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INHALT

Der Traum von einer geschwisterlichen Welt Einführung von Jürgen Erbacher

Enzyklika

FRATELLI TUTTI

des Heiligen Vaters Papst Franziskus

über die Geschwisterlichkeit

und die soziale Freundschaft

[Vorwort]

Ohne Grenzen

Erstes Kapitel DIE SCHATTEN EINER ABGESCHOTTETEN WELT

Träume, die platzen

Das Ende des Geschichtsbewusstseins

Ohne einen Plan für alle

Der Ausschuss der Welt

Menschenrechte, die nicht universal genug sind

Konflikt und Angst

Globalisierung und Fortschritt ohne gemeinsamen Kurs

Die Pandemien und andere Geisseln der Geschichte

Ohne menschliche Würde an den Grenzen

Die Täuschung der Kommunikation

Aggressivität ohne Scham

Information ohne Weisheit

Unterwerfung und Selbstverachtung

Hoffnung

Zweites Kapitel EIN FREMDER AUF DEM WEG

Der Hintergrund

Der Verlassene

Eine Geschichte, die sich wiederholt

Die Personen

Wieder neu beginnen

Der Nächste ohne Grenzen

Der Aufruf des Fremden

Drittes Kapitel EINE OFFENE WELT DENKEN UND SCHAFFEN

Darüber hinaus

Der einzigartige Wert der Liebe

Die fortschreitende Öffnung der Liebe

Offene Gesellschaften, die alle integrieren

Unzureichendes Verständnis der universalen Liebe

Über eine Welt von Menschen seinesgleichen hinausgehen

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

Universale Liebe zur Förderung der Menschen

Das moralisch Gute fördern

Der Wert der Solidarität

Die soziale Funktion des Eigentums neu denken

Rechte ohne Grenzen

Die Rechte der Völker

Viertes Kapitel EIN OFFENES HERZ FÜR DIE GANZE WELT

Die Beschränkung von Grenzen

Die gegenseitigen Gaben

Fruchtbarer Austausch

Unentgeltliche Annahme

Lokal und universal

Lokalkolorit

Der universale Horizont

Aus der eigenen Region

Fünftes Kapitel DIE BESTE POLITIK

Populismus und Liberalismus

Populär oder populistisch

Werte und Grenzen der liberalen Sichtweisen

Die Internationale Macht

Eine soziale und politische Liebe

Die Politik, derer es bedarf

Die politische Liebe

Wirksame Liebe

Die Tätigkeit der politischen Liebe

Die Opfer der Liebe

Liebe, die integriert und versammelt

Mehr Fruchtbarkeit als Erfolge

Sechstes Kapitel DIALOG UND SOZIALE FREUNDSCHAFT

Der gesellschaftliche Dialog auf eine neue Kultur hin

Gemeinsam aufbauen

Die Grundlage des Konsenses

Konsens und Wahrheit

Eine neue Kultur

Die Begegnung, die zur Kultur geworden ist

Die Freude, den anderen anzuerkennen

Die Freundlichkeit zurückgewinnen

Siebtes Kapitel WEGE ZU EINER NEUEN BEGEGNUNG

Von der Wahrheit her neu beginnen

Die Architektur und das Handwerk des Friedens

Vor allem mit den Geringsten

Wert und Bedeutung von Vergebung

Der unvermeidliche Konflikt

Berechtigte Kämpfe und Vergebung

Die wahre Bewältigung

Erinnerung

Vergebung ohne Vergessen

Krieg und Todesstrafe

Die Ungerechtigkeit des Krieges

Die Todesstrafe

Achtes Kapitel DIE RELIGIONEN IM DIENST AN DER GESCHWISTERLICHKEIT IN DER WELT

Die tiefste Grundlage

Die christliche Identität

Religion und Gewalt

Aufruf

[Schluss]

Gebet zum Schöpfer

Ökumenisches Gebet

ANHANG DES VERLAGS

Themenschlüssel

Zitierte Namen und Dokumente

Bibelstellen

Anmerkungen

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Der Traum von einer geschwisterlichen Welt

