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Ich sagte eben ‚unweit daneben‘, und für mich sah es tatsächlich so aus, als seien die explodierenden und explodierten Sterne, all die Gasplaneten mit ihren Regenbogen-Ringen, all die Monde und Galaxien dort oben wie Nachbarn, die miteinander sprachen, sich halfen und sich nie im Stich ließen, während sie doch eigentlich Millionen Lichtjahre voneinander entfernt waren. Aber vielleicht spielte das überhaupt keine Rolle …

XV

Lange musste ich so dagelegen haben – auf den schwarzen Granitsteinen vor dem hässlichen Brunnen in der Innenstadt. Hatte ich irgendwann meine Augen geschlossen? Jedes Mal, wenn ich mich meines Tricks bediente, stellte ich mir diese Frage und nie vermochte ich, sie zu beantworten … Schwindel und Kopfschmerz aber waren verschwunden und ich spürte, wie mein Körper von frischer, neuer Energie durchflutet wurde.

Inzwischen war es Nachmittag und die Gesichter, die an mir vorbeiglitten, waren noch zahlreicher und vielfältiger als zuvor. Sogar die ein oder andere Geschichte schien sich in bestimmten Physiognomien zu verfestigen und ich freute mich darauf, weiter zu beobachten.

Dann jedoch entdeckte ich den Becher. Ein wahllos abgestellter Pappbecher war in einer Stadt nichts Ungewöhnliches, doch nicht auf jedem stand in dicker, schwarzer Eddingschrift eine Telefonnummer. Vorsichtig, als handle es sich um eine wertvolle, zerbrechliche Antiquität, hob ich ihn hoch und entfernte den Deckel. Wasser mit Orangensaft.

XVI

Mit unsteten, die Pflastersteine vergessenden Schritten lief ich am frühen Abend zum Seeufer hinter der technischen Hochschule. Wir hatten halb sieben abgemacht. Mein Orientierungssinn aber war dermaßen miserabel, dass ich es mir längst zur Gewohnheit hatte machen müssen, viel zu früh zu Verabredungen aufzubrechen.

Zuvor hatte ich mir ein Mobiltelefon leihen müssen, um Rosa – so hieß das Mädchen aus dem Café Bellezza – anrufen zu können. Ja, der Becher sei von ihr, hatte sie gesagt und gelacht. Nach Feierabend sei sie an mir vorbeigelaufen, habe mich jedoch nicht wecken wollen und sei nochmals zum Café zurückgekehrt, um das Getränk zu besorgen. Ob ich denn heute Abend schon etwas vorhätte …

Ich hatte mich nicht in ihr getäuscht! Wusste ich es doch, dass sie nicht zu der Sorte gehörte, die sich naserümpfend von jemandem abwandte, der seelenruhig an einem Brunnen den Trick vollführte! Vielleicht hätte ich es ihr auch gleich sagen sollen, was ich auf den Granitssteinen getan hatte. Doch schließlich war es erst unser zweites Gespräch und ich war mir unsicher, wie viele Abnormalitäten sie ertragen konnte.

Am Seeufer war es nicht ansatzweise so bevölkert, wie in der Innenstadt. Nur ein paar kleine Grüppchen von Studenten genossen sorglos die Abendsonne und ich sah mich plötzlich einer ganzen Reihe von lieblichen Eindrücken ausgesetzt: Kerzenlichter zur mystischen Stimmungsmache, das Geräusch aneinander schlagender Flaschen, junge Frauen mit langen, glänzenden Haaren und Hornbrillen, die sich im Schneidersitz gegenüber saßen und sich nicht um irgendwelche Grasflecken scherten, schlanke, wuschelhaarige Männer, die mit nacktem Oberkörper und hinter dem Kopf gefalteten Händen auf dem Rasen lagen, Fahrräder, Tischgrillsets, brutzelnde Würste, Fußbälle, spanische Gitarren. Nichts Schlechtes, nichts Böses war hier und ich fühlte mich wieder wie im weinroten Nebelmeer und so gar nicht in einer Stadt unter Städtern.

Hätte ich den Studenten an diesem milden Abend erzählt, dass ihre wuschligen Köpfe und Kerzenlichter bald der Vergangenheit angehörten, sobald sie sich erst einmal als nützlich erweisen würden, so hätte mir mit Sicherheit keiner von ihnen geglaubt. Wer konnte es ihnen verübeln! – Ich glaubte es ja selbst kaum …

XVII

Zu meiner Überraschung sah ich Rosa am Ufer sitzen, ein halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit. Mit verzauberter Miene, die blutroten Lippen wieder leicht geöffnet, las sie in einem Buch und ließ ihre nackten Waden in den See baumeln.

