden. Sollten keine Probleme auftreten, davon gehe ich bei Ihnen aus, ist hinterher alles wieder so, wie Sie es gewohnt sind.«

Eine klare Aussage, doch wollte ich mehr über dieses Thema wissen. Bisher hatte ich damit noch nichts zu tun. Vor einigen Jahren wurde mein Onkel ebenfalls an der Prostata operiert. Besonderheiten waren mir seinerzeit nicht aufgefallen. Wobei ich mit ihm auch nie darüber gesprochen hatte. Ich wünschte mir, ich hätte es getan, dann würde ich jetzt mehr von dem verstehen, was gesagt wurde. Ich wollte mehr wissen.

»Wodurch tritt diese Krankheit auf?«

»Es ist keine Krankheit. Im Laufe der Jahre kann sich die Prostata durch gutartiges Geschwulstwachstum vergrößern. Diese behindern den Harnabfluss. Damit treten die Probleme beim Wasserlassen auf. Begleitet wird dies durch Schmerzen. Klar, je enger die Harnröhre ist umso mehr Kraft wird seitens des Körpers verlangt um den Urin zu transportieren.«

Mein Vater schaute uns zu. Ihn schien die Art und Weise unseres Gespräches mehr zu interessieren als dessen Inhalt. Ich unterbrach für einen Moment und drehte mich zu ihm. Er holte Luft und sah auf den Schreibtisch seiner Ärztin.

»Für nächste Woche brauche ich einen Termin zur Blutabnahme. Den werde ich mir dann draußen noch geben lassen. Mal sehen, was meine Fettwerte machen. Obwohl ich keine Probleme habe. In letzter Zeit war sowieso alles in Ordnung. Ich esse und trinke alles.«

Christiane B. und ich schauten uns an. Ich sah, ihr ging es wie mir. Wir wussten beide nicht, wie wir seine Worte verstehen sollten. Die Ärztin nickte, sah meinen Vater an und fuhr fort.

»Ihre Blutwerte? Ja, können wir nächste Woche machen. Lassen Sie sich einen Termin geben. Wenn wir uns nächste Woche sehen, dann können Sie mir vielleicht sagen, welche Fragen noch offen sind. Ich denke, dass Sie die eine oder andere schon noch finden werden. Nur keine Hemmungen, Fragen sind dafür da, dass sie gestellt werden.«

Wir standen auf, verabschiedeten uns und verließen das Zimmer. Mein Vater ging vor, direkt zur Anmeldung. Ich folgte ihm durch die Tür.

»Rainer.«

Christiane B. rief mich noch einmal zu sich.

»Lasse sich alles erst einmal ein bisschen setzen. Er scheint damit überfordert zu sein. Es ist für keinen Mann einfach. Darüber zu reden und dann mit einer Frau ist meist noch schwieriger. Warte, bis er etwas sagt. Doch warte nicht zu lange, er hat Schmerzen. Wenn du noch Fragen hast, dann rufe mich an oder komme vorbei.«

Sie reichte mir die Hand, lächelte und nickte.

»Danke. Unser Gespräch war sehr informativ. Ich weiß noch nicht, welche Fragen auftreten können. Ich habe mich mit diesem Problem bisher nicht auseinander setzen müssen. Ein Onkel von mir hatte vor Jahren diese Operation. Mal sehen, vielleicht werde ich ihn mal ansprechen, wie es bei ihm war.«

»Gute Idee. Vielleicht kann auch dein Vater mal mit ihm sprechen. Also, so ganz von Mann zu Mann. Ist oft einfacher. Viel Erfolg.«

»Danke.«

Auch zu Hause wollte mein Vater nicht gleich auf das Thema eingehen. Er zog sich aus und ging in sein Zimmer. Fernsehen war angesagt. Meine Mutter schaute mit einem fragenden Blick. Ich fragte sie, ob er denn gar nichts zu ihr gesagt hatte.

»Nein, als er kam, sagte er es ist alles in Ordnung und er muss zu einem Urologen. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Irgendwie hat er ein großes Problem darüber zu reden. Auch bei Christiane hat er mitten im Gespräch damit angefangen, dass er einen neuen Termin zur Blutabnahme braucht. Er sollte die Zeit mal nutzen um sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Je mehr er darüber weiß, umso weniger muss er sich vor den jeweiligen Dingen ängstigen. Komisch, mit uns Kindern wurde früher nie so ein Geschiss gemacht. Wir mussten uns allen Dingen stellen und sie angehen. Und heute? Ihr verschließt immer gerne die Augen und Ohren. Alles was unangenehm ist wird einfach ausgelassen. Wir tun mal so, als wäre dies nie gewesen. Tolle Devise, nur dieses Mal habt ihr mit der Natur zu tun. Ihr ist es egal, ob oder wann ihr was wollt und wann nicht.«

Ich hätte mich noch weiter steigern können in diesem Thema. Wie kann man davon ausgehen, dass etwas nicht vorhanden ist, weil man nicht darüber spricht.