Einführung von Jürgen Erbacher

Es ist ein düsteres Bild, das Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika von der Welt im 21. Jahrhundert zeichnet. Egoismus, Ausbeutung von Mensch und Natur, ein Wirtschaftssystem, das nach dem Gesetz des Stärkeren funktioniert, technischer Fortschritt, der keine Ethik kennt, reiche Länder, die sich gegen Arme und Migranten abschotten, eine politische Debatte, die von nationalistischen und populistischen Tönen bestimmt ist, und soziale Netzwerke, die das Attribut »sozial« eigentlich nicht mehr verdienen. Doch er verfällt nicht in Pessimismus und resigniert, sondern er zeigt Wege auf, wie sich die Weltgemeinschaft wieder aus dieser Sackgasse herausmanövrieren kann. Die Lösung ist einfach und zugleich ganz schwer. Die Welt muss vom »ich« zum »wir« übergehen. »Ausgehend von der ›sozialen Liebe‹ ist es möglich, zu einer Zivilisation der Liebe voranzuschreiten, zu der wir uns alle berufen fühlen können. Die Liebe kann mit ihrer universalen Dynamik eine neue Welt aufbauen, weil sie nicht ein unfruchtbares Gefühl ist, sondern vielmehr das beste Mittel, um wirksame Entwicklungsmöglichkeiten für alle zu finden« (FT 183).

Bei der Lektüre des Lehrschreibens kam mir eine Geschichte in den Sinn, die Franziskus bei einer Begegnung mit italienischen Jugendlichen im August 2018 erzählt hat und die in den fast 290 Abschnitten der neuen Enzyklika immer mitschwingt. Franziskus erzählte: »Einmal hat ein Priester mich gefragt: Sagen Sie mir, was ist das Gegenteil von ›ich‹? Und ich bin naiv in die Falle getappt und habe gesagt: Das Gegenteil von ›ich‹ ist ›du‹. – Nein, Herr Pater: Das ist die Saat des Krieges. Das Gegenteil von ›ich‹ ist ›wir‹. Wenn ich sage: Das Gegenteil bist du, dann mache ich Krieg; wenn ich sage, das Gegenteil des Egoismus ist ›wir‹, dann schließe ich Frieden, dann stelle ich Gemeinschaft her, dann bringe ich die Träume von Freundschaft, von Frieden voran.«

In dieser Episode kommt ein Motiv vor, das Franziskus gern bei Treffen mit Jugendlichen anspricht: das Träumen. Immer wieder habe ich diese Aufforderung bei den zahlreichen Jugendtreffen im Rahmen von Papstreisen rund um den Globus gehört: Hört nicht auf zu träumen! »Verwandelt die Träume von heute in die zukünftige Wirklichkeit«, so Franziskus etwa zu den italienischen Jugendlichen. »Die großen Träume sind jene, die Fruchtbarkeit schenken. Sie sind in der Lage, Frieden zu säen, Geschwisterlichkeit zu säen, Freude zu säen.« Genau das will Papst Franziskus mit »Fratelli tutti« erreichen. Er träumt einen großen Traum, der als Fruchtbarkeit Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit säen will.

Inspiriert von Franz von Assisi

In den ersten Reaktionen auf die neue Enzyklika ist immer wieder vom »Traum« des Papstes die Rede, von einer großen »Utopie«, die er vorlege. Manche Kritiker machten auch schnell Dinge aus, die »utopisch« seien, fern der Realität. Eine Enzyklika ist kein Handbuch, das als Nachschlagewerk für eine bessere Welt dienen kann. Aber sie gibt Grundlinien vor, stößt zum Nachdenken an und setzt auch Grenzen, die aus Sicht des Papstes nicht überschritten werden dürfen. Dazu gehören etwa die klare Absage an einen national-egoistischen Populismus, den er als für Christen »nicht hinnehmbar« geißelt, sein klares Nein zur Todesstrafe, das er ausführlich begründet, die Verurteilung der Atomwaffen oder die Abkehr von der Lehre des »gerechten Krieges«, die er für nicht mehr vertretbar hält.