„Was liest du denn da?“, fragte ich und sie blickte verwundert auf.

Die widerspenstige, brünette Strähne war sowohl ihrem Zopf als auch ihrem Ohr entkommen. Sie hing direkt über ihrem nachtblauen rechten Auge.

„Homers Odyssee …“, antwortete sie.

Ein besseres Buch könne man an diesem Tag kaum lesen, gab ich zurück und setzte mich neben sie. In ihrer WG sei es viel zu laut gewesen, weshalb sie sich bereits kurz nach Feierabend hierher aufgemacht habe, sagte sie, hob ihre nass schimmernden Beine aus dem Wasser und ich beobachtete, wie die Tropfen bis zu ihren Füßen hinunterglitten und zurück in den See fielen.

Rosa sagte, sie studiere Physik, Deutsch und Philosophie auf Lehramt und stehe kurz vor dem ersten Staatsexamen.

„Eine ungewöhnliche Fächerkombination“, erwiderte ich.

„Oh, wie oft ich das schon gehört habe“, lachte sie. „Macht den Anschein, als wüsste ich nicht, wohin mit mir, nicht wahr?“

„Nicht für mich! Macht eher den Anschein, als hättest du sehr viel verstanden.“

„Was denn verstanden?“

„Dass im Zusammenspiel von Geist und Natur die Wahrheit liegt; nicht nur in einem von beiden. Aber ich bin kein Wissenschaftler. Nur ein …“

‚Nutzloser‘ wollte ich sagen, doch aus irgendeinem Grund schämte ich mich, es auszusprechen.

Was bist du?“, fragte sie spielerisch, strahlte mich an und unsere Schultern berührten sich.

Ich erzählte ihr aus meinem Leben und war zuerst erstaunt, mit welch einer Faszination sie die – mir bedeutungslos anmutenden – Fakten meines Lebens aufzusaugen schien. Je länger jedoch die Sätze aus mir heraussprudelten, desto eher beschlich mich das Gefühl, dass es Rosa viel mehr darum ging, mich anzusehen und mich sprechen zu hören, als sich den Namen meiner Schwester oder die Höhe des Berges hinter unserem Alpen-Haus zu merken. Vielleicht hätte mich das stören sollen. Doch eigentlich war es völlig egal, was ich sagte. Solange sie mir zuhörte.

XVIII

Die Sonne verschwand hinter den monströsen Hochhäusern und wir beschlossen, einen Spaziergang am See zu machen. Als wir uns aus dem Wasser erhoben, trat Rosa auf einen spitzen Stein, stolperte und fiel auf die Knie. Kurz schrie sie auf und ich rechnete bereits mit Schlimmerem. Aber sowie ich sie stützend zurück auf den Rasen begleitete, musste ich sofort an die Kinder denken, die beim Herumtollen laut auf den Boden stürzen und im Anschluss eher aufgrund des Schrecks als wegen des Schmerzes anfangen zu weinen. Wie die Kinder war auch Rosa schon im nächsten Moment wieder bester Laune und ein angenehmes Kribbeln durchlief mich, als mir bewusst wurde, dass einer meiner Arme um ihre Hüften geschlungen war und ich ihre Hand hielt.

Als wir auf dem Rasen saßen und ich ihre leicht aufgeschürften Knie begutachtete, fühlte ich mich plötzlich wie fremd gesteuert und mir war, als könne ich mich selbst von außen beobachten. Ich sah ihr tief in die Augen und hörte mich Homer zitieren:

Und Odysseus umschlang mit den Händen der Königin Knie; Und mit einmal zerfloss um ihn das heilige Dunkel.

Die meisten Frauen, die ich kannte, hätten daraufhin nur gelacht und sich abgewandt. Rosa jedoch hielt meinem Blick stand und erwiderte:

… er glich dem waldigen Gipfel

Hoher Kettengebirge, der einsam vor allen emporsteigt.

Ich hielt meine Hand schützend auf ihre aufgeschürften Knie und küsste sie auf die blutroten Lippen.

XIX

„Weißt du, dass du mich eben mit einem grässlichen Ungeheuer, einem Riesen, verglichen hast?“, fragte ich.

