Читать книгу: «Die Unerwünschten»
1 DIE UNERWÜNSCHTEN
Die heitere Geschichte einer Vampirfamilie von heute
von
1 Owen Jones
Übersetzung aus dem Englischen:
1 Ulrike Jenisch
Copyright Owen Jones 2021
Die Rechte von Owen Jones als Autor dieses Buchs wurden geltend gemacht gemäß der Paragraphen 77 und 78 des Copyright Designs and Patents Act 1988. Die moralischen Rechte des Autors wurden ebenfalls geltend gemacht.
Die Handlung in diesem Buch ist frei erfunden. Alle Personen und Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie des Autors oder sie werden lediglich fiktiv benutzt. Einige Orte existieren unter Umständen tatsächlich, aber die geschilderten Ereignisse sind erfunden.
Erschienen bei
Megan Publishing Services
http://meganthemisconception.com
1 WIDMUNG
Dieses Buch ist meinen Freunden Lord David Prosser und Murray Bromley gewidmet, die mir und meiner Thai-Familie 2013 mehr geholfen haben, als sie sich jemals vorstellen können.
Das Karma wird alle entsprechend belohnen.
Kontaktieren Sie mich bei:
http://facebook.com/angunjones
http://twitter.com/lekwilliams
owen@behind-the-smile.org
http://owencerijones.com
Registrieren Sie sich bei unserem Newsletter mit Insider-Informationen zu Owen Jones’ Büchern und Beiträgen, indem Sie Ihre E-Mail-Adresse angeben bei:
http://meganthemisconception.com
Inhaltsverzeichnis
DIE UNERWÜNSCHTEN
Die Rechte von Owen Jones als Autor dieses Buchs wurden geltend gemacht gemäß der Paragraphen 77 und 78 des Copyright Designs and Patents Act 1988. Die moralischen Rechte des Autors wurden ebenfalls g...
Kontaktieren Sie mich bei:
1. DIE SCHLIMME LAGE DES HERRN LEE
2 DIE ZWICKMÜHLE DER FAMILIE LEE
3 PEE POB HENG
4 DER WEG ZUR GENESUNG
5 IST ES EIN MANN? IST ES EIN VOGEL? NEIN! ES IST HENG
6 HENG GEHT WIEDER ARBEITEN
7 HENG ERWEITERT SEINE ERNÄHRUNG
8 HENGS EXPERIMENTE
9 HAUSGÄSTE
10 EIN NEUES FAMILIENGESCHÄFT
11 DER HIPPIE-PFAD
12 PAUSE
13 BATMAN UND BATGIRL
14 DIE FLEDERMAUS-GEMEINDE WÄCHST
15 DAS ERSTE FLEDERMAUS-KOMITEE
GLOSSAR
Über den Autor
1 1. DIE SCHLIMME LAGE DES HERRN LEE
Herr Lee, oder auch Alter Mann Lee, wie er im Ort genannt wurde, hatte seit Wochen ein eigenartiges Gefühl und, weil seine heimische Gemeinde so klein und abgelegen war, wussten auch alle in seinem Umfeld Bescheid. Er hatte den Rat einer ansässigen Heilkundigen einholen müssen, einer vom alten Schlag, keiner modernen Medizinerin, und sie hatte ihm gesagt, dass seine Körpertemperatur aus dem Gleichgewicht geraten war, weil irgendetwas mit seinem Blut nicht stimmte.
Die Frau, die örtliche Schamanin und zugleich auch Herrn Lees Tante, war sich über die Ursache immer noch nicht ganz im Klaren, aber sie hatte gemeint, dass sie es in etwa 24 Stunden herausfinden würde, er solle ihr ein paar Proben zur Untersuchung dalassen und wiederkommen, wenn sie ihn holen ließe. Die Schamanin reichte Herrn Lee einen Klumpen Moos und einen Stein.
Er wusste von früher noch, was er tun musste, daher urinierte er auf das Moos und nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte spuckte auf den Stein. Er gab ihr alles feierlich zurück und sie wickelte beide Proben getrennt in Stücke von Bananenblättern, um die Feuchtigkeit so lange wie möglich zu erhalten, wobei sie darauf achtete, nichts mit bloßen Händen zu berühren, um die Proben nicht zu verunreinigen.
