Читать книгу: «Take me down under: Melbourne im Blut»
Deutsche Erstausgabe (ePub) Dezember 2020
© 2020 by Raik Thorstad
Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
Druckerei: CPI Deutschland
Lektorat: Debora Exner
ISBN-13: 978-3-95823-859-6
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Liebe Lesende,
vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*der Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.
Vielen Dank!
Euer Cursed-Team
Klappentext:
Als Jordan Phoenix zum ersten Mal in seinem BDSM-Club sieht, warnt ihn eine innere Stimme eindringlich vor dem Fremden. Zu groß sind die Lücken in Phoenix‘ Erklärung, warum er nach Melbourne gezogen ist. Doch etwas an Phoenix spricht eine vernachlässigte Seite von Jordan an, sodass ihn der von seiner Vergangenheit getriebene Mann nicht mehr loslässt. Und je besser er Phoenix kennenlernt – vor allem seine Leidenschaft für alte Autos und die dazu passende Musik –, desto unmöglicher wird es, der gegenseitigen Anziehung zu widerstehen. Als Phoenix‘ Fehltritte ihn einholen, steht Jordan plötzlich vor der Frage, ob Liebe wirklich alles überwinden kann...
Prolog
Das Wummern der Bässe übertrug sich auf den schweren Sessel und auch auf Jordans Körper. Er hatte den Kopf nach hinten gelegt und atmete schaudernd den Duft des Leders ein, der ihn wie eine benebelnde Wolke umgab. Jenseits der Wolke, über ihm, schienen Sterne zu kreisen. Oder waren es leuchtende Augen, die ihn beobachteten?
»Ah…«
Die Vorstellung fremder Beobachter berührte einen Punkt in ihm, dem er in letzter Zeit nicht viel Beachtung geschenkt hatte. Jenen kleinen Teil seines Selbst, der es genoss, Fremden und Bekannten zu zeigen, wie spektakulär er sich auflösen konnte.
Ja, es sollten Augen sein, die über ihm blinzelten. Nicht der künstliche Sternenhimmel in Gelb- und Grüntönen, den sie mithilfe geschickt platzierter LEDs zum Leben erweckt hatten.
Jordans Finger zuckten auf der breiten Armlehne. Instinktiv suchte er den Halt von Fesseln oder wenigstens einen Befehl, der ihn band. Doch er fand nichts als Freiheit.
Halb erleichtert, halb enttäuscht legte er die Hand auf den gleichmäßig auf- und abruckenden Kopf zwischen seinen Beinen. Wayne stieß einen zustimmenden Laut aus und verdoppelte seine Bemühungen, Jordan die dringend benötigte Erleichterung zu verschaffen. Er konnte ihm nicht geben, was er brauchte, aber es würde reichen.
An Abenden wie diesen nervte Jordan seine Berufung, hasste er es, andere zu führen, obwohl er lieber selbst geführt wurde. Hasste es zu lehren, statt etwas beigebracht zu bekommen. Hasste es, sich nicht fallen lassen zu können, weil er eine Aufgabe übernommen hatte, die ihm Kontrolle abverlangte.
Wayne schnippte ihm mit zwei Fingern gegen die Hoden. Jordan unterdrückte ein Lächeln, als ein winziger Stich durch seinen Unterleib fuhr und ein angenehmes Schaudern in seinem Bauch zurückließ. Keine lodernde Hitze, keine glühende Leidenschaft, aber eine leise Wärme, die ihn näher ans Vergessen führte.
Der feuchte Mund löste sich von ihm und Jordan hob instinktiv das Becken, um ihm zu folgen.
»Hör auf zu denken«, murmelte Wayne und rieb die Wange an Jordans Schwanz. »Sonst wird das nichts.«
Jordan schloss die Augen. »Red nicht und mach weiter«, entfuhr es ihm barscher, als er beabsichtigt hatte. Prompt hörte er das Knarren von Latex. Er grinste. Ein scharfes Wort, und Wayne machte sich an der eigenen Hose zu schaffen.