Wir gingen Hand in Hand am See entlang und das Licht der Laternen spiegelte sich auf dem Wasser. Ein leichter Wind verwandelte den Widerschein in tausende, fröhlich tanzende Glühwürmchen. Beinahe wie die fliegenden Mücken meines Tricks.

„Ach komm!“, erwiderte sie lachend. „Dafür, dass ich die Geschichte noch nicht gut kenne, war das gar nicht schlecht.“

Ich blickte nach oben zu den funkelnden Sternen. War ich jemals glücklicher gewesen als heute? Der Himmel war plötzlich überall, selbst dort, wo sich eben noch die Wohnhäuser, Kirchen und Einkaufszentren der Stadt befunden hatten. Die wild verstreuten, grell strahlenden Fenster waren zu Sternen geworden. Die dunklen Mauern, Dächer und Schornsteine verschmolzen mit der Schwärze der Nacht. Gerade als ich überprüfen wollte, ob zumindest der Uferboden noch da war, wo er sein sollte, wurde die Stille von einem ohrenbetäubenden, tiefen Brüllen zerrissen. Erschrocken fuhr ich herum.

Es war nicht mehr Rosa, die neben mir ging, sondern ein Löwe – riesig, gewaltig, mit wackelndem Schwanz und weit geöffnetem Maul, so dass seine fingerlangen Eckzähne aufblitzten. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit, doch war die Nacht so hell, dass immer wieder kurz ein Hauch von Bernstein in ihnen zu erkennen war. Seltsamerweise verschwand meine Furcht sofort, als ich sah, von wem das Brüllen gekommen war. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, hörte ich mich erleichtert zu dem Löwen sagen. „Du hättest mich wenigstens vorwarnen können, dass du gleich brüllst.“

„Ich bin ein Löwe und muss niemanden vorwarnen, wenn ich brüllen will“, antwortete er und ich meinte, seine tiefe, angenehme Bariton-Stimme schon einmal irgendwo gehört zu haben.

„Vielleicht hättest du es aus Höflichkeit tun können“, gab ich zurück.

„Dann wäre aber der Überraschungseffekt verloren gegangen und auf den kommt es doch an! Ach, sei nicht wütend“, sagte er und streifte mich zärtlich mit seiner weichen Mähne. „Ich bin nun einmal ein Löwe.“

„Ja, das sagtest du schon.“

Ich senkte verwirrt den Blick und stellte zu meiner Überraschung fest, dass auch der Boden mit Sternen bedeckt war. Ich vermochte allerdings nicht zu erkennen, ob wir nun wirklich auf ihnen gingen oder sie – wie ihre Brüder und Schwestern am Himmel – Millionen Kilometer entfernt waren. Wenn aber Letzteres zutraf: Worauf gingen wir dann?

„Wo ist Rosa?“, platze es aus mir heraus. „Was hast du mit ihr gemacht? Und wo sind wir eigentlich? Worauf gehen wir und was ist mit der Stadt geschehen?“

„Nicht so viele Fragen auf einmal, junger Mann“, antwortete der Löwe, blieb stehen und gähnte ausgiebig. „Rosa ist nicht weg.“

„Naja, aber offensichtlich ist sie auch nicht hier …“

„Bist du da sicher?“

„Wenn ich jemanden nicht sehen kann und keine Versteckmöglichkeiten vorhanden sind, dann ist er wohl auch nicht da, oder?“

„Du bist ja ein ganz cleveres Bürschchen! Wenn du so weitermachst, bringst du es noch zum Schichtleiter beim Paketlieferdienst … Ich bin Rosa, du Schlaumeier!“

„Und wo ist die Stadt?“

Der Löwe brüllte laut und ich zuckte zusammen.

„Meinst du, ich habe Lust, nur eine Stadt zu sein? Der Nachthimmel gefällt mir viel besser.“

„So, so … In dem Fall bist du auch der durchsichtige Boden, auf dem wir gehen, wie?“, fragte ich und meine Stimme überschlug sich.

„Werd’ nicht unverschämt! So einen Einstein wie dich muss ich doch nicht daran erinnern, dass ich ein Löwe bin und dich im Handumdrehen verschlingen kann.

Und von welchem durchsichtigen Boden sprichst du? Wir sind in der Wüste …“

Ich blickte erneut nach unten und sah, wie meine Schuhe zur Hälfte in feinem Sand versunken waren. Allerdings schien auch dies – ebenso wie der sprechende Löwe – ganz in der Ordnung zu sein. Ich bückte mich und strich mit der Hand durch die warmen, klitzekleinen Körnchen, die sich nun in unzähligen Dünen bis zum Horizont erstreckten.