„Ich warte einen Tag, damit sich alles zersetzen und trocknen kann, dann sehe ich es mir genau an und finde heraus, was mit dir nicht stimmt.“
„Danke, Tante Da, Schamanin Da, wollte ich sagen. Ich werde warten, bis du mich rufen lässt, dann komme ich sofort.“
„Warte, mein Junge, ich bin noch nicht fertig mit dir.“
Da griff hinter sich und nahm ein Tongefäß aus dem Regal. Sie entkorkte es, nahm daraus zwei Mundvoll Flüssigkeit und spuckte den letzten Mundvoll über Alten Mann Lee. Während Da eine Beschwörung für ihre Götter sang, dachte Herr Lee bei sich, dass sie die ‚Reinigung‘ vergessen hatte – er hasste es, von jemandem angespuckt zu werden, ganz besonders von alten Damen mit fauligen Zähnen.
„Dieses Alkoholspray und das Gebet werden dir über die Runden helfen, bis wir dich wieder in Ordnung gebracht haben“, versicherte sie ihm.
Schamanin Da erhob sich aus ihrem vollen Lotussitz vom Erdboden ihres medizinischen Kultraums, legte ihrem Neffen einen Arm um die Schultern und brachte ihn nach draußen, wobei sie sich im Gehen eine Zigarette rollte.
Im Freien zündete sie sie an, nahm einen tiefen Zug und spürte, wie der Rauch ihre Lungen füllte. „Wie geht es deiner Frau und den reizenden Kindern?“
„Ach, denen geht es gut, Tante Da, aber sie sind etwas besorgt um meine Gesundheit. Ich fühle mich jetzt schon eine Weile etwas kränklich und ich bin doch in meinem ganzen Leben noch nicht krank gewesen, wie du weißt.“
„Stimmt, wir Lees sind ein kräftiger Schlag. Dein Vater, mein lieber Bruder, wäre jetzt immer noch gesund, wenn er nicht an der Grippe gestorben wäre. Er war stark wie ein Stier. Du schlägst ihm nach, aber auf ihn ist ja auch nie geschossen worden. Ich glaube, das hat dich jetzt eingeholt, diese Yankee-Kugel.“
Herr Lee hatte diese Diskussion bereits viele hundert Male geführt, aber da er sie nicht gewinnen konnte, nickte er einfach, gab seiner Tante einen 5-Baht-Schein und machte sich auf den Rückweg zu seinem Hof, der nur ein paar hundert Meter außerhalb des Dorfes lag.
Er fühlte sich schon besser, also schritt er schwungvoll aus, weil er es allen beweisen wollte.
Alter Mann Lee hatte volles Vertrauen zu seiner steinalten Tante Da, so wie alle in der Gemeinde, die aus einem kleinen Dorf mit ungefähr 500 Häusern und ein paar Dutzend abseits gelegenen Bauerhöfen bestand. Seine Tante Da hatte die Position des Schamanen übernommen, als er noch ein Junge war und es gab nicht mehr als ein paar Dutzend Einwohner, die sich noch an den Schamanen vor ihr erinnern konnten. Sie hatten nie ihren eigenen ansässigen Arzt mit Universitätsabschluss gehabt.
Das hieß nicht, dass die Dorfbewohner keinen Zugang zu einem Mediziner hatten, aber die waren dünn gesät – der nächste niedergelassene Arzt befand sich ‚in der Stadt‘, 75 Kilometer entfernt. In den Bergen der äußersten nordöstlichen Ecke Thailands, wo sie lebten, gab es weder Busse, Taxis noch Zugverbindungen. Außerdem kosteten Ärzte viel Geld und verschrieben teure Medikamente, von denen alle annahmen, dass sie hohe Provisionen kassierten. Einige Dörfer weiter gab es auch ein Krankenhaus, aber dort arbeitete eine Vollzeit-Krankenschwester und alle zwei Wochen kam an einem Tag ein ambulanter Teilzeit-Doktor, der für die ganze Gegend zuständig war.
Dorfbewohner wie Herr Lee waren der Ansicht, dass Ärzte wahrscheinlich für reiche Stadtbewohner schön und gut waren, aber Leuten wie ihnen nicht viel nützten. Wie konnte denn ein Bauer einen ganzen Arbeitstag opfern, um zu einem Arzt in die Stadt zu fahren und dazu jemanden mit einem Fahrzeug anheuern, für den dasselbe galt? Wenn man überhaupt jemanden mit Fahrzeug auftrieb, obwohl es im Umkreis von zehn Kilometern ein paar alte Traktoren gab.