Aber er hatte recht: Jordan musste vergessen, wenn er nicht frustriert nach Hause gehen wollte. Er musste die verdorbene Session aus seinem Hinterkopf streichen, musste aufhören, sich zu fragen, wie er den unerfahrenen Dom besser hätte anleiten können oder ob er im Vorgespräch nicht deutlich genug gewesen war.
Anfangs war alles bestens gelaufen. Er hatte sich wohlgefühlt. Sicher und in guten Händen. Doch dann hatte er gemerkt, dass der Dom ins Schwimmen geraten war und versucht hatte, seine Unsicherheit durch Grausamkeit zu überspielen. Jordan war gezwungen gewesen, die Session abzubrechen.
Am Ende waren ein zerknirschter Dom und ein zutiefst unbefriedigter Sub zurückgeblieben. Und Letzteres lag Jordan nicht. Man konnte vieles mit ihm anstellen, konnte ihn quälen, reizen, an und über seine Grenzen treiben und ihm stundenlang einen Orgasmus verweigern. Aber er gehörte nicht zu jenen, die Befriedigung daraus zogen, wenn man sie ganz im Regen stehen ließ.
Eben das war heute Abend geschehen. Er machte dem Dom keinen Vorwurf. Aber deshalb war es nicht weniger frustrierend.
Jordan biss sich auf die Innenseite der Wange. Nicht denken. Vergessen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen.
Doch irgendwann schaffte er es mit Waynes Hilfe, weit genug zu sich selbst zu finden, dass sich die Lust in ihm verdichtete und schließlich löste. Es war kein überwältigender Höhepunkt, sondern einer, der sich schal anfühlte und nicht in seinen Körper ausstrahlte. Eine Erleichterung war er dennoch.
Als Wayne sich neben ihn auf den Sessel quetschte, legte Jordan ihm den Kopf an die Schulter. »Danke.«
»Kein Problem.« Wayne ergriff sein Kinn und küsste ihn behutsamer, als ihm lag. »Wozu hat man schließlich Freunde?«
»Für Frust-Blowjobs? Meinst du echt, die findet man unter dem Stichwort Freundschaft im Lexikon?«
»Kommt auf das Lexikon an, würde ich sagen.«
»Oder darauf, ob man überhaupt so was Altmodisches benutzt.«
»Genau.«
Mit einem Seufzen griff Jordan nach seinem Schwanz und schob ihn nachlässig zurück in die Lederhose. Die Unzufriedenheit in seinem Kopf war größer als je zuvor, aber wenigstens bekam er die Hose zu, ohne sich den Ständer einzuklemmen.
Anschließend drehte er sich halb auf die Seite und zog Wayne in eine lockere Umarmung. Er spürte dessen Erektion an seinem Oberschenkel und schloss automatisch die Faust darum. Es war nur fair, den Gefallen zu erwidern, wenn sie schon beide nicht bekommen konnten, was sie sich wünschten.
Jordans Bewegungen waren ruppig. Immer wieder stieß er mit der Handkante hart gegen Waynes Hoden. Er wusste, was Wayne mochte, und selbst wenn nicht, hätte dessen lauter werdendes Keuchen es ihm schnell verraten.
»Bisschen mehr«, murmelte Wayne nach einer Weile. »Jordan… tu mir weh.«
Jordan tat ihm den Gefallen und atmete gemeinsam mit Wayne aus, als der sich über seine Finger ergoss. Danach blieben sie still aneinandergelehnt sitzen. Keiner von ihnen machte Anstalten, seine Kleidung zu säubern oder den Sessel auf Verunreinigungen zu prüfen. Dafür war später Zeit.
Wortlos lauschten sie den Geräuschen jenseits der Stahltür. Manchmal war kaum zu erkennen, ob die Aufschreie, das Auftreffen von Peitschen auf nackter Haut und das Dröhnen von den Besuchern stammten oder vom Industrial, der durch die Lautsprecher wummerte.
»Ich bin neidisch«, murmelte Wayne nach einer Weile. »Ich bin so verdammt neidisch auf jeden Sub, der gerade einen Dom bei sich hat. Egal, ob nur für heute Nacht oder für länger. Ich könnte platzen.«
Jordan erwiderte nichts.
Kapitel 1
Der Geruch nach Benzin, Schmieröl, Lack und Gummi war überwältigend. Er stieg Phoenix in die Nase, verteilte sich in seinen Nebenhöhlen und biss sich dort fest. Genüsslich atmete er ein; gefühlt zum ersten Mal seit Wochen. Für ihn roch es nicht nur nach harter Arbeit, Maschinen und Brennstoffen, sondern auch nach Vertrautheit, nach etwas, das richtig war.
Durch die offene Werkstatttür sah er sich nach seinem Triumph Spitfire um. Der dunkelgrüne Lack des Oldtimers war staubig, sodass sich das Licht der untergehenden Sonne nur mäßig darauf verfing.
Phoenix war später dran, als er geplant hatte. Eine Vollsperrung hatte ihn gezwungen, sich in den zähen Verkehr der Melbourner Rush Hour einzufädeln. Dass ihn sein Handy auf den letzten Kilometern im Stich gelassen hatte, hatte zu weiteren Verzögerungen geführt. Er hatte sich sogar an einer Tankstelle nach dem richtigen Weg in den Vorort Altona und das dort ansässige Industriegebiet erkundigen müssen. Die kaugummikauende Verkäuferin hatte ihm zu Recht einen belustigten Blick zugeworfen.
Wer war heutzutage schon in einem Auto ohne Navigationssystem und ohne Handy unterwegs? Phoenix war sich wie ein Dinosaurier vorgekommen, der zu dumm war, die Straßenkarte richtig herum zu halten. Er hatte sich für die Wegbeschreibung bedankt, für seinen knurrenden Magen einen Proteinriegel erstanden und war in dem Gefühl verschwunden, dass er irgendwann und irgendwo vom Weg abgekommen war – auch jenseits aller Straßen.
»Da bist du ja, Kumpel! Dachte schon, du hättest dich anders entschieden.«
Ein humorloses Auflachen steckte in Phoenix' Kehle, als er sich nach dem Sprecher umsah. Randy Fountain kam unter einer der Hebebühnen hervorgekrochen; ein breites Grinsen im Gesicht. Er sah genauso aus, wie Phoenix ihn in Erinnerung hatte. Derselbe massige, kahle Schädel, der wie eine Bowlingkugel glänzte, dieselbe Knollennase, der birnenförmige Bauch, der sich über dünnen, langen Beine wölbte. Nur die kräftigen Arme schienen noch umfassender tätowiert als früher, auch wenn es mehr Licht brauchen würde, um die Tinte in der kaffeebraunen Haut zu erkennen.
»Wie könnte ich?« Phoenix ging Randy entgegen und bot ihm ungeachtet dessen ölverschmierter Finger die Hand an. Besser, er gewöhnte sich früher als später wieder daran, eine Patina aus altem Rost und Öl auf der Haut zu haben.
Randys Griff war fest und sein Lächeln warm, aber mit Betroffenheit versetzt. »Wie geht es Stan?«
Obwohl Phoenix die Frage erwartet hatte – immerhin waren Randy und sein Vater jahrzehntelang erst Kollegen, dann Mitbewerber, aber immer Freunde gewesen –, fiel es ihm schwer, sie zu beantworten. Schwerer als noch vor ein paar Tagen, obwohl sich der Zustand seines Vaters seit dem Unfall weder verbessert noch verschlechtert hatte.
»Unverändert«, sagte er knapp. »Mom kümmert sich um ihn.«
Randy schob die Unterlippe vor. »Meinst du, dass er… es weiß?«
Erneut schaute Phoenix sich nach seinem Wagen um, dieses Mal nicht, um sich zu vergewissern, dass Cabrio und Ladung unversehrt waren, sondern um Randy nicht ansehen zu müssen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er mit Blick auf die schimmernden Radkappen. Und ohne es zu wollen, fügte er hinzu: »Hoffentlich nicht.«
»Versteh ich. Würde ja auch niemandem was bringen, wenn er Bescheid wüsste, nicht?« Ein Knacken verriet, dass Randy an einem der Werkzeuge in der Brusttasche seines Blaumanns herumspielte. Dann trompetete er unerwartet laut: »Aber wir können es nicht mehr ändern, nicht wahr? Nur das Beste daraus machen. Bringt Stan nix, wenn wir jetzt alle Flaggen auf Halbmast setzen.«
Phoenix schluckte beim Gedanken an die reglose Gestalt, die im ehemaligen Schlafzimmer seiner Eltern vor sich hinvegetierte und in der man kaum jenen Mann wiedererkannte, der ihm vom Schwimmen übers Billardspielen bis hin zum Autofahren alles beigebracht hatte. Einen Mann, den er liebte und immer lieben würde. Trotzdem war er zu feige gewesen, sich von seinem Vater zu verabschieden, bevor er nach Melbourne aufgebrochen war. Stattdessen hatte er stumm gebetet, dass er sich an einem Ort befand, an dem ihn die Geschehnisse der realen Welt entweder nicht erreichten oder wenigstens nicht berührten.
»Trotzdem, ist eine Schande«, murmelte Randy. »Die ganze vertrackte Geschichte.«
Phoenix biss sich auf die Unterlippe. Er wusste zu gut, was Randy mit der ganzen vertrackten Geschichte meinte. Aber er ging nicht darauf ein. Er hatte seit Ewigkeiten nichts anderes getan, als sich mit den Folgen des Unfalls zu beschäftigen, und sich dabei ein paar hässlichen Wahrheiten über sich selbst stellen müssen, die ihm bis heute im wahrsten Sinne des Wortes Magenschmerzen bereiteten.
Um das Thema weder im Gespräch noch in Gedanken weiter zu vertiefen, wechselte er die Spur. »Falls ich es am Telefon noch nicht erwähnt hatte: Ich bin dir sehr dankbar. Nicht nur dafür, dass ich bei dir anfangen kann, sondern auch für die Unterkunft.« Ihm war bewusst, wie außergewöhnlich das Angebot des alten Freunds seines Vaters war. Wäre er an Randys Stelle gewesen, hätte er sich keine Chance gegeben – und erst recht keine Arbeit.
Randy grinste lediglich schief. »Oh, warte ab, bis du die Bruchbude gesehen hast, bevor du dich bedankst. Und was den Job angeht, kannst du dir sicher sein, dass ich genauso viel davon habe wie du. Hab in letzter Zeit zu viele Kunden wegschicken müssen. Ist nett, wenn die Kasse klingelt. Aber nur so lange, wie man keine Stammkunden vergrault, weil man keine Zeit für sie hat.«
Phoenix rang sich ein Lächeln ab. »Es geht nichts über volle Auftragsbücher.«
»Und mit deinen fixen Händen können wir sie noch ein bisschen voller stopfen. Na komm, Junge. Packen wir's an.« Randy trat mit wiegenden Schritten aus der Werkstatt und spähte in den Spitfire. »Tolles Auto, eines der schönsten, die je gebaut wurden, aber viel Stauraum hat er wirklich nicht«, meinte er angesichts der beiden kleinen Koffer, die hinter den Sitzen verkeilt waren.
»Er war wohl auch nie als Umzugswagen konzipiert.«
»Stimmt. Eher zum Abschleppen von Bräuten.« Randy zog einen der Koffer am Griff zu sich. »Und von Kerlen natürlich.«
Früher – in einem anderen Leben – hätte Phoenix auf die flapsige Bemerkung reagiert und stolz erzählt, dass ihm dieser Wagen schon manchen Fang eingebracht hatte. Damit hätte er sogar untertrieben. Er konnte die Blowjobs, die er in dem engen Raum zwischen Sitz und Lenkrad bekommen hatte, kaum zählen. Aber nun blieben sowohl die Erregung als auch die Freude an der Erinnerung aus, erstickt von der Tatsache, dass der Spitfire und die beiden Koffer einen großen Prozentsatz seines verbliebenen Vermögens darstellten.
Phoenix nahm den zweiten Koffer und folgte Randy durch zwei ineinander übergehende Werkstatthallen zu einer mit Aufklebern übersäten Stahltür. Der kurze Korridor dahinter führte an einem Büro und einem Personalraum vorbei und mündete in einer engen Treppe, an deren Ende sich absatzlos eine weitere Stahltür anschloss.
Randy stieß sie auf und gab den Blick auf einen quadratischen Raum frei, der spärlich möbliert und dank weit offen stehendem Fenster ausgekühlt war. Phoenix trat ein und erwartete halb, seine Gesichtszüge unter Kontrolle halten zu müssen, damit er keine Grimasse zog. Noch vor wenigen Wochen hätte er angesichts des schmalen Metallbetts, der schäbigen Auslegeware und des wackeligen Schranks die Nase gerümpft. Nun war er froh, dass es nicht muffig roch, dass die Decke trocken war und er in der hintersten Ecke einen Durchgang zu einem winzigen Badezimmer mit Toilette und Dusche entdeckte.
»Ich hab unten noch einen alten Minikühlschrank stehen. Die Gummierung ist hin, aber er sollte noch laufen. Bring ich dir gleich hoch«, meinte Randy, während er sich über den kahlen Hinterkopf strich. »Tja, und sonst… Es gibt Strom, die Heizung tut's, Licht ist da und im Bad funktioniert auch alles so weit. 'Ne Kochnische gibt's nicht, aber unten im Personalraum haben wir einen Wasserkocher und 'ne Mikrowelle.« Entschuldigend fügte er hinzu: »Ist wirklich nicht viel, aber…«
»… aber es ist verdammt viel besser als alles, was ich gerade habe«, unterbrach Phoenix ihn. »Mach dir keine Gedanken. Ich werde zurechtkommen.«
Randy zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Phoenix konnte es ihm nicht verübeln. Auch, wenn sich die Wege Randys und seines Vaters zuletzt nicht mehr so oft gekreuzt hatten wie in ihrer Jugend, hatte Randy sie doch einige Male in ihrem Haus in Sydney besucht. Er wusste, dass Phoenix in einer zweistöckigen Villa mit üppig ausgestatteten Räumen, Hauspersonal, luxuriösen Bädern und einer weitläufigen Gartenanlage aufgewachsen war. Von den gewaltigen Garagen, die die zwei- und vierräderigen Sammlerstücke seiner Eltern enthielten, gar nicht erst zu reden.
Dagegen war die Behausung über der Werkstatt tatsächlich kaum mehr als eine Bruchbude. Aber wenn Phoenix nach anfänglichen Startschwierigkeiten eines begriffen hatte, dann dass sein Leben, wie er es gekannt hatte, vorüber war. Er hatte zu diesem Zeitpunkt nur zwei Möglichkeiten: Er konnte sich anpassen und zusehen, dass er die Durststrecke hinter sich brachte, oder sich eine hübsche Brücke suchen, von der er sich hinunterstürzte.
Letzteres war keine Option. Vielleicht, weil er nicht schlau genug war, um die Konsequenzen seines Verhaltens zu überblicken, wie seine Mutter ihm in einem Augenblick der Verzweiflung an den Kopf geworfen hatte. Falls ja, war das für den Moment eher ein Vorteil als ein Nachteil.
***
Phoenix erwachte vor Sonnenaufgang und damit lange, bevor er nach unten gehen und seine neue Stelle antreten konnte. Dennoch drehte er sich nicht noch einmal um, um sich die dünne Bettdecke über den Kopf zu ziehen.
Es hatte sich für ihn in letzter Zeit nie als weise erwiesen innezuhalten. Wenn er körperlich wie geistig stillstand, dauerte es meistens nicht lange, bis sich ein Gefühl von Unwirklichkeit einstellte. Dann kam es ihm vor, als würden die Wände auf ihn zukommen, als wollten sie ihn zerquetschen.
Die Folge war jedes Mal, dass sein Herz einen erschrockenen Satz hinlegte, sein Körper die Adrenalinzufuhr hochjagte und er nach einer Gefahr suchte, die es gar nicht gab. Sein Urzeit-Ich hatte das nur noch nicht begriffen und versuchte, ihn zur Flucht zu überreden. Doch er konnte nicht länger weglaufen. Wichtiger als das: Es war gar nicht mehr nötig. Die Höhle war bereits zusammengestürzt und das Mammut hatte ihn so gründlich niedergetrampelt, dass er kaum noch wusste, wer er war.
Daher fand Phoenix sich morgens um halb fünf unter einer lauwarmen Dusche wieder, gefolgt von einer Rasur mithilfe eines gesprungenen Spiegels und einem Frühstück, das aus einer halben Flasche Wasser und einem Zitronendrops bestand. Mehr hätte sein unruhiger Magen ohnehin nicht verkraftet.
Eine Viertelstunde später betrachtete er das Innere des klapprigen Sperrholzschranks und die zerknitterten Kleidungsstücke, die er darin verstaut hatte. Obwohl der Schrank nur einen schmalen Bereich für Kleiderbügel sowie vier Fächer und Schubladen für T-Shirts und Unterwäsche besaß, war er nicht voll.
Phoenix dachte an die Kartons, die er auf dem Dachboden seiner Eltern zurückgelassen hatte, an die gesammelten Sommer- wie Winterkollektionen von Georgio Armani, Hugo Boss und seinem persönlichen Favoriten The Row, an glänzende Schuhe, modische Extravaganzen und augenkrebserzeugende Entgleisungen. Daran, dass er selbst mit einem größeren Auto kein Bedürfnis verspürt hatte, mehr von seiner Garderobe mitzunehmen. Es wäre das falsche Signal gewesen, der Versuch, die Brücke zu erhalten, die ihn mit seinem Versagen verband.
Was ihm geblieben war, waren alte Freunde: Jeans und T-Shirts, ausgebeulte Arbeitshosen und Sweatshirts, die sich sowohl in der Werkstatt als auch beim Sport tragen ließen, dazu eine Reihe fester Arbeitsschuhe, Jeans- und Freizeithemden und eine groteske Ansammlung hochpreisiger Unterhosen.
Wenigstens kann ich meinen Arsch in Boxershorts für siebzig Dollar das Stück parken. Hurra.
Phoenix schloss mit Nachdruck die Schranktüren, sah auf zur Achtzigerjahre-Deckenlampe und anschließend zu den wenigen verbliebenen Gegenständen in seinen Koffern. Einer war das Ladekabel für sein Handy, das er gestern Abend wohl zum ersten Mal, seitdem er eines besaß, nicht sofort aufgeladen hatte. Aus der Innentasche des anderen Koffers ragte ein Schreibblock mit dem Logo einer Fünf-Sterne-Hotelkette, daneben ein Kugelschreiber mit vergoldeter Spitze; beides seltsam fehl am Platz an einem Ort, an dem zwischen Bad und Wohnraum die Tür fehlte.
Ein Blick auf die Uhr und Phoenix wusste, dass er noch Stunden totzuschlagen hatte, bevor er sich Randy und seinem Team in der Werkstatt anschließen konnte. Er könnte losziehen und sich nach dem nächsten Bäcker oder Coffeeshop umsehen, vielleicht auch nach einem Laden, in dem er ein paar Grundnahrungsmittel erwerben konnte.
Aber etwas in ihm sperrte sich dagegen, Geld auszugeben, und zwang ihn, Block und Kugelschreiber an sich zu nehmen, sich im Schneidersitz aufs Bett zu setzen und endlich den Kassensturz hinter sich zu bringen, dem er sich seit Tagen erfolgreich verweigert hatte.
Zuerst plünderte er seine Brieftasche, dann das Geheimfach im Koffer, das ein Dieb wahrscheinlich innerhalb von Sekunden entdeckt hätte, zuletzt die Taschen der Jeans, die er am Vortag getragen hatte. Er zählte genau und mit einem unangenehmen Flattern in der Magengegend, das sich auch dann nicht beruhigen wollte, als er stolze tausendvierhundertachtzehn Dollar und dreiundvierzig Cent zusammenbekam.
Und selbst für die sollte ich mich schämen.
Es war mehr als genug Geld, um bis zu seinem ersten Lohn über die Runden zu kommen; besonders, da Randy ihm freie Unterkunft angeboten hatte. Aber für jemanden, der früher mehr Kreditkarten besessen hatte, als er nutzen, mehr Konten, als er überblicken, und mehr Aktienfonds, als er allein managen konnte, war es erschreckend wenig.
In Phoenix' Brieftasche herrschte Leere, sobald das Geld neben ihm auf dem Bett lag. Alle Bankkarten waren daraus verschwunden, nur sein Ausweis und seine Krankenkassenkarte waren ihm geblieben, dazu der Mitgliedsausweis eines Fitnessstudios, das er nicht mehr besuchen würde.
Es war niederschmetternd und doch nur der Anfang.
Die folgenden Stunden verbrachte Phoenix damit, säuberlich zu notieren, welche Einkünfte und Ausgaben von nun an auf ihn zukamen – Benzin, Handy, Lebensunterhalt, ein paar Neuanschaffungen für sein neues Zuhause – und mit welchen Belastungen aus seinem alten Leben er rechnen musste. Sie hatten ihm bereits fast alles genommen, aber er glaubte nicht, dass sie sich damit zufriedengeben würden. Wenn er ehrlich war – und das fiel ihm bedrückend schwer –, konnte er sie sogar verstehen.
Als er die Zahlen in verschmiertem Kugelschreiberblau auf Weiß vor sich sah – nach unten hin war seine Schrift immer schiefer geworden –, war jeder Gedanke an eine geregelte Nahrungsmittelaufnahme vergessen. Wenn überhaupt, würde er zwei Säureblocker herunterwürgen und hoffen, dass sie wirkten, bevor sich seine Speiseröhre unter dem Angriff seiner Magensäure auflöste.
Nein, für Lebensmittel würde er in nächster Zeit nicht viel Geld ausgeben.
Um halb acht drangen die ersten Geräusche an sein Ohr. Erst ein, dann mehrere heranrollende Wagen, das Quietschen der Tore zu den Hallen, Morgengrüße und irgendwann auch Türenschlagen unten im Flur.
Phoenix nahm die Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger und kniff sie zusammen, bis ihm die Augen brannten. Seine alten Arbeitsschuhe fühlten sich lächerlich tröstlich an, als er sie noch einmal nachschnürte und anschließend die Tür hinter sich verschloss. Er glaubte nicht, dass Randy zwielichtige Leute beschäftigte, aber wenn man nur knapp eineinhalbtausend Dollar sein Eigen nannte, stellte ein altersschwaches Türschloss eine der vielen kleinen Barrieren zwischen klarem Verstand und erstickender Existenzangst dar.
Sie reichte nicht, wie sich herausstellen sollte.
Phoenix war auf halber Treppe, als die Wände sich über ihm zusammenkrümmten, die Stufe unter seinen Füßen schlüpfrig wurde und sich seine Zehen unter den Stahlkappen taub anfühlten. Er musste sich an der Wand abstützen, starrte auf seine langfingrige, breite Pranke, die keinen Halt versprach, und kämpfte um Selbstbeherrschung.
Im Personalraum rülpste wenig einladend die Kaffeemaschine, jemand ließ eine Schranktür zuknallen, Randys Stimme polterte durch den Gang wie eine Murmel durch eine nicht sauber ausgeschliffene Holzkugelbahn.
Es wirkte alles so normal. So unanständig selbstverständlich. So, als hätte Phoenix sich nicht bis zum Anschlag in die Scheiße geritten. Und für sie – für die Kollegen, die er noch nicht kannte – war es ein Tag wie jeder andere. Sie würden arbeiten, scherzen, sich in die Haare bekommen, vermutlich auch mal stöhnend auf die Uhr schauen und irgendwann nach Hause gehen. Die meisten, ohne sich bewusst zu machen, welch ungeheures Privileg es war, Arbeit zu haben.
Du hast auch Arbeit, erinnerte Phoenix sich scharf. Dazu ein Bett und etwas Bargeld. Du bist immer noch versichert, du hast einen fahrbaren Untersatz und wenn du vor lauter Stress ein Magengeschwür bekommst, musst du nur deine Krankenkassenkarte vorlegen, um behandelt zu werden. Du hast genug und wahrscheinlich mehr, als du verdienst.