„Wie machst du das alles?“, fragte ich den Löwen.

„Ich mache hier überhaupt nichts …“, antwortete er vielsagend.

„Okay, gut“, erwiderte ich und meinte, endlich zu verstehen. „Kannst du auch wieder zu Rosa werden?“

„Aber klar“, antwortete Rosas Stimme und prompt war es erneut die Bedienung des Café Bellezza, die neben mir lief, meine Hand nahm und mir mit der losgelösten Strähne im Gesicht zulächelte. „Vielleicht werde ich gleich zu einer Vampirfledermaus, einer griechischen Landschildkröte, einer Schneeeule oder einem Wolf. Die magst du doch alle, oder?“

Ich brauchte ihr nicht zu antworten. Sie schien ohnehin alles über mich zu wissen. Während wir langsam durch den Sand schlenderten, zeichnete sich vor uns bald die Kontur einer Pyramide ab, deren Spitze hoch in den Himmel ragte.

„Gehen wir dorthin?“, fragte ich.

„Ja! Da liegt unser erstes Ziel. Wenn wir zeitig ankommen wollen, empfehle ich dir allerdings, mich nicht zu einer Schildkröte zu machen. Aber wir sollten uns auch so mal ein wenig ausruhen. Meine Ausdauer ist nicht viel besser als die des Löwen.“

Mit dem Hintern voraus ließ sie sich in den weichen Sand fallen und stöhnte genüsslich.

„Du bist doch den ganzen Tag auf den Beinen, wenn du eure Kunden bedienst“, erwiderte ich, als ich mich neben sie legte.

Ich hatte völlig vergessen, dass es nicht Rosa war, mit der ich sprach.

„Das mag sein“, antwortete sie. „Aber es gefällt dir doch ohnehin viel besser, neben mir im Sand zu liegen, nicht wahr? Von hier aus hat man auch die beste Aussicht auf die Pyramide während des Sonnenaufgangs.“

„Aber bis dahin sind es noch Stunden!“

„Was redest du denn da? Wir sind die ganze Nacht gelaufen! Außerdem gibt’s hier keine Zeit. Zumindest nicht so, wie sie dir bekannt ist. Jeden Augenblick müsste es hell werden.“

Ich blickte nach der Pyramide und tatsächlich tauchte hinter ihr das erste Licht des Tages auf. Erst jetzt erkannte ich, dass der Gigant gar nicht aus Stein war, sondern durchsichtig, und nun, in der Morgensonne, zu einem gigantischen Prisma wurde. Rosa, vom Strahl beschienen, sah mit einem Mal aus, als sei sie mit Honig bestrichen worden. Tranceartig bewegte sie ihren Oberkörper hin und her und beobachtete kichernd meine fassungslose Miene, als ihr hübsches Gesicht allmählich von der goldgelben Färbung in eine orange überging.

Die Pyramide jedoch war nicht mehr das einzige Gebilde, das in unserer Wüste erschien. Neben ihr entstanden plötzlich Würfel, Quader, Kegel und Zylinder, die das Licht auf ihre völlig eigene Weise brachen. Die seidig weißen Strahlen des Quaders ließen die Sanddünen glitzern, während das, was aus dem Kegel kam, ein solch tiefes Schwarz war, dass die Umrisse der Wüste darin verschwanden und sich in gespenstische Finsternis verwandelten.

„Wen das Schwarze trifft, der hat verloren“, rief Rosa und sprang wie ein kleines Mädchen über mich hinweg.

Zu spät sah ich das über den Sand kriechende Dunkel und konnte mich nur noch durch mehrmaliges Rollen retten, bis ich schließlich so viel Abstand zu den Strahlen des Kegels gewonnen hatte, dass ich es mir erlauben konnte, mich aufzurichten. Rosa stand ein paar Meter abseits und lachte. Sowie ich auf den Beinen war, rannte sie auf mich zu, um mich erneut umzuwerfen. Doch dieses Mal war ich vorbereitet. Ich packte sie und der Schwung riss uns gemeinsam von den Füßen. Spielerisch versuchte sie, sich frei zu strampeln, aber ich war stärker. „Hoffentlich wird sie nicht gleich wieder zu einem Löwen“, dachte ich, als wir uns im Sand hin und her wälzten.