Nein, dachte er, seine alte Tante war gut genug für alle anderen, und sie war auch gut genug für ihn, außerdem hatte sie noch keinen sterben lassen, dessen Zeit nicht gekommen war und sie hatte auch bestimmt niemanden umgebracht. Das würden alle beschwören.
Wirklich alle.
Herr Lee war sehr stolz auf seine Tante und überhaupt gab es kilometerweit keine Alternative, ganz sicher niemanden mit all ihrer Erfahrung – all ihrer Erfahrung? Nun gut, niemand wusste, wie alt sie wirklich war, nicht mal sie selbst, aber wahrscheinlich mindestens neunzig.
Mit diesen Überlegungen erreichte Herr Lee den Vorgarten seines Zuhauses. Er wollte die Angelegenheit mit seiner Frau besprechen, denn obwohl er nach außen hin als Familienoberhaupt galt, so wie der Mann jeder Familie, war das nur der äußere Schein. In Wirklichkeit wurden alle Entscheidungen von der ganzen Familie getroffen, oder zumindest von den Erwachsenen.
Es würde ein bedeutsamer Tag werden, denn bei den Lees hatte es noch nie eine ‚Krise‘ gegeben und ihre beiden Kinder, den Kinderschuhen entwachsen, sollten dann auch zu Wort kommen dürfen. Das würde in die Annalen eingehen, Herr Lee war sich dessen wohl bewusst.
„Mud!“ rief er, eine liebevolle Bezeichnung für seine Frau, seit das erstgeborene Kind noch nicht ‚Mutter‘ hatte sagen können. „Mud, bist du da?“
„Ja, ich bin hinten draußen.“
Lee wartete kurz, bis sie aus der Toilette hereinkam, aber drinnen war es heiß und schwül, daher ging er in den Vorgarten und setzte sich auf den großen Familientisch unter dem Grasdach, wo die ganze Familie ihre Mahlzeiten einnahm und gewöhnlich saß, wenn freie Zeit war.
Frau Lees richtiger Name war Wan, obwohl ihr Mann sie liebevoll Mud nannte, seit ihr ältestes Kind sie so gerufen hatte. Herr Lee benutzte den Namen weiterhin, die Kinder jedoch nicht. Sie stammte aus dem Dorf Baan Noi, so wie Lee, aber ihre Familie hatte nie woanders gelebt, während Herrn Lees Familie zwei Generationen vorher aus China gekommen war, aber so weit weg war deren Heimatstadt auch wieder nicht.
Sie war eine recht typische Frau dieser Region. In ihrer Jugend war sie ein sehr hübsches Mädchen gewesen, aber Mädchen hatten zu dieser Zeit weder viele Möglichkeiten gehabt noch wurden sie ermutigt, Ehrgeiz zu entwickeln, wobei sich für ihre Tochter zwanzig Jahre später auch nicht viel geändert hatte. Frau Lee war zufrieden gewesen, sich nach Beendigung der Schulzeit nach einem Ehemann umzusehen. Als dann Heng Lee um ihre Hand anhielt und ihren Eltern das Abfindungsgeld zeigte, das er auf der Bank hatte, dachte sie, er wäre ein genauso guter Fang wie irgendein anderer einheimischer Junge, der für sie in Frage käme. Sie hatte auch nicht den Wunsch, ihre Freunde und Verwandten zu verlassen und in eine große Stadt zu ziehen, um dort ihre Optionen zu erweitern.
Mit der Zeit hatte sie auf ihre Art sogar Liebe für Heng Lee entwickelt, obwohl das Feuer in ihrem kurzen Liebesleben schon lange erloschen war und sie jetzt eher Geschäftspartnerin als Ehefrau in dem Familienbetrieb war, der ihr Überleben und das ihrer beiden Kinder sicherte.
Wan hatte nie einen Liebhaber gesucht, obwohl ihr sowohl vor als auch nach ihrer Heirat Anträge gemacht worden waren. Zu der Zeit war sie empört gewesen, aber jetzt dachte sie mit einer gewissen Zärtlichkeit an diese Augenblicke zurück. Lee war ihr Erster und Einziger und würde sicher auch ihr Letzter sein, aber sie verspürte kein Bedauern darüber.