»Moment mal. Dein Vater war schon immer so. Wenn du ihn fragst, ihm geht es gut, er hat keine Probleme oder Sorgen, ihm schmeckt das Essen und zu Hause ist alles in Ordnung. Was hat sein Schweigen mit mir zu tun?«

»Mutter, du hörst auch immer nur das, was du willst. Du reagierst nur dann, wenn dir eine Anforderung angenehm erscheint. Probleme werden in eurem Leben ausgelassen. Sie gibt sie einfach nicht. Fakt ist, der Vater muss sich die Prostata operieren lassen. Wie tausend anderer Männer in seinem Alter auch. Entweder wir setzen uns gemeinsam damit auseinander oder aber nicht. Was muss als nächstes getan werden? Wer ist der richtige Ansprechpartner? Welche Möglichkeiten gibt es zur Operation? Wie wird operiert? Welche Probleme können nach der Operation auftreten? Haben wir das alles geklärt, geht es einen Schritt weiter. Es gibt Dinge, die wir nicht berücksichtigen können, weil wir sie nicht wissen. Auch dafür gibt es Ärzte. Ist alles geregelt, die meisten Fragen geklärt, kommt die Operation. Danach wird alles in Ordnung sein. Ihr werdet es sehen. Wegrennen bringt nichts.«

»So solltest du mal mit deinem Vater reden. Mit mir wird darüber ja nicht gesprochen. Ich bekomme alles immer nur von selbst mit. Ich habe es doch gesehen, wenn Blut in der Unterwäsche ist. Ich höre es doch, wenn er schimpft, wieder nicht richtig zur Toilette zu können. Sage ich was, bekomme ich entweder keine Antwort oder aber den Hinweis, dass nichts sei und ich mich um meine Dinge kümmern soll. Ich komme an ihn nicht ran. Was soll ich denn tun?«

»Du weißt, dass er so ist. Wenn du in deiner Art bisher nicht an ihn heran gekommen bist, war es wohl nicht die richtige Vorgehensweise. Welche allerdings die richtige ist, kann ich dir nicht sagen. Diese Problematik stand noch nie zwischen dem Vater und mir. Ihr zwei müsst miteinander reden. Vielleicht sollt ihr genau dies jetzt lernen. Unser Schicksal denkt sich schon etwas dabei. Sei aufmerksam, manches ist schwer zu verstehen, doch ist es zu erkennen. Ein Richtig oder Falsch wird es hinterher geben. Bis dahin wollen wir unser Bestes tun. Wir, damit meine ich uns drei. Wir können es gemeinsam angehen oder aber nicht. Ich werde mal mit ihm sprechen.«

Über meine Worte war ich überrascht. Hatte ich mit meiner Mutter wirklich über grundsätzliche Themen gesprochen? Richtige oder falsche Vorgehensweise. Zu meinen Eltern hatte ich schon immer die richtige Vorgehensweise in der Kommunikation. In jedem Fall war ich bis dahin davon überzeugt. Mit meiner Mutter war über Sinn und Sinnigkeiten der verschiedenen Situationen in unserem Leben nicht zu sprechen. Bei ihr heißt es einfach, es ist wie es ist. Hört sich recht kühl und den Problemen gewachsen an. Wer sie aber genauer kennt, weiß auch, dass dem nicht so ist. Viel denkt sie nach. Ihr Kopf ist immer aktiv. Sie wälzt die Probleme hin und her. Sie versucht zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Doch stößt sie immer und immer wieder auf die Frage »Warum?«. Auf diese Frage bekommt sie keine Antwort. Darüber ärgert sie sich. Sucht nach einem Grund dafür, dass sie keine Antwort bekommt. Diesen sieht sie dann in sich und ihrer Person selbst. Ein furchtbarer Kreislauf. Kaum zu glauben, dass ein Mensch dies mit sich macht. Das Märtyrertum ergreift die Macht. Sie ist ein Mensch voller Liebe, Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Ihre eigenen Verlangen stellt sie all zu oft in den Hintergrund. Die Bedürfnisse anderer gilt es zu befriedigen. Darin sieht sie ihre Aufgabe und die Erfüllung ihres Auftrages. Mein Vater. Einen tieferen Kontakt hatten wir noch nie. Warum? Viele Gemeinsamkeiten gab es nicht zwischen uns. Warum? Unser Verhältnis war immer respektvoll und getragen von der Liebe zwischen Vater und Sohn. Warum? Sehr viel habe ich in den letzten zwei Jahren über diese Frage nachgedacht. Viel Traurigkeit habe ich empfunden. Manches Mal musste ich mich mit einem inneren »hm« begnügen. Resigniert hätte ich nie. Warum hatten mein Vater und ich ein so normales Verhältnis? Wieso haben wir unsere definitiv vorhandenen Parallelen all die Jahre nicht gelebt? Waren wir uns so fremd?

