Читать книгу: «Stille Pfade»

Шрифт:

Stille Pfade
Herbstwind Zyklus 1
Philipp Lauterbach
Lektorat Benjamin Schäfer
Cover Bessi78

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Zweiter Teil

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Dritter Teil

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Vierter Teil

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Prolog

Yggdrasil, der Lebensbaum, strahlte die ihm typische Gelassenheit des Nichtvergänglichen aus als sich die Abbilder der vier Druidinnen, stellvertretend für die natürliche Vielfalt, um ihn versammelten. Vier Winde. Vier Elemente. Vier Jahreszeiten. Vier Druidinnen.

Hier in der Ewigkeit, jener astralen Parallelwelt, traf sich der Zirkel bereits seit dem Anbeginn der Zeit und beriet sich. „Ich habe euch heute zusammengerufen, da den Fünf Provinzen ein tiefgreifender Wandel bevorsteht“, begann Verdani, deren Energie die Form einer tanzenden Flamme angenommen hatte. „Und es ist möglich, dass das Gleichgewicht der Kräfte an diesem Wandel zerbricht.“

„Auch ich spüre diese Veränderungen“, pflichtete ihr Skuld bei. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie nicht eine elementare Form gewählt, sondern erschien als rotorange glühender Sonnenuntergang. „Überall im Königreich haben sich mächtige Interessen in Bewegung gesetzt.“

Urd verfolgte die weiteren Ausführungen Skulds nur beiläufig. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Platz zu ihrer Rechten, denn die östliche Domäne war unbesetzt. Beinahe zumindest. Anstelle der spirituellen Aura einer Druidin, die vor Energie nur so überschäumte und fortwährend energetisch knisterte, weilte dort das schummrige Abbild einer dösenden Wildkatze. Zusammengerollt und ihren Kopf im graubraunen Fell vergraben, nahm das Raubtier keinerlei Anteil an den Belangen der Frauen. Lediglich das vereinzelte Zucken ihres buschigen Schwanzes teilte den Druidinnen das Missfallen der Katze über die unfreiwillige Störung mit.

„Urd!“, riss Verdanis Stimme sie aus ihren Gedanken. „Hörst du uns überhaupt zu? Was hältst du von dem Vorschlag?“

„Welchem Vorschlag?“

Die spirituelle Flamme loderte wütend auf. „Das wir als Zirkel – und Bewahrer des Gleichgewichts – eingreifen? So, wie wir es schon immer taten in Zeiten des Umbruchs … seit die Strahlen der Sonne und des Mondes das erste Mal das Antlitz der Welt berührten.“

Urd blickte wieder zu dem geisterhaften Schemen zu ihrer Rechten. „Ich halte nichts von der Idee“, gestand sie und erklärte zögerlich: „Der Zirkel ist noch immer zerbrochen.“

„Woran du schuld bist“, bemerkte Verdani bissig. „Hättest du nicht auf diese verdammte Albin vertraut …“

„Sie hatte mehr Potential als wir alle drei zusammen!“ Urds Stimme hallte mit einem drohenden Echo durch die Ewigkeit. Sie deutete auf die dösende Katze. „Schau dir ihre Kraft genau an. Sie ist noch immer irgendwo dort draußen.“ Die schwarze Schwanzspitze der Katze zuckte erneut und leitete beklommenes Schweigen ein, welches sich nebelgleich über den Zirkel legte und Urd frösteln ließ. Lohnt es sich denn überhaupt?, überlegte sie. Immerhin haben uns die Bewohner der Fünf Provinzen schon längst vergessen. Einst waren wir wie Götter für sie. Lebende, nahbare Götter, die unter ihnen wandelnden und ihre Wünsche erhörten. Und dann? Dann breitete sich die Magie auch unter den ihnen aus und sie verstießen uns. Sie wurden ihre eigenen Götter! Urd erinnerte sich mit gekräuselten Lippen gerade noch an die bitteren Ereignisse des letzten Umbruchs, als etwas in ihrem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Lebensbaum.

Obwohl die Druidin zunächst nicht erkennen konnte, was genau es war, spürte sie eine tiefgreifende Verunsicherung. Dann sah sie es ganz deutlich: Yggdrasil - durch die Natur selbst von aller Endlichkeit freigesprochen - begann sich gerade in diesem Moment zu verändern; sein volles Blattwerk verfärbte sich innerhalb weniger Herzschläge von einem satten Dunkelgrün in ein trotziges Gelborange. Und dann, noch bevor Urd ihrem Erstaunen Ausdruck verleihen konnte, rieselten die vormals kräftigen Blätter des Baums wie traurige Überreste seiner einstigen Unantastbarkeit leblos zu Boden. Nicht lange und Yggdrasil würde sein gesamtes Haupt entblößt haben.

Unmöglich!, erschrak Urd und verlor über den Anblick ihre Konzentration. Das gelangweilte Gähnen der Wildkatze war das Letzte, was die Druidin sah, bevor sie schmerzhaft durch die astrale Barriere der Ewigkeit brach und in ihre Hülle aus Fleisch und Blut zurück stürzte.

Erster Teil

1

Isolde schreckte ruckartig aus ihrem Traum auf und wusste nicht, ob sie tatsächlich geschrien oder nur davon geträumt hatte. Unter dem mürrischen Knarren ihres Bettes lehnte sie sich erschöpft an das Kopfende und fröstelte. Ihr durchgeschwitztes Nachthemd klebte nicht nur an ihrem feuchtkalten Rücken, sondern verband sich ebenso mit dem klammen Luftzug im Raum. Stöhnend rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und hoffte mit dieser Geste auch die letzten Überreste des schrecklichen Albtraums aus ihrem Geist zu vertreiben: Jenem Schreckgespenst, dass sie nun schon seit knapp einem Monat regelmäßig heimsuchte. Wie ein unausweichliches Grauen lauerte es in der Dunkelheit und Isolde wusste nicht, wie sie ihm entrinnen sollte. Bei ihrem Sohn hatte sie beobachtet, dass dieser nach dem Erwachen aus einem Albtraum erleichtert aufatmete. Glücklich darüber, der Traumwelt endlich entkommen zu sein. Isolde konnte die kindliche Erleichterung nicht nachvollziehen.

Angewidert starrte sie auf die Ratte, welche sich auf der gegenüberstehenden Kommode ausgiebig kratzte und dabei zahlreiche Haare verlor. Dabei störte das Nagetier selbst Isolde eher weniger - sogar die fehlenden Fellstücke und zerschlissenen Ohren ließen sie kalt. Solche Anblicke begleiteten sie schon ihr Leben lang in den Straßen Freistadts. Was sie wirklich störte, war die Tatsache, dass sich die Ratte in ihrer erbärmlichen Verfassung perfekt in das Erscheinungsbild ihres Schlafzimmers einzufügen schien. Sie gehörte einfach dazu. Isolde lächelte bitter.

Ein weiterer glücklicher Einwohner Freistadts, der Stadt in den Fünf Provinzen, die Wohlstand und Aufstieg für alle versprach - vollkommen ungeachtet ihrer Herkunft oder Rasse. Sie war nie naiv genug gewesen, um an derartige Versprechen zu glauben. Sicherlich bot Freistadt gegenüber anderen Städten im Königreich vielerlei Vorzüge, doch galten diese meist nur für die Wohlhabenden.

Der Windzug im Raum schwoll an und Isolde entschied sich aufzustehen. Unter neuerlicher Kommentierung des Bettes warf sie die löchrige Bettdecke beiseite und setzte sich an den Bettrand, wobei sie ihr Rückenschmerz gnadenlos an die fehlenden Latten im Bettrost erinnerte. Durch das erneute Knarren des Bettes hatte sich nun auch die Ratte zum Verlassen entschieden und verschwand mit kratzenden Geräuschen unter dem Kleiderschrank neben der Kommode.

Isolde raffte sich auf und ging zum Nachttopf. Als sie ihr Nachthemd anhob und sich über den Topf kniete, fiel ihr auf, wie hungrig sie war. Wann sie das letzte Mal richtig gegessen hatte, wusste sie nicht - und eigentlich interessierte es sie auch nicht. Denn selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie davon auch nicht satt geworden.

Mühsam stand sie auf und schritt zu der ausgebleichten Holzkommode, auf der eben noch die Ratte gekauert hatte, und wischte beiläufig deren Hinterlassenschaften von der Oberfläche, bevor sie die Temperatur des Wassers in der Waschschüssel prüfte. Eigentlich hasste sie es, sich mit eiskalten Wasser zu waschen, doch wenn sie heute Nacht noch ein paar Reichsmark verdienen wollte, durfte sie nicht mehrere Schritt weit gegen den Wind stinken. Zwar waren die Freier in ihrer Nachbarschaft nicht allzu wählerisch, doch war Isolde auch nicht mehr die Jüngste.

Während sie sich das Gesicht zu waschen begann, versuchte sie abzuschätzen, wie spät es war und spähte aus dem Augenwinkel zu den kleinen Löchern, die sich in der Wand an der Westseite ihres Schlafzimmers befanden. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen hindurch und Isolde wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie setzte die Wäsche mürrisch unterhalb ihrer Gürtellinie fort und nachdem sie zumindest die wichtigsten Körperstellen für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes gewaschen hatte, stellte Isolde die Waschschüssel vorsichtig zur Seite. Das Wasser war freilich nicht mehr trinkbar, doch deswegen nicht weniger wertvoll in den Armenquartieren Freistadts.

„Wenn ich es dir doch sage!“, rief Josef über den kleinen Holztisch dem jungen Matthias zu. „Du musst jede Nacht mindestens fünf Stunden schlafen, sonst wächst du nicht mehr. Und ich glaube nicht, dass du den Rest deines Lebens wie ein nichtsnutziger Zwerg verbringen willst, oder?“

Isolde hatte die Küche betreten und betrachte Josef, der soeben mit ihrem Sohn diskutierte. Josef war nicht der Vater des Jungen, doch unterstütze er sie beide so gut er konnte.

„Ich mag Zwerge“, entgegnete Matthias trotzig. „Die sind stark und machen den ganzen Tag, was sie wollen. Viele handeln sogar im Auftrag der Gilde und bereisen das gesamte Königreich.“

„Und genau deshalb sind das ja auch alles Nichtsnutze, die niemand hier in Freistadt respektiert!“, entgegnet Josef und ließ nicht locker. „Oder hast du schon einmal jemanden getroffen, der dieses verlogene Pack gerne hat?“

Isolde fand es immer wieder rührend, wie entschieden ihr Sohn und Josef stritten, wenn es darum ging, dass Matthias rechtzeitig zu Bett ging. Dabei wussten alle beide ganz genau, wie ihre Auseinandersetzung enden würde. Josef würde noch eine halbe Stunde lang versuchen, ihren Sohn unter fadenscheinigen Argumenten zum Schlafen zu überreden und Matthias würde energisch dagegenhalten. Matthias war eben noch ein Kind und voller Tatendrang. Für ihn war alles neu und interessant. Wie die Händler der Gilde wollte er die Welt außerhalb der Stadtmauern Freistadts selbst erleben und die Fünf Provinzen bereisen. Isolde war bereits aufgefallen, dass ihr Sohn die Geschichten der fliegenden Händler auf den Märkten und Straßen geradezu aufsog und so gerne sie sich ein solches Leben für Matthias auch wünschte, so wusste sie doch, dass er diese Reisen niemals antreten würde. Seine Welt würden die grauen Fabriken vor den Toren Freistadts sein, denn obwohl er erst elf Jahre alt war und noch kein Bart in seinem Gesicht spross, war er ein unabdingbarer Verdiener im Haushalt. Isolde stiegen Tränen in ihre hellblauen Augen. Es tut mir so leid.

Am Ende ihrer Diskussion würde Josef ihrem Sohn erlauben einen kräftigen Schluck aus seinem Bierkrug zu nehmen, was zumindest den drängendsten Hunger stillte und die Sinne gegen die Kälte der Nacht abstumpfte. Es war inzwischen zu einem festen Abendritual für beide Streithähne geworden - genauso wie die persönliche Verabschiedung von Isolde, bevor diese das Haus für die Nacht verließ. Die allabendliche Verabschiedung von Matthias war Isoldes Weise um sich in Erinnerung zu rufen, warum sie ihren Körper für nur ein paar Reichsmark in den schmutzigsten Ecken Freistadts feilbot.

„Matthias…“, seufzte sie verständnisvoll. „Du weißt doch ganz genau, dass du morgen Früh wieder pünktlich in der Fabrik sein musst. Außerdem kann ich doch sehen, dass dir schon die Augen zufallen.“ Liebevoll streichelte sie ihrem Sohn durch sein braunes, struppiges Haar.

„Aber ich möchte wach bleiben und da sein, wenn du nach Hause kommst. Dann kann ich mir sicher sein, dass es dir auch gut geht.“

„Du weißt doch ganz genau, dass du dir keine Sorgen machen musst“, beruhigte sie ihn. „Außerdem passe ich doch auf, wenn ich so spät noch rausgehe.“ Unweigerlich fasste sie unter ihren Rockbund. Seit dieser schrecklichen Nacht vor einem Monat versteckte Isolde dort eine kleine, aber todbringend scharfe Klinge. Diese sollte ihr im Notfall die Haut retten - oder zumindest ihr Leiden beenden.

„Ist das so?“, bemerkte Josef verdrießlich. Sein Kommentar war leise, doch hörbar. Mit seinem Bierkrug in der Hand stand er auf verließ missmutig die Küche.

Matthias blickte ihm verwundert hinterher und fragte seine Mutter: „Was ist denn mit Josef los?“

„Keine Ahnung“, log Isolde und streichelte ihm weiter den Kopf. Sie wusste, dass auch Josef diese Nacht in Erinnerung geblieben war. Damals hatte sich der Herbst noch nicht angekündigt und der Sommer schenkte Freistadt die letzten lauen Nächte. Dies war die einzige angenehme Erinnerung, die Isolde mit diesem Tag verband. Denn im Morgengrauen war nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie überhaupt überleben würde. Alleine hatte sie sich durch die Gossen Freistadts nach Hause geschleppt. Am Ende ihrer qualvollen Reise lag sie in zerrissener Kleidung, blutend und nahe der Bewusstlosigkeit vor ihrer eigenen Haustür. Nur die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages gaben ihr die Kraft nach Josef zu rufen. Glücklicherweise wachte Matthias in jener Nacht nicht durch ihre Rufe auf, denn das hätte sie sich niemals verziehen.

„Und jetzt ab ins Bett, du Zwerg!“, sagte sie mit einem gekünstelten Lächeln und gab ihrem Sohn einen zarten Ruck.

„Aber ich wollte noch ein Schluck Bier von Josef!“, verlangte dieser und stemmte sich gegen ihre Hand.

Er ist wirklich stark geworden, bemerkte sie glücklich und entgegnete: „Das muss heute leider ausfallen … aber dafür kannst du einen Kuss von deiner Mutter haben.“

„Den kannst du dir sparen!“ Matthias grinste verschlagen und seine braunen Augen leuchteten sie an. Ihre Hand strich zärtlich über seine Wange. Er hatte die Augen seines Vaters, in denen sie sich verlieren konnte.

„Alles okay bei dir?“, fragte Matthias unsicher.

„Ja, bei mir ist alles okay. Und jetzt ab in Bett.“

Matthias strich die Hand seiner Mutter beiseite und sprang von seinem Stuhl auf. Nun küsste er sie doch kurz auf die Wange und rannte schnell in sein Schlafzimmer.

Ich liebe dich! Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ohne ihm lange nachzublicken griff Isolde sich ihren verwaschenen Überwurf aus Schafwolle und schlang ihn sich um den Hals.

„Du weißt, dass du das nicht tun musst, oder?“ Josef stand im Türrahmen seines Schlafzimmers und schaute sorgenschwer zu Isolde.

„Doch, das muss ich“, berichtigte sie ihn gereizt. „Jeden Abend muss ich das tun - und das weißt du genau.“ Ihm musste genauso klar sein wie ihr, dass sie niemals eine Anstellung in einer der Fabriken erhalten würde. Nicht mit ihrer verkrüppelten Hand. Isolde war zwar schon immer von ansehnlicher Natur, doch waren seit ihrer Kindheit drei Finger ihrer linken Hand versteift. Und im Gegensatz zu den Freiern interessierten sich die Fabrikbesitzer nun einmal auch für ihre linke Hand.

„Ich meine nur, dass dich das eines Tages umbringen wird“, versuchte Josef sie zu beschwichtigen. „Irgendein Verrückter wird dir die Kehle durchschneiden und die Stadtwache wird sich nicht einmal dafür umdrehen - wenn sie es nicht sogar selber tun, die Schweine … Wer kümmert sich dann um Matthias? Seinen Vater hat er bereits verloren.“

Du! Wenn ich eines morgens nicht zurückkomme, wirst du dich um Matthias kümmern. Wortlos verließ sie die Küche und schmiss die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

2

Ich werde mich niemals an Städte gewöhnen, fluchte Ismail, als er das Stadttor Freistadts durchschritt. Es gibt in Städten einfach viel zu viele Leute - und die machen viel zu viel Krach. Hektisch strömten die Stadtbewohner in beide Richtungen an dem Waldläufer vorbei und rempelten ihn dabei immer wieder an. Eine besonders unfreundliche Albin trat ihm von hinten in die Hacken, quittierte seinen missbilligen Blick mit einem ausgestreckten Mittelfinger und zog fluchend an ihm vorbei. In dem Meer aus Alben, Zwergen und Menschen, war sie schon nach wenigen Schritten nicht mehr auszumachen.

Scheinbar hatte er unabsichtlich genau den Schichtwechsel in den Fabriken vor der Stadt abgepasst. Er hatte auf seinen Reisen davon gehört. Angeblich fanden diese mehrfach pro Tag statt und sorgten für eine wahre Flut an Arbeitern, die zu beiden Seiten durch das Stadttor strömten. Die Sache mit der Flut kann ich auf jeden Fall bestätigen.

Es war eine Besonderheit Freistadts, dass sich nur ein einziges Stadttor in der äußeren Stadtmauer befand. Ein architektonisches Nadelöhr, welches die bevölkerungsreichste Stadt in den Fünf Provinzen mit der Außenwelt verband. Ismail wunderte sich, wie alle diese Arbeiter in die Fabriken passen sollten. Als er Freistadt diesen Nachmittag von Norden her erreichte hatte, waren die tristen Fabrikgebäude bereits von Weitem zu sehen gewesen. Sie waren zweifellos riesig, doch fand er die Anzahl der Arbeitskräfte, die er gerade in diesem Moment sah, weitaus beeindruckender.

Ihn überkam das ungute Gefühl, dass er innerhalb der Menge die Kontrolle über seinen Weg verloren hatte, wie in einem wilden Strom wurde er erfasst und mitgezogen. Genervt von den ständigen Rempeleien suchte er mehrfach Augenkontakt um sein Missfallen der jeweiligen Person mitzuteilen und hegte dabei die Hoffnung, dass nicht alle Bewohner Freistadts so abgehärtet waren wie die unfreundliche Albin - doch die Fabrikarbeiter nahmen ihn nicht einmal wahr. Der Fremde war ihnen schlichtweg egal. Sie wollten nach vollbrachten Tageswerk nur so schnell wie möglich nach Hause oder rechtzeitig zur nächsten Schicht an ihrem Arbeitsplatz sein. Obwohl der Waldläufer selbst noch nie in einer Fabrik gewesen war, hatte er schon so manche Geschichte über diese Orte gehört: Unmengen großer Maschinen sollen dort sauber in Reih und Glied nebeneinander stehen. Und an jeder sollen gleich mehrere Arbeiter schuften und denselben Handgriff fast einen halben Tag lang einfach immer wiederholen. Ismail verspürte nicht wirklich den Drang, den Gerüchten auf den Grund zu gehen. Der Waldläufer wollte einfach nur seine Geschäfte in der Stadt erledigen und dann schnellstmöglich wieder aus diesem Moloch verschwinden.

Und doch hatten die Fabriken seiner Meinung nach auch ihre guten Seiten. Viele der Arbeiter hätten unter anderen Umständen und in anderen Provinzen des Königreichs ein schlimmeres Dasein gefristet. Er dachte dabei etwa an die Minen im Götterkamm, dem größten Gebirge im Land. Die harte Arbeit unter Tage mit all ihren Gefahren hatte schon viele Leben gekostet. So war es kein Wunder, dass der Westen - allen voran die Geteilte Stadt - vor allem von Zwergen besiedelt wurde. Mit ihrem kleinen, doch breiten Körperbau, der extremen Zähigkeit sowie ihrer legendären Dickköpfigkeit, schienen sie wie gemacht für diese Tätigkeit. Die kleinsten Bewohner der Fünf Provinzen, trotzten eindrucksvoll dem größten Gebirge.

Aber auch das Leben in der Südlichen Provinz war für die einfache Bevölkerung nicht wirklich besser - und Ismail wusste wovon er sprach. Er selbst war im Süden des Königreichs geboren und aufgewachsen, wenn auch nicht unter der einfachen Landbevölkerung. Zumindest nicht die ersten sechzehn Jahre seines Lebens.

Die Südliche Provinz, mit ihrer Hauptstadt Halmingen, war das landwirtschaftliche Zentrum der Fünf Provinzen. Geprägt durch Ackerbau und Viehwirtschaft, befand sie sich fest in den Händen der Großgrundbesitzer, welche über die Jahrhunderte eine strikte Ständegesellschaft eingeführt hatten. Wer nicht zum Landadel gehörte, hatte im Süden grundsätzlich schlechte Aussichten. Der größte Teil der einfachen Landbevölkerung lebte in Leibeigenschaft auf den Ländereien der Großgrundbesitzer und erarbeitete, unter teils grauenvollen Entbehrungen, deren Reichtum. Selbst Sklaverei war in den abgelegenen Ländereien der Südlichen Provinz nicht selten. Wie Vieh wurden die Bauern dort gehalten und gezüchtet.

Ismail selbst wurde als Jüngster von drei Söhnen in eine jener Adelsfamilien hineingeboren, wobei der Stern seiner Familie bereits seit geraumer Zeit am Sinken gewesen war …

„Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst“, brüllte ein bärtiger Riese und riss den Waldläufer aus seinen Erinnerungen. „Jetzt schau mich nicht so scheiße an! Ich habe dich was gefragt, du Pisser!“ Der Kerl versetzte Ismail einen Stoß gegen die rechte Schulter.

Die beiden Kerle, die sich drohend vor ihm aufbauten, waren Menschen und eine handbreit größer als er. Gedankenverloren war Ismail in sie hineingelaufen. Der Rechte hatte kupferfarbenes Haar und einen verfilzten Vollbart in identischem Farbton. Sein Freund hingegen hatte sich seinen Schädel kahl geschoren und trug einen, von Pockennarben durchsetzten, Dreitagebart. Was die beiden Gestalten gemeinsam hatten, war ihre Suche nach Ärger.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich der Waldläufer schnell. „Ich war in Gedanken und habe nicht aufgepasst, wo die Masse mich hinträgt - diese Stadt ist einfach nur beeindruckend.“ Ismail hoffte, die beiden Schläger auf diese Weise beruhigen zu können. Die Städter in den Fünf Provinzen hörten nur zu gerne, dass sie ein viel interessanteres Leben als die dummen Dorftrampel führten. Und nach Wochen unter freien Himmel und mit dem Fellbündel auf seinem Rücken, sah Ismail nun einmal genauso aus. In einer ruhigen Geste schlug er die Kapuze seines Umhangs zurück und offenbarte sein rabenschwarzes Haar.

„Das haben wir selbst gemerkt!“, keifte der Linke. „Aus was für einem Inzuchtkaff kommst du überhaupt?“ Lachend stieß er seinem Kameraden den Ellbogen in die Seite. Beide Schläger grinsten und präsentierten dabei freigiebig ihre verfärbten Zähne. Gespannt warteten sie darauf, wie Ismail auf ihre Provokationen reagieren würde.

Doch dieses Spiel hatte Ismail auf seinen Reisen bereits zur Genüge gespielt, um zu wissen, dass eine leichtfertige Antwort wahrscheinlich ein paar unangenehmen Schlägen in seinem Gesicht zur Folge haben würde. Leider halfen auch Beschwichtigung nicht, denn die beiden Typen würden ihn dann einfach immer weiter herumschubsen. Kerle wie sie gab es selbst in den kleinsten Ortschaften des Königreichs: Schläger und Taugenichtse, die sich in kleinen Gruppen zusammenrotteten und aus Langeweile nach Opfern suchten. Witterten solche Gestalten Schwäche oder Angst, ließen sie erst nach, wenn das Opfer vollkommen bloßgestellt und erniedrigt war, gerne auch mal schwer verletzt und ihrer Habseligkeiten beraubt. Was sie jedoch wirklich verunsicherte, war ein Gegenüber, das sie weder einschätzen, noch in ihrer einfältigen Welt einsortieren konnten.

„Ich komme aus einem kleinen Dorf im Norden“, log Ismail. „Und nun suche ich hier nach einer Möglichkeit, um das Fell zu verkaufen. Es ist von einem Fenriswolf, den ich vor ein paar Tagen an den Ausläufern des Schattenforstes erlegt habe. Kennt ihr beide zufällig einen Händler hier in Freistadt, der Interesse an einem solchen Fell haben könnte?“ Schadenfroh erkannte er, dass seine Frage die Selbstsicherheit der beiden gewaltig ins Schwanken gebracht hatte. Obwohl sie zu Lebzeiten bestimmt noch nie weiter als einen halben Tagesmarsch von Freistadt entfernt gewesen waren, wussten sie natürlich, was ein Fenriswolf war.

Dieses Wildtier war die mit Abstand größte Wolfsgattung im Königreich und ein ausgewachsener Rüde, konnte ohne Probleme die Schulterhöhe eines erwachsenen Menschen erreichen. Für sie waren Menschen, Zwergen und Alben eine genauso gängige Beute wie ein Schaf oder Wildkaninchen. Alles in allem ein grausamer Gegner. Nicht ohne Grund versetzen Fenriswolfsrudel immer wieder ganze Landstriche in Angst und Schrecken.

„Ein Fenriswolf, hä?“, wiederholte der rechte Hüne ungläubig. Er warf seinem Kameraden einen unsicheren Blick zu, doch dieser schüttelte nur ungläubig seinen geschorenen Schädel.

„Ja, ein Fenriswolf“, bestätigte Ismail in gespielter Gleichgültigkeit. „Ein prachtvoller Rüde - und gewehrt hat sich das Vieh, dass glaubt ihr nicht. Wenn ihr möchtet, kann ich euch gerne mal das Fell zeigen.“ Bei dem Angebot zeigte Ismail mit dem Daumen über seine Schulter auf das Fellbündel auf seinem Rücken. Wie aus Versehen ließ er dabei seinen dunkelgrünen Lodenumhang zur Seite rutschen und offenbarte seinen sonst verborgenen Dolch. Diesen trug er in einer speziellen Scheide direkt am Oberschenkel, damit die Waffe nicht unkontrolliert an seinem Gürtel herum schwang, wie dies oft bei Bauern und gewöhnlichen Jägern der Fall war. Zudem handelte es sich bei seinem Dolch um keine minderwertige Ware, die man auf den gängigen Märkten nachgeschmissen bekam und die eher an einen schartigen Zahnstocher als an eine präzise Nahkampfwaffe erinnerte. Sein Dolch war handgefertigt und von höchster Qualität. Eine markant geschwungene Klinge, die auf kunstvolle Weise an die Kralle einer riesenhaften Raubkatze erinnerte und welche mit Vorliebe bei den Kriegern der Freien Stämme Verwendung fand. Als Mensch konnte man eine solche Waffe nur erlangen, wenn diese einem durch einen Stamm verliehen wurde oder man den Vorbesitzer tötete. Beide Varianten sprachen dafür, den Träger nicht zu unterschätzen.

„Ja, natürlich …“, stammelte der Rothaarige und starrte auf die Waffe. Unruhig stieß er seinen Kameraden immer wieder in die Seite, um ihn ebenfalls darauf aufmerksam zu machen.

„Im Mittleren Ring der Stadt“, antwortete dieser schnell. „Du solltest es bei einem der Gildenhändler im Mittleren Ring probieren. Oder vielleicht bei Halims Naturwaren. Das Spitzohr soll an allem aus dem Schattenforst interessiert sein.“ Er lächelte ängstlich. „Wir im Äußeren Ring haben weder die Händler noch das Geld, um ein solches Fell zu kaufen.“

Der Waldläufer sagte kein Wort, sondern starrte den Rothaarigen einfach weiter an. „Dann werde ich mein Glück mal im Mittleren Ring probieren“, erlöste er die beiden Taugenichtse. „Vielleicht läuft man sich ja nochmal über den Weg.“

„Ja, vielleicht …“, stammelte der Glatzkopf und lächelte noch immer gezwungen.

Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt Ismail zwischen ihnen hindurch und tauchte wieder in das Meer aus Arbeitern. Die beiden Schläger hingegen schauten sich verdutzt an und warfen ihm einen letzten, unsicheren Blick hinterher. Kaum hatte sich Ismail einige Meter Richtung Stadtzentrum entfernt, hörte er den Rothaarigen erneut brüllen: „Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?“ Ismail schüttelte amüsiert den Kopf und wünschte dem armen Bauerntrampel alles Glück der Welt.

399
573,60 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
331 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783944771311
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
171