Ihr einziger Traum war es, Enkel zu haben und sie zu versorgen; ihre Kinder würden sich mit der Zeit bestimmt selbst Kinder wünschen, obwohl sie nicht wollte, dass sie überstürzt heirateten so wie sie selbst, besonders ihre Tochter nicht. Sie wusste, ihre Kinder würden, wenn möglich, ebenfalls Kinder zeugen. Davon war sie felsenfest davon überzeugt, denn nur das bedeutete für sie finanzielle Sicherheit im Alter und die Möglichkeit, den Status der Familie zu heben.
Für Frau Lee waren Familie, Status und Ehre wichtig, aber mehr materielle Dinge, als sie bereits besaß, wollte sie nicht. Sie hatte so lange gelernt, zu verzichten, dass sie ihr nicht mehr wichtig waren.
Sie hatte bereits ein Handy und einen Fernseher, aber der Empfang war, milde ausgedrückt, schwach. Dagegen konnte sie nichts machen außer darauf zu warten, dass die Regierung Zeit fand, die örtlichen Sender aufzurüsten, was eines Tages bestimmt geschehen würde, wenn auch nicht in absehbarer Zeit. Sie wünschte sich kein Auto, weil sie nirgends hinfahren wollte und außerdem waren die Straßen sowieso schlecht.
Es war jedoch nicht nur deswegen. Für Leute ihres Alters und in ihrer Lage war ein Auto so lange unerschwinglich gewesen, dass sie schon vor Jahrzehnten aufgegeben hatten, sich eines zu wünschen. Mit anderen Worten: Sie war zufrieden mit dem Fahrrad und dem alten Motorrad, den Transportmitteln ihrer Familienflotte.
Frau Lee sehnte sich auch nicht mehr nach Gold und modischen Kleidern. Angesichts der Realität, zwei Kinder mit dem Einkommen eines Bauern großzuziehen hatte sie sich das schon vor vielen Jahren aus dem Kopf geschlagen. Trotzdem war Frau Lee eine zufriedene Frau, die ihre Familie liebte und sich damit abgefunden hatte, so zu bleiben, wie sie war und wo sie war, bis Buddha sie eines Tages zu sich heimrufen würde.
Herr Lee beobachtete, wie seine Frau auf ihn zukam, sie rückte etwas unter ihrem Sarong zurecht, aber von außen – irgendetwas saß nicht richtig, vermutete er, aber er würde nie fragen, was es war. Sie setzte sich auf den Tischrand, schwang ihre Beine hoch und saß da wie die kleine Meerjungfrau auf einem dänischen Felsen.
„Also, was hatte die alte Hexe zu sagen?“
„Ach komm, Mud, so schlimm ist sie auch nicht! Ja, gut, ihr seid nie miteinander ausgekommen, aber so ist das eben ab und zu, oder? Sie sagt nie ein schlechtes Wort über dich, sie hat mich sogar vor einer halben Stunde gefragt, wie es dir geht … und den Kindern.“
„Du kannst manchmal so ein Dummkopf sein, Heng. Sie redet freundlich mit mir oder über mich, wenn Leute sie hören können, aber sie behandelt mich wie Dreck und das hat sie immer getan. Sie hasst mich, aber sie ist zu hinterhältig, dir das zu zeigen, weil sie weiß, dass du meine Partei ergreifen wirst und nicht ihre. Ihr Männer denkt immer, ihr wärt so lebenserfahren, aber was vor eurer Nase passiert, das seht ihr nicht.“
Über die Jahre hat sie mir viele Sachen vorgeworfen, und zwar oft … wie zum Beispiel, dass ich mein Haus nicht sauber halte, die Kinder nicht wasche und einmal hat sie sogar gesagt, mein Essen würde riechen, als hätte ich es mit Ziegenmist gewürzt! Pah, du hast ja keine Ahnung, aber du glaubst mir auch nicht, nicht einmal der eigenen Frau! Ja, grins nur, aber für mich ist das die vergangenen dreißig Jahre nicht sehr witzig gewesen, lass dir das gesagt sein. Also, was hat sie gemeint?“
„Eigentlich nichts, es war nur eine Untersuchung, also dasselbe Programm wie immer. Du weißt schon: auf Moos pinkeln, auf einen Stein spucken und sie dann mit ihrem alten Pferdegebiss Alkohol über dich spucken lassen. Mir graust es, wenn ich nur daran denke. Sie hat gemeint, sie lässt mir morgen ausrichten, wann ich kommen soll, damit sie mir das Ergebnis mitteilt.