Mein Vater ist der Erstgeborene in seiner Familie. Drei Jahre später brachte meine Großmutter eine Tochter zur Welt, seine Schwester. Dadurch hatte mein Vater schon immer eine aktiv gelebte Vormachtstellung in seiner Familie. Er war ein sehr ruhiger Junge, ein angenehmes Kind. Streit ging er immer aus dem Weg. Den gab es für ihn einfach nicht. Er verfügte über sehr viel Intuition. Aus jeder Situation machte er das Beste. Nahm die Dinge so, wie sie sind und beklagte sich nie. In dieser, seiner Art setzte er letztendlich doch immer alles um, was er wollte. Verwehren konnte ihm keiner etwas. Noch bevor er etwas fertig gedacht hatte, setzte es seine Mutter für ihn um. Ob dies der richtige Weg zum Erlernen von Selbständigkeit war? Darüber lässt sich streiten. Doch denke ich, Liebe war die Macht ihres Handelns. Zwischen meiner Großmutter und ihrem Sohn, meinem Vater, herrschte eine Seelenverbindung.

Nun war wohl die Zeit gekommen. Mein Vater musste eine Entscheidung treffen. Ein anderer Mensch hätte dies für ihn nicht tun können. Er brauchte zwei Tage um mit sich einig zu sein. Meiner Mutter und mir teilte er diese beim Mittagessen mit. Ganz nebensächlich versuchte er es erscheinen zu lassen. Es stand für ihn fest, dass er einen Urologen aufsuchen muss. Mit ihm würde er über alles sprechen. Insgesamt sehe er dem Ganzen locker entgegen. Was solle schon geschehen? Immerhin sei er nicht der erste Mann mit dieser Krankheit. Bei anderen sei auch alles gut gelaufen. Warum dann nicht auch bei ihm? Gleich die nächsten Tage sollte ich einen Termin für ihn ausmachen. Laut der Aussage des Nachbars meiner Eltern sei Professor D. eine wirkliche Kapazität im Fachbereich Urologie. Ein Mann mit vielen Jahren Erfahrung, einem, dem man vertrauen kann. In Absprache mit meinem Vater machte ich einen Termin bei Professor D. Der Termin stand für zwei Tage später.

Mein Vater sprach an diesem Morgen nicht viel. Seine Augen sagten mehr, als jedes Wort. Ein Gemisch aus Unwissenheit und Angst. Nachdem wir das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatten, sah ich auf die Uhr. Bis zu unserem Termin hatten wir noch 45 Minuten Zeit. Wie immer in solchen Situationen, hatten meine Eltern mit großzügiger Zeit geplant. Für sie stand schon immer fest, dass man wesentlich früher vor Ort sein muss, um nicht zu spät zu kommen. In meinen Empfindungen ist eine übermäßig lange Wartezeit unangenehmer zu handeln als die Eventualität eines Zuspätkommens. Wir meldeten uns bei der Sprechstundenhilfe an. Sie bat uns, Platz zu nehmen. Da saßen wir nun. Das Wartezimmer war recht kühl gehalten. Warum auch nicht, lange will man sich darin ja auch nicht aufhalten. Nach einem kurzen Moment kam eine weitere Arzthelferin zu uns. Sie gab meinem Vater einen Becher und bat ihn um eine Urinprobe. Mein Vater schaute sie verlegen an. Sie nickte mit ihrem Kopf zum Ende des Wartezimmers. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie verließ das Zimmer.