Aber es würde dauern, bis sich seine Definition von Reichtum an seine neue Realität angepasst hatte.
Sobald er sich wieder sicher auf den Beinen fühlte, ging er zum Personalraum; entschlossen, jede Ablenkung anzunehmen, die sich ihm bot.
Seine Ohren hatten ihn nicht getrogen: Die ersten seiner neuen Kollegen waren eingetroffen und teilten sich eine Kanne Kaffee. Auch Randy war da und stellte ihn den anderen vor. Phoenix nickte nacheinander dem schlaksigen Sammy zu, der kaum dem Stimmbruch entwachsen war, einem rothaarigen Lockenkopf namens Tatiana, die ihn mit zwei Fingern an der Schläfe grinsend grüßte, und einer älteren Frau, die Randy mit angedeutetem Handkuss als Josephine, die gute Seele des Hauses, vorstellte.
Sie verpasste ihrem Chef einen Stoß vor die breite Brust. »Reiß dich bloß zusammen, Mann«, verkündete sie in feiner britischer Aussprache, die sich mit ihrer Wortwahl biss. »Du willst mir nur Honig ums Maul schmieren. Aber ich war gerade schon im Büro und habe die verdammte Sauerei gesehen, die du hinterlassen hast. Du brauchst heute keinen Schraubenschlüssel anzufassen. Solange wir unsere Buchführung nicht auf Kurs haben, lass ich dich nicht in die Werkstatt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich Phoenix zu, reichte ihm ihre von Altersflecken übersäte Hand und sagte mit spitzbübischem Lächeln: »Josephine Smith, schön, dass du unser Team verstärkst. Und nein, nicht die gute Seele des Hauses, sondern der Hausdrache.«
»Und sie speit nicht nur Feuer, sondern beißt dir auch in den Arsch, wenn sie es für nötig hält«, fügte Tatiana lachend hinzu. Als sie sich die langen Ärmel ihres Shirts hochkrempelte, kam neben einer Unmenge bunter Lederbänder auch ein Unterarm voller Autotätowierungen zum Vorschein.
»Ganz genau. Randy, wenn du Phoenix eingewiesen hast, kommst du direkt zu mir. Sonst…« Josephine hob drohend den Zeigefinger und marschierte mit erhobenem Haupt von dannen. Der grünblaue Seidenschal, der hinter ihr herflatterte, hatte tatsächlich etwas von einem Drachenschwanz.
»Du hast es gehört: Höhere Gewalt hat über meinen Terminkalender entschieden. Na kommt, Leute. Gehen wir in die Halle und sehen zu, dass wir euch für heute mit Arbeit versorgen.« Randy rieb sich die Hände, als könnte er es nicht erwarten, sein Tagwerk zu beginnen. »Tatty, du kümmerst dich zuerst um den Dodge, ja? Neue Bremsscheiben und -klötze.«
Sie reckte den Daumen hoch. »Roger, Chef.«
Phoenix folgte Randy gemeinsam mit Sammy in die Werkstatt. Bald darauf fand er sich in einer Fachsimpelei über einen alten Toyota Camry wieder, für den sie wahrscheinlich nichts mehr tun konnten, und über einen Ford Mondeo, der beim Starten laut Kundin rassele wie ihr Mann auf der Lunge. Randy erklärte Sammy, der offenbar noch nicht lange für ihn arbeitete, was es mit einer Steuerkette auf sich hatte und warum es meist auf einen Totalschaden hinauslief, wenn sie riss, und Phoenix steuerte hier und da ein Nicken oder einen Einwurf bei.
Und er entspannte sich ein wenig. Er wusste nicht, ob es an der Werkstattluft lag, an der bodenständigen Arbeit oder an der Stimme, die ihm einflüsterte, dass er nach vielen Jahren hinter dem Schreibtisch endlich wieder dort war, wo er hingehörte. Aber als er sich hinter das Steuer des Mondeos setzte und ihn anließ, damit sie sich das Rattern der Steuerkette anhören konnten, war sein Magen friedlich.