Wo sind die Kinder? Sollten sie bei diesem Familiengespräch nicht auch dabei sein?“
„Ich glaube nicht, nicht unbedingt. Immerhin wissen wir ja noch gar nichts, oder? Hast du vielleicht irgendeine Ahnung?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe mir gedacht, ich lasse mir vielleicht von diesem chinesischen Mädchen eine Massage geben … das könnte helfen, wenn ich ihr sage, dass sie mich sanft behandeln soll. Sie hat ihr Handwerk in Nordthailand gelernt und kann etwas grob sein, oder … das sagen jedenfalls die Leute. Du weißt schon, besonders bei meinem inneren Zustand. Obwohl, vielleicht tut ja sanftes Reiben gut … was denkst du, meine Liebe?“
„Ja, ich weiß, was du mit sanftem Reiben meinst. Wenn das so ist, warum bittest du dann nicht deinen Onkel darum? Warum brauchst du dafür ein junges Mädchen?“
„Du weißt doch warum. Ich mag keine Männerhände auf meinem Körper, das habe ich doch schon mal erklärt, aber gut, wenn es dich ärgert, dann lasse ich mich nicht massieren.“
„Schau, ich sage ja nicht, du sollst nicht gehen! Du lieber Himmel, ich kann dich sowieso nicht aufhalten, wenn du es tun willst! Aber, wie du ja sagst, ist sie etwas grob, also könnte sie mehr schaden als nützen. Ich glaube, es wäre klüger zu warten, bis wir wissen, was deine Tante meint, das ist alles.“
„Ja, gut, wahrscheinlich hat du recht. Du hast noch gar nicht gesagt, wo die Kinder sind.“
„Ich weiß nicht genau, ich dachte, jetzt sollten sie eigentlich zurück sein … Sie sind zusammen weg, um am Wochenende eine Geburtstagsparty oder etwas Ähnliches zu organisieren.“
Die Lees hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, und sie schätzten sich glücklich deswegen, weil sie zehn Jahre lang versucht hatten Kinder zu bekommen, bevor der Junge gezeugt wurde. Die Kinder waren jetzt zwanzig und sechzehn, daher hatten Herr und Frau Lee es seit langem aufgegeben, auf weiteren Nachwuchs zu hoffen.
Sie hatte auch vor langer Zeit aufgegeben, es zu versuchen.
Es waren jedoch brave, respektvolle und gehorsame Kinder und sie machten ihre Eltern stolz, zumindest das, was die Eltern über sie wussten, machte sie stolz. Sie waren eben genauso wie alle braven Kinder: zu neunzig Prozent in Ordnung, aber sie konnten durchaus auch Dummheiten anstellen und manche Gedanken behielten sie für sich, weil sie wussten, ihre Eltern würden sie nicht billigen.
Der Sohn Master Lee, auch Den oder Junger Lee genannt, war gerade zwanzig geworden und seit fast zwei Jahren mit der Schule fertig. Er und seine Schwester hatten eine glückliche Kindheit verbracht, aber langsam begann es ihm zu dämmern, dass sein Vater ein sehr hartes Leben für ihn geplant hatte, wobei er durchaus schon sein ganzes Leben gearbeitet hatte, jedenfalls vor und nach der Schule. Aber damals war trotzdem noch Zeit geblieben für Fußball, Tischtennis und die Mädchen auf den Tanzfesten der Schule.
Mit all dem war jetzt Schluss genauso wie mit seiner Aussicht auf ein Sexleben. Das war zwar noch nie besonders glänzend gewesen war – ab und zu ein Kuss und noch seltener ein dezentes Herumgefummel, aber jetzt hatte sich seit fast zwei Jahren gar nichts mehr getan. Den würde schlagartig in die Stadt ziehen, wenn er auch nur einen Schimmer gehabt hätte, was er dort machen sollte, aber er hatte auch keinerlei Ehrgeiz, außer möglichst oft eine Nummer zu schieben.
Seine Hormone spielten dermaßen verrückt, dass er schon ein paar Ziegen äußerst attraktiv fand, was ihn ungeheuer beunruhigte.
Er musste nicht sehr tief in sich gehen um zu begreifen, dass er heiraten sollte, wenn er eine feste Beziehung mit einer Frau haben wollte.
Eine Ehe, auch wenn sie mit der Zeugung von Kindern verbunden war, begann ausgesprochen verlockend auszusehen.