»Alles andere leichter als das. Ich war doch zu Hause noch auf der Toilette gewesen. Ob ich jetzt schon wieder kann, weiß ich nicht.«

»Dann mache einfach langsam. Lasse dir Zeit. Wenn es nicht geht, dann lasse uns noch einen Kaffee trinken. Als wir reinkamen habe ich vorne ein Cafe gesehen. Probiere es erst einmal, wenn es funktioniert ist gut. Wenn nicht, gehen wir noch einen Kaffee trinken.«

Mein Vater war erleichtert. War er doch eben noch einem unlösbaren Problem ausgesetzt. Es dauerte einige Minuten. Unverrichteter Dinge kam mein Vater zurück. Wohl war ihm nicht dabei. Ich zuckte mit den Schultern. Noch bevor er sich wieder setzen konnte, stand ich auf und wir gingen in Richtung des Cafes. Wir nahmen zwei Tassen Kaffe und setzten uns. Ganz bewusst versuchte ich unser Gespräch nicht auf heute, jetzt und hier zu fokussieren. Meinem Vater kam dieses sehr recht. Unsere Tassen waren leer.

»Es wird noch immer nicht gehen. Was soll ich nur machen? Gleich werden wir aufgerufen und noch immer konnte ich nicht pinkeln.«

»Jetzt mache dir mal keine Gedanken. Wir haben noch genug Zeit. Trinke doch noch eine Tasse oder eine Flasche Wasser. Je mehr du darüber nachdenkst umso mehr setzt du dich unter Druck. Mentaler Druck natürlich, nicht Blasendruck.«

Ich lächelte. Mein Vater konnte sich keines abringen. Was schien in seinem Kopf vorzugehen? Macht er sich jetzt einen solchen Stress wegen des Nichtkönnens? War er einfach zu aufgeregt wegen des Termins? Wie sollte ich ihn jetzt ablenken?

Von draußen drang Lärm durch die Fenster. Das Vorgebäude des Krankenhauses wurde abgerissen. Die hintere Außenwand war bereits weg. Zimmer in verschiedenen Größen waren zu erkennen. An manchen Wänden abgerissene Tapeten. An anderen Kacheln oder der blanke Putz. Farblich war keine Einheit zu erkennen. Scheinbar war jedes Zimmer eine eigene Parzelle gewesen.

»Furchtbar wie das aussieht. Alle Zimmer haben eine andere Farbe. Selbst die Kacheln sind unterschiedlich. Richtige Wohnungen waren das wohl nicht. Scheint irgendwie so, als ob jedes Zimmer für sich selbst war. Die gekachelten Räume müssen Bäder oder Küchen gewesen sein. Auf jeder Etage jeweils nur zwei. Vielleicht waren es Wohngemeinschaften.«

Der Blick meines Vaters verharrte auf dem Abrisshaus.

»Kann sein. An den Wänden ist aber schon lange nichts mehr gemacht worden. Diese Farben hat man schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo die nur den ganzen Bauschutt hinfahren werden? Obwohl, ich habe schon gesehen, dass dieser zerkleinert wird und später zum Auffüllen bzw. Glätten der ausgehobenen Grube benutzt wird. Ist ja auch eine gute Idee.«

Einige Minuten unterhielten wir uns über das, was wir draußen sahen. Mein Vater erzählte von seiner Zeit als Maler und Weißbinder. Diese lag nun schon dreißig Jahre zurück. In seinen Erzählungen verknüpfte er zur gegenwärtigen Zeit. Gerne sprach er von seinem erworbenen Wissen im erlernten Beruf. Ganz besonders von den Tricks und Kniffen, die er in all den Jahren gelernt hatte. Seine Gedanken entfernten sich vom Jetzt. Die Urinprobe hatte er für diesen Moment vergessen. Ich schmunzelte.

»Der Kaffee erfüllt seine Aufgabe. Gehen wir wieder hinter. Jetzt kann ich mal.«

Als er aus der Toilette kam, war der Erfolg seiner. Zufrieden stellte er den Becher auf dem Wagen ab und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Kurz danach wurde er aufgerufen. Er erhob sich und nickte mir zu. Ich stand auf und ging mit ihm.

Das Gespräch mit dem Arzt verlief sehr gut. Ein überaus sympathischer Mann. Eine sehr angenehme ruhige Stimme und Art. Nachdem er uns erklärt hatte, was die Ursache ist, welche Untersuchung er vornehmen wird und welcher weitere Verlauf kommen wird, war unser Vertrauen seines. Er bat meinen Vater sich auf eine Untersuchungsliege zu legen. Zuvor möge er bitte seine Hose und den Pulli ausziehen. Mit einem Ultraschallgerät fuhr er über den Unterbauch. Auf einem Bildschirm konnte man schwarze, dunkelgraue, hellgraue und weiße Felder sehen. Dass ein Arzt darin etwas Brauchbares erkennen kann, war für mich unmöglich nachzuvollziehen.