Der Papst spricht im Vorwort zu seiner Enzyklika von einem Traum, der ihn inspiriert hat. Es ist das Wirken des heiligen Franz von Assisi, dessen Namen Jorge Mario Bergoglio nach seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche im März 2013 angenommen hat und der ihn seit den ersten Tagen seines Pontifikats inspiriert. Schon die letzte Enzyklika »Laudato si’ – über die Sorge für das gemeinsame Haus« trägt als Titel ein Zitat des Heiligen aus Assisi. »Er führte keine Wortgefechte, um seine Lehren aufzudrängen, sondern teilte die Liebe Gottes mit. Er hatte verstanden: ›Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm‹ (1 Joh 4,16). Auf diese Weise wurde er zu einem liebevollen Vater, der den Traum einer geschwisterlichen Gemeinschaft verwirklichte«, schreibt der Papst über den Heiligen (FT 4). »Ich lege diese Sozialenzyklika als demütigen Beitrag zum Nachdenken vor. Angesichts gewisser gegenwärtiger Praktiken, andere zu beseitigen oder zu übergehen, sind wir in der Lage, darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt« (FT 6).

Wenn an vielen Stellen geschrieben wird, »Fratelli tutti« sei die Antwort des Papstes auf die Corona-Krise, dann stimmt das nicht ganz. Franziskus hatte schon mit dem Schreiben begonnen, als im Frühjahr 2020 die Pandemie ausbrach und »unsere falschen Sicherheiten offenlegte« (FT 7). In der Folge »kam klar die Unfähigkeit hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns zum Vorschein« (ebd.). Angesichts dieser Situation sieht sich Franziskus in seiner Analyse und in seinem Ruf zur Umkehr bestätigt. Corona hat, so könnte man die Position des Papstes zusammenfassen, die Systemfehler der bisherigen Weltordnung, die er seit langer Zeit anprangert, schonungslos offengelegt.

Geschwisterlichkeit unter den Religionen

800 Jahre, nachdem Franz von Assisi bei einem Besuch in Ägypten Muslime getroffen hat und einen Dialog mit Sultan Malik-al-Kamil führte, der den Bettelmönch zutiefst beeindruckte, reiste Papst Franziskus im Februar 2019 ins Herz der arabischen Welt. In Abu Dhabi unterzeichnete er mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb, einem der führenden Geistlichen des sunnitischen Islams, das »Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt«. Die Begegnungen mit dem Leiter der Al-Azhar-Universität und das gemeinsame Dokument waren für den Papst Anstoß für die neue Enzyklika.

Dabei sind die Inhalte des vorliegenden Lehrschreibens nicht neu. Doch wie in einem Brennglas fügt Franziskus in »Fratelli tutti« seine Ideen von einer neuen Weltordnung zusammen, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, in der alles Handeln in der Perspektive des »Wir« und nicht des »Ich« vollzogen wird. Der Schulterschluss mit dem Großimam und damit einem der maßgeblichsten Gelehrten für die Sunniten – 85 Prozent der Muslime weltweit – legte für den Papst die Basis für den neuen Entwurf einer geschwisterlichen Welt. Dass die Enzyklika sich in dieser Weise auf eine Autorität des Islams bezieht, ist eine Neuheit. Am Ende des Lehrschreibens zitiert Franziskus zentrale Passagen des Dokuments von Abu Dhabi und übernimmt so eine interreligiöse Erklärung in das Lehramt der katholischen Kirche. Damit forciert er die Rezeption auf katholischer Seite und nimmt die muslimischen Partner in die Pflicht. Beide Seiten müssen umsetzen, was sie 2019 in dem Dokument versprochen haben und was Franziskus jetzt als inhaltlichen Schlusssatz unter seine Enzyklika setzt: »Im Namen Gottes und all des eben Gesagten […] [nehmen wir] die Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Verständnis als Methode und Maßstab [an]« (FT 285).

Kultur der Begegnung

Die Kultur des Dialogs und der Begegnung gehört zu den zentralen Elementen des Pontifikats von Papst Franziskus. »Das Leben ist die Kunst der Begegnung, auch wenn es so viele Auseinandersetzungen im Leben gibt«, zitiert er in »Fratelli tutti« (215) den brasilianischen Dichter Vinícius de Moraes (1913–1980), um dann zu dem Schluss zu kommen: »Von einer ›Kultur der Begegnung‹ zu sprechen bedeutet also, dass wir uns als Volk für die Idee begeistern, zusammenzukommen, Berührungspunkte zu suchen, Brücken zu schlagen, etwas zu planen, das alle miteinbezieht« (FT 216). Franziskus will als Pontifex – als Brückenbauer – agieren. Diese Idee liegt der Enzyklika zugrunde. Der Papst verurteilt die Tendenzen, neue Mauern aufzubauen etwa im Umgang mit Migranten; er verurteilt die Ausgrenzung der Bedürftigen, der Alten, ja ganzer Länder mit Blick auf das vorherrschende Weltwirtschaftssystem und versucht, mit dem Modell der »Zivilisation der Liebe« Brücken zu bauen innerhalb der einzelnen Nationen, aber auch weltweit. »Isolierung: nein; Nähe: ja. Kultur der Konfrontation: nein; Kultur der Begegnung: ja« (FT 30).

Dabei ist Franziskus nicht naiv. Dialog und Begegnung bedeuten nicht, dass er oberflächlichen Freundlichkeiten das Wort redet. Im sechsten Kapitel beschäftigt er sich eingehend mit »Dialog und sozialer Freundschaft«. »Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält« (FT 203). Unterschiede, so Franziskus kurz zuvor, brächten zwar Konflikte hervor, »die Einförmigkeit jedoch erstickt und bewirkt, dass wir uns kulturell selbst vernichten« (FT 191). Aus diesem Grund fordert er nicht nur einen »integrativen Sozialpakt«, sondern auch einen Kulturpakt, »der die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen, respektiert und berücksichtigt« (FT 219). Das Ganze mündet dann in der Vorstellung des Polyeders als des geeignetsten Gesellschaftsmodells. »Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn« (FT 215). In diesem Sinn ist dann auch eine Zusammenarbeit der Glaubenden verschiedener Religionen möglich sowie ein gemeinsames Handeln mit den Nichtglaubenden.

Der Titel irritiert

Im Vorfeld der Veröffentlichung gab es heftige Diskussionen über den Titel der Enzyklika. Grenzt »Fratelli tutti« die Frauen aus? Hätte der Papst nicht einen gendersensibleren Titel wählen müssen? Niklaus Kuster, Kapuziner und Experte für franziskanische Spiritualität, betont, dass der wahre Adressat des Ursprungstextes, den der Papst hier zitiert, alle Menschen sind, Männer und Frauen.1 Der Titel ist den sogenannten »Ammonizioni« des heiligen Franz von Assisi entnommen. Diese Texte wurden in Teilen zunächst als »Ermahnungen« für die Mitbrüder geschrieben, sehr schnell aber zu einer »Sammlung von Weisheitslehren« zusammengefasst, die sich dann an alle Glaubenden richteten. »Um den finalen Adressaten der vom Papst zitierten Textsammlung zu erkennen, muss zwischen der Entstehung der Textteile und ihrer Endkomposition unterschieden werden. In dieser weitet sich der Ausdruck der ›fratres‹ nämlich vom kleinen Insiderkreis auf alle Menschen.«2 Kuster weist zudem darauf hin, dass die Textsammlung, der das Titelzitat entstammt, auch als »›Magna Charta‹ der christlichen Geschwisterlichkeit« bezeichnet wird. Damit ist die Grundaussage, die der Papst mit dem Titel treffen will, klar.

Zugleich müsste aber auch dem Papst bewusst sein, in welche Zeit hinein er spricht. Die Frauenfrage ist hochaktuell. Zu viele Verletzungen gab und gibt es im Bereich der katholischen Kirche. Hier sind die Frauen zu Recht sehr sensibel. Daher fällt sofort auf, dass der Papst in dem neuen Dokument keine einzige Frau zitiert. Selbst am Ende, wo er mit dem Verweis auf Martin Luther King, Desmond Tutu und Mahatma Gandhi versucht, den Kreis derer, die ihn für seine Enzyklika über die Geschwisterlichkeit inspiriert haben, über die katholische Tradition hinaus zu öffnen, nennt er keine Frau. Die Frauen werden den Papst sicherlich auch fragen, wie das mit der gleichen Würde und den gleichen Rechten ist, die er für die Frauen in der Gesellschaft einfordert. Welche Glaubwürdigkeit hat diese Aussage angesichts der Situation innerhalb der katholischen Kirche?

