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Wird unser Leben vom Schicksal bestimmt?

Mein Leben – ja, das hat natürlich ein Schicksal. Was heißt Schicksal eigentlich? Da steckt das Wort „Geschick“ drin. Das ist mir geschickt worden – das ist ein Passiv. Und das ist wohl die Erfahrung von jedem Menschen, dass wir uns nicht aussuchen können, wie wir leben. Ich habe mir nicht ausgesucht, Deutscher zu werden, ich habe mir nicht ausgesucht, 1,91 Meter groß zu werden, ich habe mir nicht ausgesucht, eine weiße Hautfarbe zu haben, ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Ja, das ist Schicksal. Und insofern sind wir tatsächlich unserem Schicksal ausgeliefert.

„Ausgeliefert“ ist auch schon wieder so ein Wort! Ich weiß, das tut irgendwie weh, aber ich bin schon dafür, dass wir die Wahrheit und die Wirklichkeit des Lebens anschauen: Ich bin meinem Leben ausgeliefert. Ich habe mir zum Beispiel nicht ausgesucht, welche Lehrer und welche Lehrerinnen ich habe, welches Buch mir empfohlen wurde. Ich habe mir auch nicht ausgesucht, welcher Kinofilm mich so angesprochen hat, dass er mir einen richtigen Impuls gegeben hat.

Es gibt drei, vier Situationen in meinem Leben, die echt Weichenstellungen waren. Wenn ich dran denke, dass ich als Siebzehnjähriger in der Landvolkshochschule in Freckenhorst sitze und ein Priester einer ganzen Gruppe von Jugendlichen – ich war auch dabei – erklärt, was die Taufe bedeutet, und in mir das wie eine Bombe einschlägt (in den anderen neunzehn ist es wohl nicht eingeschlagen) und ich dann spüre: „Wow! Taufe! Das ist ja toll! Das ist ja der Weg zur Freiheit!“, dann ist das ein Schicksal gewesen, das war eine Schicksalsstunde. Und ich glaube, dass du in deinem Leben solche Schicksalsstunden auch kennst.

Bei der Frage nach dem Schicksal und ob wir davon auch bestimmt sind, schwingt natürlich auch immer eine negative Konnotation mit. Wir hören dieses Wort mit einer negativen Färbung: „Das ist aber ein schweres Schicksal“ oder „Der hat aber ein schweres Schicksal“. Ich habe noch nie gehört, dass jemand gesagt hat: „Der hat aber ein gutes Schicksal! Der hatte aber ein glückliches Schicksal!“ Sondern Schicksal hören wir immer negativ, und darum ist es mir wichtig, jetzt im ersten Schritt dir bewusst zu machen, dass unser ganzes Leben ein Schicksal ist. Es ist uns alles geschickt, und wir haben uns nichts selber genommen. Was wir uns selber genommen haben, konnten wir uns nehmen, weil uns vorher etwas geschickt worden ist. Also: Niemand hat sich selber die Brust gegeben. Und niemand hat sich selber gestreichelt und im Arm getragen und niemand hat sich das Wissen dieser Welt angesammelt, das es gibt, sondern wir pflücken es als Früchte einer Menschheitsgeschichte. Es ist einfach unser Schicksal, Eingebundene zu sein. Wir sind alle Erben. Wir sind alle irgendwie eingebunden.

Jetzt kommen wir zum Nächsten: Es wird uns geschickt – ja, von wem wird es uns geschickt? Das steckt ja eigentlich hinter dieser Frage. Von wem wird uns das Schicksal geschickt? Da heißt meine erste Antwort ganz prosaisch: vom Leben selbst. Ich bin nicht dreimal von der Wickelkommode gefallen, andere sind es und beklagen sich ein Leben lang darüber, dass sie zu kurz gekommen sind und deswegen brauchen sie nicht … Mein Papa zum Beispiel hat nie dran gedacht, dass ich mal Klavier spielen lerne. Mein Schicksal ist also, dass ich kein Klavier spielen kann, und jedes Mal, wenn ich vor einem Piano stehe oder einer Orgel, dann denke ich mir: „Was für ein Mist, dass ich das nicht lernen konnte! Schrecklich! Diese schönen Toccaten und Fugen von Bach! Mein Schicksal ist ein grausames, dass ich das nie spielen kann … furchtbar!“

Es gibt viele Menschen, die ein Detail so aufblasen, dass es alles andere zudeckt. Diese Schicksalsklägerinnen und -kläger, die über ihr Schicksal klagen, sind Menschen, die sich von der Werbeindustrie, von der Fit-und-Schön- und Lustig-Industrie die ganze Zeit erzählen lassen, Leben sei, den ganzen Tag fit zu sein, lustig zu sein, einen Body-Maß-Index von Y zu haben, ein Einkommen von X zu haben und auf 87,9 Quadratmetern im Grünen am See ohne Nachbarn zu leben, aber gut eingebunden zu sein in eine tolle Nachbarschaft. Ich weiß nicht, welche widersprüchlichen Sachen aufgeblasen werden, dass Leute so eine Art Schicksal empfinden, sie seien zu kurz gekommen. Nein, das Leben, wie es an uns herantritt, ist erst mal ein Geschick, das niemand sich ausgesucht hat.

Und dann kommt die Frage: „Ja, und der liebe Gott? Wo bleibt jetzt eigentlich der liebe Gott bei dem ganzen Schicksal?“ Da habe ich etwas ganz Grundsätzliches, was es mir möglich macht, ein Leben ohne Orgelspielenkönnen zu führen: Ich sage mir sage, in der Welt ist eine echte Kreativität. Solch ein Buch wie dieses zum Beispiel kommt ja nicht vom Himmel. Da werden schlaue Fragen überlegt, ich schreibe etwas auf, es wird verarbeitet und lektoriert … Das kennst du doch auch: Niemand kann alleine, was er kann. Es ist also eine ungeheure Kreativität in der Welt, und dann ist meine Grundüberzeugung, dass sich in dieser Kreativität Gottes Wille und Gottes Kraft zum Ausdruck bringen. Ich sage das ganz bewusst, und das soll sich jetzt gar nicht nur so triumphalistisch anhören. Ich bin ja auch Hospizhelfer, Sterbebegleiter, Seelsorger – auch in Situationen, in denen sich der Konflikt zuspitzt, der Tod anklopft, die Krankheit tatsächlich über das Leben eines Menschen herfällt, auch da bin ich in einer Haltung, die sagt: Hier fügt sich etwas zusammen, das soll so sein. Auch wenn man das im Augenblick nicht erkennt.

Es ist ja auch merkwürdig, dass Menschen, wenn sie auf ihr Leben zurückschauen, eine Haltung entwickeln können, versöhnt zu sein mit dem, was gewesen ist. Ich erinnere mich an den Besuch bei zwei 89-Jährigen. Die Frau sagte: „Ich habe den Turm der Stephanskirche in Mainz zusammenfallen sehen als Neunjährige. Ich habe das gesehen, und das verfolgt mich.“ Und dann nahm sie das mit durch ihr Leben, fand einen Mann, mit dem sie gemeinsam durchs Leben ging, und ich habe gespürt, dass sie, obwohl das Grauen dieser Erinnerung immer noch da war, sie es angenommen hatte als ein Grauen, das in ihrem Leben einfach prägend sein darf. Sie sagte: „Bei uns wird keine Kartoffelschale weggeworfen. Wenn wir einkaufen, dann koche ich hier mit meinem Mann alles zu Ende. Unser Bioeimer ist leer, weil ich aus diesen Nachkriegsjahren komme.“ Was für ein Schicksal, würde man da sagen, und doch sind diese Menschen, an die ich jetzt gerade denken muss, versöhnt mit dem, was in ihrem Leben gewesen ist, und haben daraus etwas gemacht.

Insofern würde ich auf die Frage nach diesem Schicksal und ob Gott es mir schickt, fast mit etwas Vorsicht sagen: Ja, wenn ich davon ausgehe, dass alles, was geschieht, sich so zusammenfügt, dass daraus wieder etwas Neues und Kreatives werden kann. Vielleicht schaust du mal selber in dein Leben hinein und denkst an die Zeiten, von denen du sagst: „Das war echt ein schweres Schicksal!“ Die Mutter zu früh verstorben, ein Geschwisterteil durch einen Unfall getötet, Leukämie gekriegt … Ich kann eine ganze Litanei runterbeten, und ich weiß nicht, was du für ein Schicksal hinter dir hast, aber schau einmal genau hin, was sich dann zusammenfügte und Neues werden konnte. Vielleicht ist es dann sogar auch möglich, zu sagen: Es wurde mir nicht nur blind geschickt, sondern es wurde mir geschickt, weil daraus etwas Wunderbares werden kann.

Ich habe gerade dieses Elternpaar vor Augen, das ein eingeschränktes, ein geistig behindertes Kind hat. Ja, was für ein Schicksalsschlag, sagen dann einige. Für diese Eltern war das immer ganz schrecklich, dass alle Leute sie anguckten und sagten: „Was für ein schreckliches Schicksal!“ Sie spürten, was für eine Entwertung ihrem Kind gegenüber dahintersteckt. Und dabei konnten sie mir sagen: „Durch unser Kind erst sind wir das geworden, was wir sind, und wir würden es nie mehr missen wollen!“ Ich verneige mich vor Menschen, die eine solche Haltung an den Tag legen, und versuche, auf meine Weise so auch meinem Schicksal, dem, was alles noch kommen wird, zu begegnen als eine Herausforderung, die mich zum guten, zum liebevolleren, zum vollkommeneren Menschen machen will.

Es ist uns alles geschickt, und wir haben uns nichts selber genommen.

Was wir uns selber genommen haben, konnten wir uns nehmen, weil uns vorher etwas geschickt worden ist.

Was kann ich als Einzelner tun, damit sich die Welt zum Besseren entwickelt?

„Sei du selbst die Veränderung, die du von der Welt erwartest“, so hat Mahatma Gandhi einmal gesagt, und das bleibt ein grundlegender Satz: dass ich eingeladen bin, in meinem Bereich und in dem, wofür ich Verantwortung trage, meine Entscheidungen zu treffen. Ich bin ja kein Staatspräsident und auch kein Politiker, dann kann man sich schnell die Frage stellen: „Ja, was nützt es denn? Wieso soll ich jetzt Plastik trennen und Biomüll trennen, wenn das sowieso alles wieder in eine Tonne kommt?“ So höre ich dann. Oder: „Warum soll ich jetzt eigentlich gerecht sein, wenn alle ungerecht sind? Warum soll ich jetzt etwas aushalten, wenn alle anderen es nicht aushalten?“ Diese Frage beschäftigt jeden Menschen, der einigermaßen ethisch verantwortlich handeln will. Wir brauchen die anderen, die uns ermutigen, besser zu leben.

Aber was ist eigentlich dieses bessere Leben? Was ist dieses gute Leben? Zusammengefasst besteht es darin, dass ich versuche und mich entscheide, nicht mehr auf dem Standpunkt der Selbstsucht zu stehen. Das ist eine Entscheidung. Das hat mit Gefühlen gar nix zu tun, denn wenn man diese Entscheidung gefällt hat, dann wird man auf jeden Fall plötzlich anfangen, neu nachzudenken: Ist das, was ich gerade tue, eigentlich wirklich dienlich – dem Nächsten, der Schöpfung, meiner Zukunft, den Kindern? Und ich werde mich immer weniger fragen: Was habe ich davon?

Viele Menschen sagen ja: Die ganze Welt ist voller Egoisten, warum soll ich da kein Egoist sein? Und doch ist es ein lohnenswertes Unterfangen, dass ich mich auf den Standpunkt stelle, nicht selbstsüchtig sein zu wollen, dass ich diesen Standpunkt der Selbstsucht verlassen will, weil ich nur so dazu beitragen kann, dass das Netzwerk des Dialoges wächst und nicht ständig zerschnitten wird von dieser schrecklichen Selbstsucht, die Menschen einholen kann.

Wenn ich selber anfange, wie ein Heiliger zu leben in einer unheiligen Welt, beinhaltet das ja auch eine gewisse Arroganz, weil ich damit sage: „Ich bin der Heilige, die anderen sind unheilig.“ Dann wäre doch vielleicht der erste Schritt, um aus dieser Arroganz rauszukommen, dass ich mich mit anderen verbünde. Denn auch wenn du selber denkst, du seist der Einzige, der die Welt verbessern will, dann stimmt das ja eigentlich gar nicht. Es gibt vorbildliche Leute, die, egal, was passiert, einfach entschieden ihren Lebensstil leben. Da gibt es viele Menschen, und Gott sei Dank gibt es durchaus auch Möglichkeiten, im Internet Gruppierungen zu finden, Menschen zu finden. Die Website www.nebenan.de zum Beispiel ist so ein Netzwerk, das ich sehr schätze, wo man sich richtig mit Klarnamen registrieren muss, mit Personalausweisdaten und allem. Da kann ich dann auch mal sagen: „Hallo Nachbarn, ich würde gerne etwas mehr tun, dass bei uns nicht ständig so viel Dreck in der Nachbarschaft rumfliegt. Wer von euch ist noch daran interessiert?“ Solche allgemeinen Fragen sind möglich bis hin zu der Frage: „Ich würde gerne mal darüber nachdenken, ob wir eine Fahrgemeinschaft bilden können, wenn wir einkaufen fahren, denn ich überlege, mein Auto abzuschaffen, und frage mich: Können wir mit fünf Leuten gemeinsam ein Auto haben? Wer hat Lust, mit mir darüber zu reden?“

Das Gute, das sich vernetzen will – und das Gute will sich vernetzen –, aussprechen und diesem Guten auch dienen wollen, darum geht es. Man wird dann auf jeden Fall Freundinnen und Freunde finden für die gemeinsame Sache. Das hat nur einen ganz kleinen Haken: dass man die Leute persönlich vielleicht nicht immer so toll findet. Ich komme aus einem Orden, in dem auch Brüder sind, die sich alle etwas vorgenommen haben. Menschlich ist das immer neu eine Herausforderung. Für die gemeinsame Sache will man kämpfen, aber dann ist der eine eben so und der andere so … Ich muss die Unterschiedlichkeiten der Menschen einfach anschauen. Und auch sagen: Wir dürfen unterschiedlich sein, wenn wir diese gemeinsame Sache verwirklichen. Es braucht für diese Motivation zum Guten also das Miteinander mit anderen, die ähnlich sind, und es ist wichtig, dass ich das nicht abwerte. (Ich bin der Einzige, der etwas verändern will – der bin ich ja gar nicht! Ich gehöre zu den anderen, eine große Portion Demut ist schon vonnöten.)

Das Gute zu tun, demütig zu tun – Mahatma Gandhi habe ich am Anfang genannt, der ja sehr viel Kraft aufgrund seiner Demut entfaltet hat, weil er bei seinem Stiefel geblieben ist. Der hat einfach das gemacht, was er wollte. Die anderen Heiligen, die wir aus der Geschichte kennen – eben auch Franziskus von Assisi – haben das einfach gelebt, wozu sie sich entschieden haben, und haben dann Gefährten gefunden. Letztlich gründen sich Vereine, Parteien, Organisationen ja von Leuchtturmmenschen, die gesagt haben: Diese Idee ist gut, die möchte ich verwirklichen – und dann hatten sie plötzlich Menschen an ihrer Seite, die sie nicht im Regen stehen lassen haben. Dann sind sie gar nicht mehr so allein. Die Vergemeinschaftung des Guten zu betreiben scheint mir eine große Hilfe zu sein, wenn man in diesem Gefühl versinkt: „Ja, bin ich denn eigentlich nur noch der einzige Prophet in diesem Land?“ Nein, ist man bestimmt nicht. So toll bist du auch nicht, darf ich dir das mal so deutlich sagen? Es gibt noch andere tolle Leute.

Und das Zweite ist: Wie bleibe ich auf Kurs mit meiner Entscheidung für ein gutes Leben und dafür, die Welt zu verbessern? Da sagt jetzt der fromme Kapuziner und Priester: Das wird wohl nur durch Gebet gehen. Wenn du beim Gebet noch nicht angekommen bist, dann sind es letztlich Zonen des Schweigens und Zonen des Denkens, in denen du selber deinen eigenen Quellen nachgehst und dich daran freust, dass du so weltbezogen bist, dass du der Welt Gutes willst. Und wenn es denn auch alleine ist.

Die Einsamkeit gehört mit zu dem Guten. Es gibt keine Heiligen, die nicht einsam gewesen wären, und darum ist deine Entscheidung am Ende auch eine einsame Entscheidung, die Welt verbessern zu wollen, und du darfst dich nicht davon abhängig machen, ob du Gefährten findest. Ich bin sicher, du findest welche, das habe ich schon gesagt, aber mach dich nicht davon abhängig nach dem Motto: „Erst wenn zwanzig Leute das mit mir machen, dann mache ich das auch“ oder: „Erst wenn das genügend Resonanz hat und ein Buch darüber geschrieben wird und ich auch noch ins Fernsehen komme, dann will ich das weitermachen.“ Das wäre ja schon wieder sehr, sehr selbstsüchtig. Darum brauchst du diese Seelenpflegemomente der Stille, der Ästhetik, der Kultur, in denen deine Seele befeuert wird aus der Beziehung heraus, die sie zu der Welt hat (das habe ich auch schon bei der Frage nach der Seelenverwandtschaft angesprochen), um das Gute und Richtige wählen zu wollen. Diese persönlichen Momente der Einkehr und der Meditation braucht jeder, der sich zu großen Taten der Veränderung aufmachen will.

Und ein Drittes vielleicht noch: Mach dir einen Plan. Und wenn du dir einen Plan machst für das eine, was du tun willst, dann musst du auch anderes lassen. Für mich ist oft das Schwierigste, die vielen guten Ideen, die ich habe, zu verabschieden, damit die eine Idee was wird. Dabei haben wir vielleicht alle so ein Gottes-Gen in uns: Ja, was wir alles machen könnten/wollten/sollten, ein konjunktivisches Träumen davon, was wir alles verbessern wollen, und dann haben wir davon geträumt und am Ende nichts gemacht. Wenn du alleine die Welt verbessern willst, brauchst du also auch einen Plan, was du anfangen willst, damit du nicht bei dir selber versinkst.

Frère Roger Schutz hat mal gesagt: „Lebe den Satz des Evangeliums, den du verstanden hast, das ist genug!“ Manche sagen ja, das ganze Evangelium und alles Gute zu tun – das kann ja auch wirklich keiner! Also mach doch das, was du verstanden hast. Und ich sage dir deutlich: Mach bitte nur das eine. Zum Beispiel: Du sagst dir: Ich möchte gerne etwas Gutes tun. Du hast entdeckt, dass in deinem Haus im siebten Stock ein älterer Herr ganz alleine lebt. Er trägt sein Essen durch die Gegend und geht einkaufen. Du machst dir zum Programm, die nächsten drei Monate den Mann anzusprechen, zum Beispiel bei der Kehrwoche, wenn du bei seiner Haustür bist, mal zu klingeln und zu fragen, wie es ihm geht. Vielleicht kommt ihr dann in einen näheren Kontakt, und dann ist es deine gute Weltverbesserungstat, wenn du zweimal im Monat mit ihm Schach spielst, ihm zuhörst, ihn am Abend anrufst und Gute Nacht sagst. So lebst du eine Aufmerksamkeit bei diesem einen Menschen.

Wenn jeder Mensch eine gute Tat, die er sich vornimmt, kontinuierlich tut, dann ist die ganze Welt verbessert. Und wenn die anderen es nicht tun, aber du tust es, dann hast du einen Funken Hoffnung gesät, der in sich gut ist und der nicht dadurch besser wird, weil er tausend andere Nachfolger hat. Nimm dich ruhig mal wichtig, gerade auch im Gutes-Tun. Die Welt wartet darauf, dass du endlich anfängst.

Was ist dieses gute Leben? Es besteht darin, dass ich versuche und mich entscheide, nicht mehr auf dem Standpunkt der Selbstsucht zu stehen.

Hat das Leben mehr zu bieten? Warum habe ich immer das Gefühl, dass mir etwas fehlt?

Wer liebt, der kann nie sagen: „Es ist genug.“ Zur Liebe gehört die Unersättlichkeit, gehört dieser Überschuss Hoffnung. Zur Liebe gehört, dass sie immer schon weiterdenkt. Und darum gehört es mit zum Leben, dass in meinem Leben immer eine Ahnung ist, es könnte noch mehr sein, besser sein und größer sein. Für mich als gläubiger Mensch setzt hier der tiefe Sinn meines Glaubens an, weil mein Glaube an Gott meine Ungeduld zähmt. Denn Gott ist die Fülle, nicht mein Kloster. Gott ist die Fülle, nicht meine Brüder hier. Gott ist die Fülle, nicht die Kirche ist die Fülle, nicht die Welt, nicht Deutschland … Kein Mensch muss mir Gott ersetzen. „Ich verzeihe dir, dass du mir mein Gott nicht sein kannst“, sage ich zum Leben. „Ich verzeihe dir, dass du mir mein Gott nicht sein kannst“, sage ich zu einem Menschen, den ich liebe. Und dadurch wird es eine realistische Beziehung. Diese gegenseitige Überforderung macht viele Menschen kaputt. Viele Ehen kranken daran, dass die Partner einander überfordern und sich vergötzen, dass Kinder von Eltern vergötzt werden, dass Jugendliche das Leben vergötzen und dass viel zu viel erwartet wird. Und dann kommt eine riesen Enttäuschung: Es ist ja doch alles sehr alltäglich, wenn man dann mal zusammengezogen ist. Es ist ja doch sehr alltäglich, wenn man dann endlich seinen Traumberuf erreicht hat. Es ist alles sehr alltäglich, wenn man dann endlich das Hobby auslebt, von dem man immer geträumt hat. Ja, da ist eben auch sehr viel Alltag dabei, und der könnte doch noch besser, schöner, anders sein. Ja, es könnte alles noch ein bisschen besser sein.

Diese Ahnung, dass alles noch ein bisschen besser sein könnte, wird dadurch gezähmt, dass man das Ganze auf Gott wirft und sagt: „Du, ich mach schon mal das Meine, ich mach das schon mal so, wie ich kann. Das könnte noch ein bisschen besser sein, aber ich lege es zunächst mal in deine Hand, so gut ich kann.“ Mir hat mal ein Arzt gesagt, früher seien die Menschen zu ihm gekommen und hätten gesagt: „Können Sie meinen Schmerz ein bisschen lindern?“ Heute kommen die Leute und sagen: „Sie müssen mich gesund machen!“ Dieser Erwartung, dass ich dieses Mehr immer sofort kriegen muss, gehört zu einer konsumistischen Welt, zu einer Welt, in der sozusagen Fülle konsumiert und gekauft werden kann, wo einem vorgegaukelt wird, in den super Film zu gehen, den super Urlaub zu machen, die super Wohnung zu kriegen. Und dann ist man in dieser Wohnung und merkt: „Die könnte aber doch da noch ein bisschen anders und hier noch ein bisschen anders sein.“ Auf diese super Erwartung folgt eine ständige Art von Unzufriedenheit, dass man immer noch nicht die Fülle erreicht hat. Jetzt hat man die super Tapete an die Wand geklebt, jetzt hat sie doch nicht die ganz richtige Farbe – was ein Mist aber auch!

Es gehört zum Erwachsenwerden und zum Reifwerden, dass ich in der Lage bin, diese Sehnsucht nach dem Mehr, nach dem Vollkommenen, nach dem ganz Guten und dem ganz Schönen dadurch zähme, dass ich diese Erwartung an Gott richte: Du bist der Vollkommene. Du bist die Schönheit. Der gläubige Mensch ist der bescheidene Mensch. Er sagt: „Wenn Gott die Fülle ist, dann bin ich auch mit dem Wenigen zufrieden, was ich habe. Wenn Gott die Fülle der Liebe ist, dann muss meine Liebe zu dir nicht so super-hyper-vollkommen sein. Dann kann ich das Meinige tun, und ich muss nicht ständig denken: Ich mach’s noch nicht richtig und noch nicht richtig genug. Und auch du musst mir gegenüber nicht so vollkommen sein.“

Ich bin davon überzeugt, dass wir diese Unzufriedenheit darüber, dass alles noch ein bisschen mehr, größer und schöner sein könnte, dann besiegen, wenn wir Frieden in einer erwachsenen und kreativen Beziehung zu Gott finden. Wenn ich weiß, dass er mir zuströmt, wenn ich es zulasse, dass er aus seiner Fülle mir mitteilt und ich wie eine Art Satellitenschüssel von ihm empfange, um davon dann ein bisschen weiterzugeben – das gibt mir zumindest eine sehr große Gelassenheit, mit den Dingen umzugehen, die immer ein bisschen unvollkommen sind und die noch nicht so sind, wie ich sie gerne hätte.

Wir können diese Unzufriedenheit darüber, dass alles noch ein bisschen mehr, größer und schöner sein könnte, dann besiegen, wenn wir Frieden in einer erwachsenen und kreativen Beziehung zu Gott finden.

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