Fräulein Lee, besser bekannt als Din, war ein sehr hübsches 16-jähriges Mädchen, die im Sommer von der Schule abgegangen war, zwei Jahre früher als ihr Bruder, was für die Region, in der sie lebte, ganz normal war. Nicht weil sie weniger intelligent war, sondern weil beide Eltern und auch die Mädchen selbst annahmen, es wäre umso besser, je früher sie anfingen, eine Familie zu gründen. Ein Mädchen unter zwanzig hatte es auch leichter, einen Ehemann zu finden als eines, dass ein paar Jahre älter war. Din akzeptierte diese althergebrachte ‚Weisheit‘ ohne sie zu hinterfragen, trotz der Bedenken ihrer Mutter.
Sie hatte ebenfalls ihr ganzes Leben vor und nach der Schule gearbeitet, wahrscheinlich härter als ihr Bruder, obwohl der das niemals so sehen würde, denn Mädchen erledigten faktisch alle anfallenden Sklavenarbeiten egal welcher Art.
Din hatte jedoch durchaus Fantasien. Sie träumte von romantischen Techtelmechteln, in denen ihr Liebhaber sie nach Bangkok entführen und dort Arzt werden würde, während sie den ganzen Tag mit ihren Freundinnen auf Shoppingtour ging. Ihre Hormone machten ihr auch Probleme, aber die einheimische Kultur gestattete nicht, dass sie das zugab, nicht einmal vor sich selbst. Ihr Vater, ihr Bruder und wahrscheinlich sogar ihre Mutter würden sie verprügeln, wenn sie sie dabei erwischten, dass sie einem Jungen, der nicht zur Familie gehörte auch nur zulächelte.
Sie wusste es und akzeptierte das auch, ohne Fragen zu stellen.
Ihr Plan war, auf der Stelle nach einem Ehemann zu suchen, eine Aufgabe, bei der ihr ihre Mutter Hilfe angeboten hatte, denn beide Damen Lee wussten, dass man sie am besten so schnell wie möglich erledigen sollte um damit jedes Risiko auszuschließen, Schande über die Familie zu bringen.
Insgesamt gesehen war die Familie Lee ganz typisch für die Gegend und damit war sie auch sehr zufrieden. Sie führte ihr Leben innerhalb der Zwänge der heimischen Konventionen und fand das in Ordnung und richtig, auch wenn beide Kinder Träume von einer Flucht in die große Stadt hegten. Das Problem lag in einem Mangel an Ehrgeiz; es war in den Hügelbewohnern seit Jahrhunderten tief verwurzelt und hielt sie zurück. Für die Regierung erwies sich das als eine gute Sache, sonst wären schon alle jungen Leute aus den ländlichen Gebieten verschwunden und nach Bangkok und von dort aus in fremde Länder wie Taiwan und Oman abgewandert, wo die Gehälter höher waren. Die Befreiung von starrem Gruppenzwang war jedoch verlockend.
Viele junge Mädchen hatten allerdings die Reise nach Bangkok angetreten. Ein paar von ihnen hatten auch eine ordentliche Arbeit gefunden, aber viele endeten in der Sexindustrie der größeren Städte. Von dort aus reisten einige auch weiter ins Ausland, sogar in Länder außerhalb Asiens. Es kursierten zahlreiche Horrorgeschichten, um junge Mädchen von diesem Weg abzuhalten; bei Din und ihrer Mutter hatte das funktioniert.
Herrn Lee gefiel sein Leben und er liebte seine Familie, obwohl man das außerhalb der eigenen vier Wände nicht zugab. Er wollte sie nicht wegen irgendeiner Krankheit verlieren, die er vielleicht schon seit seiner Jugendzeit mit sich herumtrug.
Alter Herr Lee (obwohl er wusste, dass ihn einige der nicht so respektvollen Dorf-Jugendlichen Alter Ziegenbock Lee nannten) war in seiner Jugend Idealist gewesen und hatte sich gleich nach Beendigung der Schulzeit zum Kampfeinsatz in Nordvietnam gemeldet. Sie lebten nahe an der Grenze zu Laos, also war Nordvietnam nicht weit weg. Er wusste, dass die Amerikaner diese Region und Laos bombardiert hatten und wollte seinen Beitrag leisten, dass damit Schluss war.
Er hatte sich der kommunistischen Idee verschrieben und war, sobald man ihn brauchen konnte, zur Kampfausbildung nach Vietnam gegangen. Viele seiner Mitkämpfer hatten genauso wie er zum Teil Chinesen im Stammbaum, hatten aber die Einmischung ausländischer Mächte in die Zukunft ihrer Landsleute satt. Er konnte nicht verstehen, warum sich Amerikaner, die tausende Meilen weit weg lebten darum scherten, wer in diesem kleinen Teil der Welt an der Macht war. Er hatte sich nie darum gekümmert, welchen Präsidenten sie gewählt hatten.
Wie das Schicksal aber so spielte, bekam er nie die Chance, auch nur einen zornigen Schuss abzufeuern, weil er gleich am ersten Tag nach Ausbildungsende beim Transport vom Trainingscamp zum Schlachtfeld vom Schrapnell einer amerikanischen Bombe getroffen wurde. Seine Verletzungen waren sehr schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich. Sie reichten jedoch zur Ausmusterung, als er soweit wiederhergestellt war, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Der größte Schrapnellsplitter hatte ihn am linken Oberschenkel getroffen, aber ein paar kleinere Splitter hatten sich in seinen Magen gebohrt, von denen er jetzt glaubte, sie könnten die Quelle seiner Beschwerden sein. Daher stammte auch das Gerücht, dass auf ihn geschossen worden wäre.
Er war mit einem bösen Hinken heimgekommen sowie mit einer Abfindung, die hoch genug ausfiel, einen kleinen Bauernhof zu kaufen, aber aufgrund seines verwundeten Beins hatte er stattdessen einen Hof und eine Herde Ziegen gekauft, die er züchtete und verkaufte. Innerhalb eines Jahres nach seiner Heimkehr war sein Bein so gut es eben ging geheilt und er heiratete ein hübsches einheimisches Mädchen, das er sein ganzes Leben lang gekannt und gemocht hatte. Sie war auch bäuerlicher Herkunft, sie ließen sich häuslich nieder und führten ein zufriedenes, wenn auch ärmliches Leben.
An jedem Wochentag außer sonntags hatte Herr Lee seitdem seine Herde zum Grasen ins Hochland getrieben. Im Sommer übernachtete er oft in einem der Biwaks, die er an verschiedenen Stellen errichtet hatte, das hatte er bei der Armee gelernt. Jene Zeit betrachtete er im Rückblick nostalgisch als glückliche Tage, obwohl er das damals nicht so empfunden hatte.
In den Bergen gab es außer Menschen keine Raubtiere mehr, weil schon vor langer Zeit alle Tiger zum Zweck der Verwertung in der chinesischen Medizinbranche getötet worden waren. Herr Lee hatte dabei gemischte Gefühle. Einerseits wusste er, dass das eine Schande war, aber andererseits hatte er auch keine Lust, jede Nacht seine Ziegen gegen umherstreifende Tiger zu verteidigen. Bis zu Beginn seiner Krankheit vor etwa einer Woche hatte er fast dreißig Jahre lang Ziegen gehütet, daher kannte er die Berge so gut wie die meisten Leute ihre örtliche Parkanlage.
Er wusste, welche Gebiete man wegen Landminen und Strychnin-Päckchen meiden musste, die die Amerikaner in den 70er Jahren abgeworfen hatten, er kannte die Gebiete, die geräumt waren, wobei die Pioniere wohl ein paar übersehen hatten, wie eine seiner Ziegen vor nur einem Monat erfahren musste. Es war eine Schande, obwohl ihr Kadaver nicht verweste und sie auch ein schnelles Ende gefunden hatte. Ein losgetretener Stein hatte eine Mine zur Explosion gebracht, sie himmelwärts geschossen und dabei den Kopf sauber abgetrennt.
Der Weg war zu weit, den Kadaver nach Hause zu transportieren, also hatte Herr Lee einige Tage in den Bergen verbracht und sich vollgestopft, während sich seine Familie daheim auf dem Hof zu Tode ängstigte.
Herr Lee war ein zufriedener Mann. Er genoss seine Arbeit und das Leben im Freien und hatte sich seit langem mit der Tatsache abgefunden, dass er nie reich sein oder nochmals ins Ausland kommen würde. Deswegen waren er und seine Frau jetzt froh, dass sie nur zwei Kinder hatten. Er liebte sie beide gleichermaßen und wollte nur das Beste für sie, aber er freute sich auch, dass sie nicht mehr zur Schule gingen und deshalb den ganzen Tag auf dem Hof arbeiten konnten, wo seine Frau Kräuter und Gemüse anbaute und drei Schweine und einige Dutzend Hühner hielt.
Herr Lee überlegte, in welchem Maß er durch die zusätzliche Hilfe seinen Hof vergrößern könnte. Vielleicht ein weiteres Dutzend Hühner und ein paar Schweine mehr halten und ein Feld mit Zuckermais anlegen?
Er erwachte aus seinen Fantasien. „Was, wenn es etwas Ernstes ist, Mud? Ich habe bis jetzt nichts gesagt, aber diese Woche bin ich zweimal in Ohnmacht gefallen und zwei oder drei Mal war ich nahe dran.“
„Warum hast du mir das nicht schon vorher erzählt?“
„Naja, ich wollte dir eben keine Angst machen und du hättest sowieso nichts machen können, oder?“
„Nein, ich selber nicht, aber hätte dich schon früher zu deiner Tante geschickt und dich vielleicht überredet, dass du zu einem Arzt gehst.“
„Ach, du kennst mich doch, Mud. Ich hätte gesagt ‚Warten wir mal ab, was Tante dazu sagt, bevor wir das ganze Geld ausgeben.‘ Trotzdem gebe ich zu, dass ich mich ab und zu ganz schön komisch fühle und ich habe schon ein bisschen Angst davor, was Tante morgen sagen wird.“
„Ja, ich auch. Fühlst du dich wirklich so schlecht?“
„Manchmal schon, aber ich habe einfach überhaupt keine Kraft mehr. Ich konnte doch immer zusammen mit den Ziegen rennen und herumspringen, aber jetzt werde ich schon müde, wenn ich ihnen nur zusehe!“
„Irgendetwas stimmt nicht, da bin ich sicher.“
„Schau, Paw.“ Sie verwendete für ihn den fantasielosen Kosenamen, der auf Thailändisch ‚Papa‘ bedeutete. „Die Kinder sind am Tor. Willst du sie jetzt in die Sache einweihen?“
„Nein, du hast recht, warum sollen sie sich jetzt Sorgen machen, aber ich glaube, die Tante wird mich morgen am späten Nachmittag holen lassen. Erzähl ihnen, dass wir zum Abendessen eine Familienkonferenz abhalten und sie dabei sein sollen.
Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett. Ich bin schon wieder müde. Mit Tantes Spucke bin ich eine Weile in Schwung gekommen, aber die Wirkung ist wieder vorbei. Sag ihnen, dass ich in Ordnung bin, aber bitte Den, dass er morgen die Ziegen für mich hinaustreibt, ja? Er muss sie nicht weit weg führen, nur den Fluss hinunter, damit sie ein bisschen Flussgras fressen und Wasser trinken können … ein oder zwei Tage macht ihnen das nichts aus.
Wenn du zehn Minuten Zeit hast, koche mir doch bitte deinen Spezialtee. Den mit Ingwer, Anis und den anderen Zutaten … Das sollte mich etwas aufmöbeln … Oh, und ein paar Melonen- oder Sonnenblumenkerne … vielleicht kannst du Din sagen, dass sie sie für mich knackt?“
„Was ist mit einem Becher Suppe? Es ist deine Lieblingssuppe …“
„Ja, gut, aber wenn ich schlafe, stell sie einfach auf den Tisch und ich trinke sie später kalt.
Hallo, Kinder, ich gehe heute früh ins Bett, aber macht euch keine Sorgen, ich bin schon in Ordnung. Eure Mutter erzählt euch dann die Einzelheiten. Ich glaube, ich habe nur irgendeinen Infekt. Gute Nacht zusammen.“
„Gute Nacht, Papa“, erwiderten alle. Din sah besonders besorgt drein, als sie zuerst Herrn Lees Rückzug beobachteten und sich dann gegenseitig ansahen.
Als Herr Lee in der stillen Dunkelheit lag, fühlte er, wie seine Körperseiten noch stärker pochten, wie ein fauliger Zahn, der nachts im Bett immer schlimmer weh tat. Er war aber so erschöpft, dass er nach kurzer Zeit schon fest schlief, noch bevor man ihm seinen Tee, die Suppe und die Samen brachte.
Draußen in der Dämmerung diskutierten die übrigen Mitglieder der kleinen Familie auf dem großen Tisch Herrn Lees schlimme Lage in gedämpftem Ton, obwohl laute Gespräche auch niemand gehört hätte.
„Wird Papa sterben, Mama?“, fragte Din, den Tränen nahe.
„Nein, meine Liebe, natürlich nicht“, antwortete diese. „Wenigstens … glaube ich es nicht.“