Aus der Tradition kommend …

Nun geht es in dieser Sozial- und Friedensenzyklika nicht um innerkirchliche Fragen. Es geht Franziskus um das Verhältnis der Kirche zur Welt und um ihre Aufgabe in der Welt. Hier beruft er sich auf die zentralen Sätze der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, um das soziale Handeln der Kirche zu begründen. »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi« (GS 1, zitiert in FT 56). Mit den Verweisen auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium und auf die Frage Gottes an Kain – »Wo ist Abel, dein Bruder?« – legt Franziskus das biblische Fundament für seinen Traum von der geschwisterlichen Welt.

Dabei stellt er sich in die Tradition der katholischen Soziallehre. Gerade an zentralen Stellen der Enzyklika zitiert er seine Vorgänger. »Die Kirche ›hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft‹, sondern sich in den ›Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit‹ stellt«, erklärt er mit den Worten seines Vorgängers Benedikt XVI. aus dessen Enzyklika »Caritas in veritate« (FT 276). Von Johannes Paul II. übernimmt er nicht nur den Gedanken, dass »Gott die Welt dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt [hat], ohne jemanden auszuschließen« (FT 120), sondern auch die für die aktuelle Argumentation entscheidende Feststellung, dass »wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, […] es kein sicheres Prinzip [gibt], das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet« (FT 273). Mit Paul VI. fordert Franziskus die Rückbindung des privaten Eigentums an das Gemeinwohl und dass die weltweiten Rüstungsausgaben in einen Fonds zur Bekämpfung von Hunger und Armut umgewidmet werden.

… die Tradition weiterdenkend

Wirklicher Friede ist nur möglich infolge einer globalen Solidarität und Zusammenarbeit, ist Franziskus überzeugt. Dabei denkt er ein inklusives Gesellschaftsmodell. Das bedeutet, alle sind beteiligt. Er kritisiert, wo er das nicht verwirklicht sieht, wenn etwa die sozialen Volksbewegungen aus seiner Sicht nicht ernst genommen werden. »In einigen kleinkarierten und monochromatischen Wirtschaftstheorien scheinen zum Beispiel die Volksbewegungen keinen Platz zu finden, welche Arbeitslose, Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhältnissen und viele andere, die nicht einfach in die vorgegebenen Kanäle passen, versammeln« (FT 169).

Nur, wenn jede Stimme zählt, nimmt man Populisten in Politik und Gesellschaft den Wind aus den Segeln und befördert zugleich eine wahre Politik des Volkes, könnte man Franziskus’ Ansatz kurz zusammenfassen. Denn er denkt die Veränderungen, die er fordert, nicht nur von oben: »Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir haben Möglichkeiten der Mitverantwortung, die es uns erlauben, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken. Wir müssen aktiv Anteil haben beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der verwundeten Gesellschaft« (FT 77). »Große Veränderungen werden nicht am Schreibtisch oder in Büros fabriziert« (FT 231), betont Franziskus – verbunden mit dem Hinweis, dass »in dem einen kreativen Plan ein jeder eine wesentliche Rolle [hat], um eine neue Seite der Geschichte zu schreiben, eine Seite voller Hoffnung, voller Frieden und voller Versöhnung«.

Hier kommt der Gedanke des Traums wieder ins Spiel. Franziskus wird mit Sicherheit viel Kritik ernten für das neue Schreiben. Als Marxist wird er bezeichnet werden von den Anhängern einer liberalen Wirtschaftstheorie, als Häretiker von konservativen Christen, weil er Muslime ganz selbstverständlich als Partner sieht und betont, dass Gott alle Menschen liebt, unabhängig von der Religion, ja selbst Atheisten. Utopist werden ihn die nennen, die von der aktuellen Wirtschaftsordnung profitieren auf Kosten der Armen und Ausgegrenzten. Der Papst wird weiter träumen, weil er überzeugt ist: Wer Träume hat, der jagt ihnen nach, damit sie sich erfüllen. Er baut darauf, Mitträumer zu finden für eine geschwisterliche Welt. »Wer fähig ist zu träumen, wird zum Lehrmeister, durch das Zeugnis«, ist Franziskus überzeugt. Einen Anstoß dazu bietet die vorliegende Enzyklika.

______

1 Vgl. Niklaus Kuster: »Wir Geschwister alle«. Wen Franz von Assisi in den ersten Worten der neuen Enzyklika anspricht. In: L’Osservatore Romano, 22. September 2020.

2 Ebd.

860,87 ₽
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231 стр. 3 иллюстрации
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9783843613149
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