Unsere Nasenspitzen berührten sich und sie sagte:

„Gleich hat uns das Schwarze und wir haben verloren.“

Die Strahlen des Kegels hatte ich schon längst vergessen, aber wahrscheinlich konnten sie mir ohnehin nichts anhaben, wenn Rosa da war. Ich beobachtete, wie sich die Schwärze ihrem Kopf näherte. Was würde dann passieren? Bestimmt sähen wir überhaupt nichts mehr und wären eingehüllt in Dunkelheit.

Doch das Gegenteil geschah: Alles um uns war plötzlich in gleißendes Licht getaucht, Sand und Himmel nur noch weiß und Rosas Haut so glänzend, als sei sie mit mehreren Spuren Klarlack übermalt worden. Als ich in ihre Augen sah, schreckte ich auf. Tiefschwarz, undefiniert und ausdruckslos, schienen sie auf mich gerichtet, während sich ihre Miene zu einer grausamen Grimasse verzerrte. Sie sah wohl dasselbe bei mir und ich verstand nun, warum sie den Strahlen des Kegels entkommen wollte …

Doch der Spuk dauerte nur ein paar Sekunden und wir kehrten erleichtert in die bunte Wüste zurück.

„Mach das nicht wieder“, flüsterte sie völlig außer Atem. Sie lag noch immer in meinen Armen und klammerte sich an mich.

„Niemals“, antwortete ich, schloss die Augen und beugte mich nach vorne, um sie zu küssen.

Aber anstatt ihren Lippen fühlte ich eine nasse Schnauze und zuckte zurück.

Rosa war zu einem Wolf geworden, der nun jaulend und fiepend um mich herumtollte.

„Der Herr war wieder einmal zu gierig“, sagte der Wolf mit derselben Bariton-Stimme, derer sich auch schon der Löwe bedient hatte. „Wenn ich lachen könnte, würde ich den ganzen Tag nicht mehr damit aufhören. Nee, nee … Erst jemanden in den Strahl des Kegels jagen und ihn dann auch noch küssen wollen. Du bist mir einer … Zur Pyramide zu gehen, können wir nun natürlich vergessen.“

„Wieso?“, fragte ich wehmütig.

Rosa war verschwunden. Ein paar Mal versuchte ich, den Wolf wieder zu ihr zu machen, doch es gelang mir nicht.

„Wenn du im Strahl des Kegels warst, kommst du niemals zur Pyramide, egal, wie lange du gehst. Sie bleibt fern am Horizont, wandert vor dir davon, flieht und bringt sich in Sicherheit. Du würdest alles kaputt machen, wenn du sie jetzt betrittst. Das kann sie natürlich nicht zulassen. Und hör endlich auf, mich verwandeln zu wollen. Auch damit hat es sich für heute erledigt! Wenn du willst, kannst du mich ja nochmal küssen“, rief der Wolf und fing wieder an zu jaulen.

„Und warum hast du dieselbe Stimme wie der Löwe?“

„Wäre es dir lieber, ich spräche mit Rosas Stimme?“, fragte er, streckte sich zum Himmel und heulte in den Wüstenmorgen hinein.

VERSUCH ÜBER DAS GESTELL

I

Ich erwachte auf den Granitsteinen am hässlichen Brunnen in der Innenstadt. Noch nie war ich während meines Tricks anderen Lebewesen begegnet oder hatte mit ihnen gesprochen. Etwas Neues, Seltsames ging hier vor sich … Ich sah, wie die Sonne sich den Häusern entgegen neigte und fragte mich, wie lange ich dieses Mal weg gewesen war. Aber angesichts meiner Erlebnisse mit dem Paketlieferdienst und dem Mädchen war ein solch ausgiebiger und optimierter Trick dieses Mal wohl wirklich vonnöten gewesen und ich war unendlich dankbar, dass sich niemand dazu verpflichtet gefühlt hatte, mich zu unterbrechen. Es konnte schließlich ohnehin keiner verstehen, was ich da tat. Vielleicht waren sie alle zu nützlich, um es zu begreifen.

II

Als ich aufbrach, um zum Wohnblock meines Freundes zurückzukehren, war es bereits Nacht und aus den fernen Galaxien glühten mir die Sterne entgegen – meine Freunde der Dunkelheit, die mir so manchen Trick erleichtert hatten.

Früher hatte man sie die unsterblichen Götter am endlosen Himmelszelt genannt.

Heute dagegen meint man zu wissen, dass es sich so nicht verhalten könne und die wunderbaren Schauspiele und Lichtknöpfe über uns – genau wie wir Menschen – der steten Wandlung, dem Fluss der Dinge vom Entstehen und Vergehen unterworfen seien.

So dürfen wir nun nicht mehr beten, finden keinen wahren Trost mehr, keinen Halt, niemanden, zu dem wir sprechen können, wenn wir zu niemandem mehr sprechen können … Sie sagen, wir seien sternenlose Kinder. Das jedoch sei viel atemberaubender und faszinierender, als unsterbliche Götter über die Erde wachen zu wissen. Mir aber leuchtete es nie ein, wieso ich den Berechnungen von Maschinen Glauben schenken sollte. Niemals wären sie imstande, etwas von dem Göttlichen zu erfassen, das unsere Seele am Himmel zu sehen vermag. Mit unseren eigenen Augen erkennen wir sie – die Gefährten, die dort oben wohnen und die uns selbst in dunkelsten Stunden zur Seite stehen.

Und alle Gefährten waren bei mir, als ich den unbeheizten Keller im Wohnblock meines Freundes betrat und schlotternd nach seinem Abstellraum eilte. Nur durch ein paar Holzlatten waren die Abteile der Mieter voneinander getrennt und jeder, der an meinem kargen Obdach vorbeilief, könnte einen Blick auf mich werfen. Eigentlich hatte ich mich in Kellern mit ihrem erdigen Geruch und dem Schutz vor den Elementen – dem Schutz vor den Menschen – immer sehr wohl gefühlt. Eingegraben, behütet, versorgt. Doch selbst auf mich wirkten die mit Spinnweben und Staub überzogenen Rohre unter der gerade einmal mannshohen Decke nicht besonders einladend. Zwischen alten Holzstühlen, einem senkrecht an der Wand lehnenden Billardtisch mit nur zwei Beinen und Kartons voller Spielzeug, für das die Kinder meines Freundes längst zu alt waren, hatte ich mein Lager aufgeschlagen. Zwischen lauter Gegenständen also, die nicht mehr gebraucht wurden, die wegzuwerfen man jedoch nicht übers Herz brachte. War ich nicht eng verwandt mit ihnen? Aber warum mich mit dergleichen belasten, wenn ich die Sterne in mir trage, dachte ich, als ich mich in meinen Schlafsack kuschelte.

III

Den Keller hatte ich mir selbst als Wohnwort auserkoren. Man hatte mir zwar das Gästezimmer angeboten, doch in der Miene der Gattin meines Freundes konnte ich deutlich erkennen, dass sie keineswegs erfreut über meine Anwesenheit war. Höchstens ein paar Tage würde sie gute Miene zum bösen Spiel machen, um mir dann in leisem, vertrauensvollem Ton mitzuteilen, dass es wohl besser wäre, wenn ich wieder ginge – einhergehend mit „gut gemeinten“ Ratschlägen wie „etwas Festes suchen“, „was Gescheites machen“, „ein eigenes Leben aufbauen“ und so weiter, und so fort … Zur Genüge schon waren mir solch unverständliche Vokabeln an den Kopf geworfen worden und inzwischen verstand ich mich recht gut darauf, ihnen aus dem Weg zu gehen. Gerne würde ich im Keller schlafen, hatte ich zu ihnen gesagt. Dann fiele ich keinem zur Last und müsste lediglich einmal am Tag die Wohnung aufsuchen, um mich zu waschen. Als ich das große, ungewöhnlich nah über dem Boden angebrachte Waschbecken im Keller entdeckte, konnte ich mir sogar das ersparen. Und darüber hinaus der Gattin des Freundes meinen Anblick. Meine An-Wesenheit.

IV

Er habe Arbeit für mich, sagte mein Freund mit stolzer Miene. Jürgen – so hieß der gute, tüchtige Mann – arbeitete für ein Software-Unternehmen als Sachbearbeiter in der Buchhaltung. Er stammte aus demselben Alpen-Dorf wie ich. Jedes Jahr beschäftigte seine Firma während den Sommermonaten einen Praktikanten. Meist einen Schüler der Oberstufe, der die spärlich besetzte Abteilung unterstützen sollte. Eigentlich sei für dieses Jahr bereits alles unter Dach und Fach gewesen, doch nun hatte der junge Mann, der dafür ausgesucht worden war, kurzfristig abgesagt.

„Wir brauchen dringend jemand Neuen …“, sagte Jürgen mit hochgezogenen Augenbrauen.

Wie immer standen ihm die viel zu langen Ärmel seines kurzen Hemdes wie Flügel von den Schultern ab, während zugleich sein Medizinball-großer Bauch die kleinen Knöpfe zu sprengen drohte. Wir würden sogar im selben Büro arbeiten, sagte er. Ich brachte es nicht fertig, ihm eine Abfuhr zu erteilen, wenn solch eine Arbeit auch so ziemlich das Letzte war, was ich zu tun wünschte.

Zu meinem Widerwillen gesellte sich jedoch noch etwas anderes. Etwas, was mich vielleicht noch mehr als die Flügelärmel von Jürgen dazu trieb, die Stelle in der Buchhaltung anzutreten: die Aussicht auf Stubenwärme, Sicherheit, Geborgenheit … Und prompt ging mir Einstein durch den Kopf. War es nicht seine Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und dabei stets andere Ergebnisse zu erwarten?

V

Entgegen meinen düsteren Vorahnungen funktionierte es die ersten zwei Wochen ganz ordentlich, ein Jürgen-Dasein zu führen. Ich war – man höre und staune – tatsächlich dazu imstande, einen vollen Arbeitstag durchzustehen und am Ende desselben mit einer zufriedenen, nun-habe-ich-meine-Pflicht-getan-Miene an die Stempeluhr zu treten. Anbei gesprochen war man auch hier zweifellos ein Gestell, aber zumindest nicht auf so offensichtlich barbarische Art und Weise, wie beim Paketlieferdienst.

Es lief so gut in der Firma, dass man mir sogar einen Posten als Schwangerschaftsvertretung in Aussicht stellte. Nur flüchtig ließ der Chef der Buchhaltung, Herr Pumpernickel, das Angebot in seinen nie endenden Wortschwall einfließen. Doch seine Absicht war unverkennbar.

„Kannst nie viel darauf geben, was der sagt“, spottete Jürgen, derweil er in einem dicken Ordner nach einer Rechnung suchte. „Der alte Dinosaurier hat ja überhaupt keinen Schimmer mehr, was in der Welt los ist. Statt ihm sollte man seine Sekretärin zur Chefin ernennen.“

Ich gab ihm keine Antwort. Was hätte auch ich schon Sinnvolles darauf erwidern können? Trotzdem: Herr Pumpernickel – ein Rechner und Denker reinsten Wassers, der sich viel lieber den Rätseln der Mathematik als den Bilanzen einer Firma gewidmet hätte – sah in seinem übertrieben edlen Anzug mit Weste und Taschenuhr wirklich einem Dinosaurier ähnlich, einem Relikt aus vergangenen Tagen, als Chefs noch rein repräsentative Posten aufgrund ihres Wissens und ihrer Bildung innehatten. Dinosaurier trugen die Verantwortung und hatten ab und an eine Entscheidung zu treffen. Das Tagesgeschäft jedoch durfte mit gutem Gewissen den Sekretärinnen übertragen werden. Schwerlich hätte ich mir Pumpernickel dabei vorstellen können, wie er die Post abarbeitete, jeden Telefonanruf entgegennahm, Kaffee kochte, Dokumente kopierte oder sich mit den gehetzten Rotköpfen des Vertriebs auseinandersetzte. Vielleicht lag ich falsch. Vielleicht romantisierte ich ihn … Mein Urteilsvermögen in Bezug auf derlei Dinge wurde ja schließlich von dem Jürgens weit in den Schatten gestellt. Aber dennoch kam ich nicht umhin, mit dem Mann mitzufühlen. Ungeachtet seiner herausragenden Position schien er ebenso betrübt darüber, nicht besonders viel von dem zu begreifen, was um ihn herum vor sich ging.

VI

War Pumpernickel so nutzlos wie ich?

Gut möglich, dass er mir nur deswegen Hoffnungen auf eine feste, oder sagen wir besser: eine festere Anstellung machte. Er sah mich nicht nur – er erkannte mich! Ein Genie musste man allerdings nicht sein, um zu erahnen, dass es so weit niemals kommen sollte. Schließlich war Verlass auf mich, was meine Nutzlosigkeit betraf!

VII

Es geschah urplötzlich. Ohne Vorwarnung. Ich hielt die Geräusche nicht mehr aus … Die Geräusche, denen sich ein Pumpernickel in seinem Einzelbüro nicht ausgesetzt sah. Mehr noch als die Eintönigkeit der Arbeit waren es die in stetem, täglichem, stündlichem Rhythmus wiederkehrenden Laute, die mir wie Nadeln in die Seele stachen, angeführt vom omnipräsenten, grausamen Radio. Bereits in meiner dritten Woche begann ich, wie ein Suchtkranker nach Stille zu suchen. Auf verlassenen Gängen, in der penibel aufgeräumten Küche oder – und dies blieb mir stets der liebste Ort – auf der heruntergekommenen Toilette im Keller. Sie wurde von den Putzfrauen so stiefmütterlich behandelt, dass man selbst für frisches Papier sorgen musste. Sie war vergessen worden, zum Wegwerfen freigegeben – gleich den Spielzeugkisten in Jürgens Keller.

VIII

Da war die Kundenbetreuerin, die jeden Morgen um kurz nach zehn mit neuen Rechnungen in unser Büro kam. Die zackige, geschäftige Art, mit der sie die Tür öffnete … das quietschende, knarzende Geräusch, das dabei entstand … wie ihre langen, schwarzen Haare dabei hin und her wehten … wie sie danach mit wichtig wirkenden, auf Kollegen wie mich keine Rücksicht nehmenden Schritten auf Jürgens Schreibtisch zuging … wie das Poltern ihrer Schuhe laut durch das Büro hallte … Alles machte auf mich den Eindruck eines einstudierten Schauspiels, das die Akteure allerdings bereits seit so langer Zeit aufführten, dass sich keiner mehr an eine Welt vor dem Theater erinnern konnte.

„Morgen“, sagte die Kundenbetreuerin mit einem Stöhnen, das uns zu verstehen gab, dass sie eigentlich weder Lust, noch Zeit hatte, „Morgen“ zu sagen und wir ihren Gruß als ein Zeichen unendlicher Güte zu betrachten hatten. Jürgen ging darauf ein.

„Morgen“, antwortete er laut, zuvorkommend, sich ihr unterwerfend, als wolle er sagen: „Ach, lade deine miese Laune ruhig bei mir ab. Schütte das Gift nur über mich!“

Und die Kundenbetreuerin brauchte Jürgens „Morgen“. Brauchte es, wie ich die Stille brauchte. Es mochte der Terror ihrer Geräusche sein, der mein Verständnis überschattete. Jedenfalls wunderte ich mich, ja schämte mich sogar ein wenig für Jürgen, dass er ihr das „Morgen“ so bereitwillig und sklavisch gab.

Die Morgengrüße der Mitarbeiter klangen jeden Tag gleich und ich glaubte, sie mochten alle diese Gleichheit. Ein „Moin“ mit nordisch ironischem, unangreifbarem Unterton des blonden, bebrillten Informatikers. Ein kumpelhaftes „Servus“ oder „Salli“ von den Hausmeistern. Ein männlich zackiges „Salve“ zwischen denen, die bereits seit Jahrzehnten miteinander arbeiteten. Oder ein witziges „Gute Morge“ mit starker Betonung auf dem „O“, das sich mit einem Augenzwinkern über das Grüßen selbst lustig machte.

Wer weiß … Vielleicht hätte ich es geschafft, den immergleichen Grüßen mit Humor zu begegnen, wenn da nicht auch noch die anderen Geräusche gewesen wären. Jürgens ständiges Räuspern zum Beispiel hatte irgendwann denselben Effekt, als würde man direkt neben meinem Ohr einen Traktor starten. Jeder Mausklick kam dem Zerschmettern eines Tellers auf Fliesenböden gleich und jeder atonale Pfiff zum Radio schien mir den Magen umzudrehen. Ich war wie weggefegt. Die Geräusche wurden meine Welt – keine Entäußerung, sondern eine Ent-Innerung! Zwischen Tastaturen, so groß wie Kaufhausparkplätze, sprang ich umher, auf der Flucht vor dem riesenhaften Tier mit dem Kabelschwanz, das mich totklicken würde, wenn es mich erwischte. Geblendet von unnatürlich bläulich-weißem Licht, betäubt von elektrischem Surren und dem durchdringenden Geruch des PVC-Bodens.

Was ist denn los?“, rief ein aufgebrachter Jürgen und ich kam wieder zu mir.

Aus mir unerfindlichen Gründen stand ich mit pochendem Schädel vor dem offenen Bürofenster und blickte auf das graue Stadtpanorama.

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22 декабря 2023
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9783961451265
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