Nach der Untersuchung saßen wir zusammen und besprachen die weitere Vorgehensweise. Eine Operation war nötig. Einzelne Punkte wurden abgestimmt. Wie nötig? Wann? Wie lange? Wo? Welche Probleme? Erfolgchancen?

Für den Moment ergaben sich keine weiteren Fragen. Weder von meinem Vater, noch von mir. Wir bedankten uns und verließen das Arztzimmer. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, atmete mein Vater durch. Eine gewisse Zufriedenheit war darin zu erkennen.

»Gut, dass wir das gemacht haben. Ein sehr guter Arzt. Der weiß sehr viel von seinem Fach. Eine richtige Größe, sehr patent.«

»Es freut mich, dass du dies so siehst. Jetzt weißt du, wissen wir, mehr. Wenn dir noch Fragen einfallen, dann schreibe sie mal auf. Professor D. hat dir angeboten, dass du ihn auch anrufen kannst. Solltest du das nicht wollen, können wir ihm auch eine Mail schreiben. Ich denke mal, deine Entscheidung war richtig. Dem Professor kannst du vertrauen. Oder siehst du das anders?«

»Nein, das wird schon alles gut laufen. Wollen wir uns noch ein Stück Kuchen mitnehmen? Darauf hätte ich jetzt mal richtig Lust.«

Während der ganzen Fahrt zurück nach Hause sprach mein Vater kein Wort. Ich wusste nicht genau, wie ich sein Schweigen hätte brechen können. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Er nutzte diese Zeit für seine Gedanken. Dies sollte er auch. Kurz bevor wir ankamen, bat er mich, nicht zu viel von der Untersuchung meiner Mutter zu erzählen. Mein uneingeschränktes Einverständnis fand er darin nicht. Ich versprach es ihm trotzdem. Zugleich bat ich ihn, sie nicht zu lange unwissend zu lassen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte mein Vater wohl noch einmal über sein Vorhaben nachgedacht. Von sich aus und ganz in seinen eigenen Worten erzählte er meiner Mutter von unserem Gespräch mit Professor D. Die wenigen Fragen meiner Mutter konnten wir beantworten. Die nächsten Tage vergingen recht schnell. Fragen ergaben sich für meinen Vater nicht. Auch mir wäre nichts Weiteres eingefallen, was zu beantworten gewesen wäre. Der Termin für die Operation stand. Die entsprechenden Voruntersuchungen wurden einen Tag zuvor vorgenommen.

Nun war der Tag gekommen. Wie das eben ist, wenn man vor einem großen Schritt steht, blieb auch bei uns die Aufgeregtheit nicht aus. Mehrfach wurde nach allem gesehen. Haben wir nichts vergessen? Sind alle wichtigen Dinge eingepackt? Alle in unseren Händen befindlichen Unterlagen komplett? Als würde er in eine andere Welt reisen. Keine Möglichkeit mehr, vergessene Dinge zu besorgen. Der Moment spannte sich. Es klingelte, mein Onkel hatte angeboten uns zu fahren. Grosse Tasche, kleine Tasche und die aktuellen Zeitungen, nichts vergessen und alles im Auto verstaut. Wir stiegen ein und fuhren zum Krankenhaus. Schon alleine dieses Wort war eines, das meinen Vater fürchten ließ. In seinem bisherigen Leben musste er nur zwei Mal ins Krankenhaus. Eine Einrichtung, auf die er ohne Probleme verzichten konnte. Warum nur? Bekommen wir dort nicht in vollem Umfang das, was wir in der jeweiligen Situation brauchen? Sind wir dort nicht in den besten Händen? Mangelt es uns am Vertrauen? Ist unser individueller Fall nicht berechtigt, entsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen? Tausendfach werden täglich die verschiedenen Operationen vorgenommen. Wir sind nicht alleine mit unserem medizinischen Problem. Ein Einzelfall sind wir ebenso wenig. Also, vertrauen wir auf die Kapazitäten. Vertrauen wir auf die medizinischen Kenntnisse der Ärzte. Vertrauen wir auf die jeweilige Kompetenz der Fachärzte. Vertrauen wir auf unser Schicksal. Es will nichts Böses mit uns. Alles, was es für uns geplant hat, durchlief die umfangreichsten Überlegungen. Jede einzelne Situation, die uns konfrontieren soll wurde durchdacht. Jede einzelne als solche selbst. Die Verbindungen zu anderen ziehen wir Menschen selbst.

1 531,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
331 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783830195962
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают