Читать книгу: «Wozu ein Himmel sonst?»

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NORMAN G. DYHRENFURTH

WOZU EIN
HIMMEL
SONST?

Erinnerungen

an meine Zeit

im Himalaya


Speak as they please, what does the mountain care? Ah, but a man’s reach should exceed his grasp Or what’s a heaven for? Robert Browning: Andrea del Sarto

Lass sie nur reden – nimmer rührt’s den Berg. Doch schauen sollt ich weiter als ich greife. Wozu ein Himmel sonst? Übersetzung von Edmund Ruete, 1894

© 2018 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Der Titel und die Texte dieses Buches beruhen auf einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Nachlass von Norman G. Dyhrenfurth.

Umschlaggestaltung, Layout und digitale Gestaltung:

Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Bildnachweis: Das Titelbild (Ama Dablam vom Kloster Tengboche aus gesehen) sowie alle Abbildungen in diesem Buch sind im Zuge der von Norman G. Dyhrenfurth geführten Internationalen Himalaya-Expedition 1955 sowie der ersten Amerikanischen Mount-Everest-Expedition 1963 entstanden und stammen aus dem Archiv des Autors. Die Original-Dias sind unbezeichnet, deswegen wurde auf Bildlegenden verzichtet. Das Porträtbild Seite 141 stammt aus dem Archiv des DAV, München, Foto: Toni Hiebeler (1982).

Lithografie: Artilitho, Trento (I)

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3689-2 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3690-8 (E-Buch)

www.tyrolia-verlag.at

buchverlag@tyrolia.at

Vorwort

Die bedeutendsten Unternehmungen eines Bergsteigers finden in der Regel während der kraftvollen jugendlichen „Sturmjahre“ statt. Norman Dyhrenfurth lebte ein so langes und aktives Leben – er wurde fast 100 Jahre alt –, dass er die Bergsteigerwelt über mehrere Generationen inspirierte und beeinflusste. Damit führte er auch die Spuren seiner Eltern, der Himalaya-Pioniere Günter Oskar und Hettie Dyhrenfurth, in deren Geist fort. Der Höhepunkt seiner Karriere war zweifellos die Organisation und Leitung der ersten amerikanischen Mount-Everest-Expedition 1963, bei der die ersten Amerikaner den Gipfel erreichten.

Persönlich traf ich Norman zum ersten Mal 1999 im Hauptquartier des American Alpine Club in Colorado. Ähnlich wie bei ihm hatte sich auch mein Leben als Bergsteiger um den Mount Everest gedreht. 1985 unternahm ich einen Versuch am direkten Everest-Westgrat. Ein Jahr später gelang mir im Alleingang eine neue Route zum Everest-Nordgipfel (Changtse). 1988 schließlich war ich Teil jenes internationalen Vier-Mann-Teams, dem die Eröffnung einer neuen und bedeutenden Route durch die schwierige und extrem gefährliche 3350 Meter hohe Kangshung-Wand auf der tibetischen Ostseite des Everests gelang. Wir kletterten im lupenreinen Alpinstil – ohne Flaschensauerstoff, ohne Hochträger, ja selbst ohne Funkgeräte. Mein britischer Seilpartner Stephen Venables erreichte den Gipfel, ich selbst den Südgipfel.

Aber was war es gewesen, das mich als kleiner Junge inspiriert hatte, ein Bergsteiger zu werden? – Es waren die Berichte der ersten amerikanischen Everest-Expedition von 1963! Präsident John F. Kennedy ehrte im Rosengarten des Weißen Hauses die Expeditionsmannschaft und überreichte jedem einzelnen Mann, auch den anwesenden Sherpas, die Hubbard-Medaille der National Geographic Society. Es war ein großer Moment und ein symbolischer Akt von bleibender Bedeutung. Norman Dyhrenfurths Everest-Team verkörperte fortan das Bergsteigen in den Vereinigten Staaten und machte es populär.

Norman war ein kräftiger, energischer Mann mit 95 Jahren, als ich ihn 2013 im Rahmen des Bergfilmfestivals in Salzburg traf. Ich hatte damals eine Ausgabe des Klassikers „Zum Dritten Pol“ mit im Gepäck, jenes umfassenden Werks über den Himalaya, das sein Vater verfasst hatte. Norman schrieb mir auf die Titelseite des Buches folgende Worte: „Mein Vater war wahrhaft mein Ideal – nicht mein Idol – er war meine Inspiration!“ Und ich glaube, er würde exakt das Gleiche über seine unerschrockene Mutter sagen. Abgesehen von einigen Sherpafamilien gibt es in der Geschichte des Höhenbergsteigens wohl niemanden, der auf eine derart bedeutende, generationenübergreifende Tradition verweisen kann. Die Geschichte der Familie Dyhrenfurth ist absolut außergewöhnlich und einzigartig.

Als ich Norman damals zu meinem Vortrag „Storm Years on Everest“ begrüßte und ihm den Abend widmete, wurde er vom Publikum mit einem rauschenden Applaus bedacht. Es dankte ihm damit – wie ich – für die vielen Jahre der Inspiration, die er uns gegeben hat und noch vielen Bergsteigern der kommenden Generationen geben wird.

Norman, wir danken Dir für Deine Würde, Deinen Humor, Deine Freundschaft und für Dein bergsteigerisches Vermächtnis.

Sincerely, Ed Webster

Inhalt

SCHWEIZER EVEREST-EXPEDITION, FRÜHJAHR 1952

Göttin-Mutter des Landes

SCHWEIZER EVEREST-EXPEDITION, HERBST 1952

Mingma Dorje aus Namche Bazar

Im Kampf um den Südsattel

Der Weg zurück

Zwischenspiel

INTERNATIONALE HIMALAYA-EXPEDITION 1955

Im Bummelzug durch Indien

Solu Khumbu – Land der Sherpas

Monsun in Khumbu

Der Khumbu-Eisfall

Lhotse: Der erste Angriff

Winterstürme

AMERIKANISCHE EVEREST-EXPEDITION 1963

Mit den Amerikanern zum Everest

John Edgar Breitenbach

Der erste Angriff

Die höchste Traverse

NORMAN G. DYHRENFURTH

Ein Lebensbild von Dr. Michael Bilic


Göttin-Mutter des Landes

Die Sonne sinkt. Im Schatten der Berge liegt das Kloster Tengpoche, die „heilige Wiese“. Dumpf dröhnen die Bässe der Hörner, dann Paukenschlag und Trompeten. Eine monotone, fast unheimliche Musik, die von Talwand und Eisgrat widerhallt. Gestalten sitzen im Dämmerlicht, braune, wetterharte Männer in rotbraunen Kutten: buddhistische Lamas und Mönche. Die Instrumente verstummen. Kaum hörbar das Surren der Gebetsmühlen, der sanfte Klang silberner Glocken. Lippen bewegen sich in stiller Andacht. Himmelwärts richten sich die Augen, zum allerhöchsten Gipfel, der, von den Strahlen der Abendsonne umflutet, in den stahlblauen Äther ragt.

Es ist ein heiliger, überirdischer Berg, den sie verehren, von allen Geheimnissen des Unbekannten und Unzugänglichen umgeben. Symbol der Ewigkeit, Thron der Götter – aber auch Ort des Grauens und der Strafe, umringt von Mysterien und Angstvorstellungen alt wie die Nacht. Wehe dem Sterblichen, der es wagt, in diese menschenfeindliche Welt einzudringen! Wehe dem, der das von Dämonen bewachte Heiligtum der Berggöttin entweiht!

„Om mani padme hum“, murmeln die frommen Männer von Tengpoche, den ruhigen Blick zum höchsten Punkt auf Erden gerichtet: Chomolongma – Göttin-Mutter des Landes.

Immer höher steigen die Schatten. Einer nach dem anderen versinken die Giganten im grauen Licht der Dämmerung. Dann leuchtet nur noch der allerhöchste Gipfel in den letzten Strahlen der Sonne.


Dort, auf 8250 Meter über dem Meeresspiegel, steht das Sturmlager der Schweizer am 27. Mai 1952: ein winziges Zelt am Südostgrat, an der Grenze zwischen Nepal und Tibet. Raymond Lambert, Bergführer aus Genf, und Sherpa-Obmann Tensing Norgay aus Darjeeling sind die einzigen Insassen. Ihre Kameraden sind zum Südsattel abgestiegen, hier oben ist kein Platz für sie. Ohne Luftmatratzen, ohne Schlafsäcke, ja sogar ohne Kocher bedeutet Lager 7 nicht viel mehr als ein Notbiwak. Trotzdem hat Tensing vorgeschlagen, eine Seilschaft solle hier bleiben und am nächsten Tage zum Gipfel vorstoßen.

Die Sonne verschwindet hinter dem Everest; es wird bitterkalt, die Außentemperatur sinkt auf minus 30 Grad Celsius. Von Westen her ziehen dunkle Wolken auf, bald wird der gefürchtete Monsun seinen Einzug halten. Schlotternd vor Kälte sitzen die Gefährten auf dem bloßen Zeltboden. Es gibt fast nichts zu essen, ein bisschen Käse, ein Würstchen, das ist alles. Über einer Kerze wird etwas Schnee geschmolzen. Bei quälendem Durst verstreichen die Stunden nur langsam. An Schlaf ist nicht zu denken. Endlich beginnt es zu dämmern, die beiden einsamen Kämpfer machen sich fertig. Es ist der 28. Mai.

Der Aufstieg über den Südostgrat ist hier, in seinem mittleren Abschnitt, technisch leicht, aber für jeden Schritt braucht es drei Atemzüge. Beim Spuren lösen sich Lambert und Tensing häufig ab und bleiben immer wieder stehen, um sich auszuruhen. Das Wetter verschlechtert sich zusehends, sie kommen nur schrecklich langsam vorwärts. Die ungenügend erprobten Sauerstoffgeräte liefern viel zu wenig von dem lebensspendenden Gas. Die Beine werden schwer wie Blei. Wollen und Denken sind wie gelähmt. Nebelschwaden ziehen um die Grate, es beginnt zu schneien. Nun sind sie bei 8500 Metern, rund 260 Meter unter dem Südgipfel, 350 Meter unter dem höchsten Punkt der Erde. In der letzten Stunde haben sie nur noch 40 Höhenmeter gewonnen. Das hieße also noch neun Stunden bis zum Hauptgipfel, und es ist bereits 11:30 Uhr. Der Wind wird immer stärker, Schnee peitscht das Gesicht. Es ist den Männern klar, dass sie niemals mit dem Leben davonkommen werden, wenn ein wirklicher Sturm losbricht. Sie haben das Menschenmögliche geleistet, aber nun ist es höchste Zeit umzukehren. Das einsame Zelt auf 8250 Meter wird zurückgelassen, die beiden steigen zum Südsattel ab. Sie sind gänzlich „fertig“. Über eine kleine Gegensteigung in der Passmulde kommen sie nicht mehr hinweg. Ihre Kameraden Aubert und Flory müssen sie in die Zelte vom Südsattel-Lager hereinholen. Die beiden waren wirklich an der äußersten Grenze des Möglichen gewesen. Wären Lambert und Tensing noch ein kleines Stück weitergegangen – sie wären nicht mehr lebend heruntergekommen …


Mingma Dorje aus Namche Bazar

Der Kampf um den Everest lief auf Hochtouren. Es war Ende Oktober 1952, und fünf Lager waren bereits errichtet: Lager 1 (Standlager) am Fuße des Khumbu-Eisfalls. Lager 2 auf halber Höhe, Lager 3 auf etwa 6100 Meter am Eingang zum Westbecken, Lager 4 (vorgeschobenes Standlager) auf 6550 Meter fast am Fuße der Everest-Südwestwand und Lager 5 auf etwa 6800 Meter unterhalb der Eiswand, die den direkten Aufstieg zum Südsattel ermöglicht. Unsere Erfolgsaussichten wurden durch außergewöhnliche Kälte, heftige Stürme und immer kürzer werdende Tage beeinträchtigt. Darunter litt nicht nur die körperliche und seelische Verfassung der Mannschaft, auch unsere Umgebung war von diesen Umständen gezeichnet: In großen Höhen waren sämtliche Steilhänge beinahe schneefrei, überall schillerte blankgefegtes Eis blaugrün und abweisend. Das bedeutete eine Unmenge von Stufen, Eishaken und Fixseilen, um den Lastentransport zum Südsattel sicherzustellen. Lager 6 sollte dort auf fast 8000 Meter errichtet werden, und dann noch ein letztes Sturmlager, so hoch wie möglich.

Am 29. Oktober waren Jean Buzio und fünf Sherpas von früh bis spät damit beschäftigt, in harter Arbeit Haken zu schlagen und Seile zu spannen. Mit Feldstecher und Fernrohr verfolgten wir vom Lager 4 aus ihren Fortschritt. Sechs winzige Punkte, wie Ameisen in dieser lebensfeindlichen, fast erdrückenden Bergwelt. Am nächsten Nachmittag kehrten Jean und ein Sherpa zurück, die anderen blieben im Lager 5, wo der ständige Wind die Nächte noch unerfreulicher gestaltete als hier im vorgeschobenen Standlager. Jean sah alt und erschöpft aus. Die psychische und physische Belastung der letzten Tage und Wochen machte sich bemerkbar. Er war selig, die Sicherheit und den Komfort unseres Lagers erreicht zu haben, während wir, die wir ihn mit heißem Tee, Rum und Keksen begrüßten, ihm unsere Anerkennung für die geleistete Tagesarbeit aussprachen.

Tatsächlich war dies das erste Mal seit der Anreise, dass die ganze Mannschaft – mit Ausnahme von Gustave Gross im Lager 5 – beisammen war. Einige waren bisher in den unteren Lagern geblieben, andere waren am Vorstoß zum Südsattel beteiligt, und ich hatte in Neu-Delhi drei Wochen auf die nepalische Bewilligung warten müssen, bis ich endlich der Expedition auf kürzestem Wege von Süden her nacheilen konnte. Der heutige Abend war also für eine kleine Feier wie geschaffen!

Drei Flaschen Cognac hatten wir für die Gesamtdauer der Expedition mit dabei, aber jetzt waren wir darauf erpicht, wenigstens einer den Garaus zu machen. In dieser Höhe machte sich der Alkohol sehr bald bemerkbar. Wir fühlten uns herrlich entspannt und zugleich beschwingt. Altvertraute Lieder in Französisch, Englisch und Schweizerdeutsch füllten das „Tal des Schweigens“. Wir genossen unser Gala-Essen, bestehend aus Pemmikan, Knäckebrot mit Thunfisch, Käse und Nescafé. Leider war die alkoholische Wärme nur von kurzer Dauer, und die grimmige Kälte drang sehr bald durch Zeltwand und Daunenanzug. Also zurück in unsere kleinen Zelte, in die doppelten Schlafsäcke und die allgemein beliebte „Horizontale“. Im bleichen Mondlicht wirkten die umliegenden Bergriesen unsagbar fern und geheimnisvoll, wie aus einem Roman von Jules Verne. In mein Zelt zurückgekehrt, wollte ich zunächst Eintragungen ins Tagebuch machen, aber überwältigende Müdigkeit, Sauerstoffmangel und eiskalte Hände setzten meinem Vorhaben sehr bald ein Ende.

Der nächste Tag war in erster Linie der Privatkorrespondenz gewidmet. Am Nachmittag sollten uns die Postläufer verlassen. Alle zwölf Tage wurden zwei besonders schnelle Läufer nach Jaynagar an der indischen Grenze entsandt. Dort wurden sie durch Assistenten von Pater Niesen, einem amerikanischen Jesuiten und Leiter der St. Xavier’s School in Patna – einer der hervorragendsten Männer, die ich je kennengelernt habe –, empfangen. Pater Niesen nahm sich der äußerst komplexen Probleme unserer ein- und ausgehenden Post mit Herz und Seele an. Dabei bewies er viel List und Fingerspitzengefühl, denn wir hatten mit der „London Times“ einen Exklusivvertrag und deren liebe Konkurrenz trachtete mit allen Mitteln danach, unsere Postläufer abzufangen und zu bestechen! Da der Mount Everest damals noch unbestiegen war, wuchs das Interesse der gesamten Weltpresse von Woche zu Woche. Jedenfalls dauerte der Gewaltmarsch zwischen Standlager, Jaynagar und zurück vier Wochen.

Expeditionsleiter Gabriel Chevalley und Arthur Spöhel verließen uns nach Abgang der Post, um die Nacht im Lager 5 zu verbringen. Am folgenden Tag waren sie an der Reihe, die Arbeit in der Südsattelflanke fortzusetzen.

Nachmittagstee, und bald darauf Abendessen. Bei der herrschenden Kälte war es keine reine Freude, sich allzu lange im Messezelt aufzuhalten. Raymond Lambert, unser bergsteigerischer Leiter, und Sirdar Tensing Norgay zogen sich bald zurück, während Jean Buzio, Gustave Gross, Ernst Reiss und ich im flackernden Licht der winzigen Kerze fröstelnd herumhockten und bis acht Uhr über Berge, Philosophie, Religion und Frauen (allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) diskutierten. Auf 6550 Metern Höhe und derartig spät im Jahr kam es uns wie zwei Uhr morgens vor!

Die Strapazen der vergangenen Wochen hatten uns arg zugesetzt. Auch unsere Nerven waren längst nicht mehr die besten. Als wir ins Freie traten, blickten die Berge auf uns herab in kalter, mörderischer Stille. Jenseits von Eisbruch und Standlager schien uns die dunkle Pyramide des Pumori von der Außenwelt abzuriegeln. Wir kamen uns vor wie Gefangene der höchsten Berge der Erde, ohne jegliche Möglichkeit des Entkommens. Ich dachte an die alten Legenden und die Warnungen der Lamas von Tengpoche … Wir hatten es gewagt, den Frieden und die Stille der Göttin-Mutter Chomolongma zu stören.

Der nächste Tag war kalt, klar und traumhaft schön. Nach dem Frühstück konnten wir bereits mehrere „Ameisen“ erspähen, die sich dem Bergschrund näherten. Während die Kameraden mit Feldstechern Ausschau hielten, filmte ich mit langen Brennweiten und schwerem Stativ. Ausnahmsweise gab es fast keinen Wind, und dank der wärmenden Sonne war das Leben im Lager 4 recht angenehm. Einige unterzogen sich dem ungewöhnlichen Luxus persönlicher Reinigung – ein bemerkenswertes Unterfangen, das in diesen Höhen meistens in Vergessenheit gerät oder sogar streng verpönt ist. Vielleicht würden die kommenden Wochen gar nicht so schlimm werden?

Unser Gemütszustand und die Hoffnung auf einen baldigen Gipfelerfolg erreichten ein neues Hoch: Ein gutes Lager auf dem Südsattel, mit genügend Lebensmitteln, Brennstoff, Sauerstoff und Reserveausrüstung, dann noch ein letztes Sturmlager auf 8500 Meter am Südostgrat – ein einziges Zelt, knapp über einer ungeheuren Eiswand, die sich 4000 Meter tiefer mit dem Kangchung-Gletscher in Tibet vereint – und wir wären in der Lage, den ersten Gipfelangriff zu wagen. Diesmal hatten wir bessere Atmungsgeräte als während der Frühjahrsoffensive. Damals erreichten Lambert und Tensing eine Höhe von nahezu 8600 Meter, knappe 250 Meter unter dem Gipfel! Vielleicht sollten wir versuchen, ein noch höheres Lager auf etwa 8700 Meter zu errichten, dicht unterhalb der Südschulter. Selbst wenn wir nur 30 bis 50 Höhenmeter pro Stunde schaffen könnten, so hätten wir dann genügend Zeit, den Gipfel zu erreichen und mit Sicherheit vor Einbruch der Dunkelheit das höchste Sturmlager zu beziehen. Eine total erschöpfte Gipfelmannschaft, durch Sauerstoffmangel – da die Flaschen sicherlich leer wären – dem Erstickungstod nahe, könnte ein Notbiwak nicht überleben.

Soweit unsere Erwägungen und Gedankengänge an jenem sonnigen Morgen im Lager 4. Wir waren wie ausgewechselt. Ich erinnere mich noch gut an die allgemein gehobene Stimmung und den beinahe euphorischen Optimismus. Die Sherpas waren guter Dinge, beteten und sangen ihre monotonen Lieder; das vertraute Summen der Petroleumkocher, die gemütliche Atmosphäre der zum Trocknen ausgebreiteten Luftmatratzen und Schlafsäcke, die in der ausnahmsweise regungslosen Bergluft dampfenden Zelte, all das gab uns ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit und des Friedens.

Mit einem Schlag änderte sich das Bild: Drei kleine Punkte unter dem Bergschrund bewegten sich merkwürdig schnell nach unten. Wenige Minuten später waren alle im Abstieg begriffen, sogar die Dreier-Partie, die bereits in unmittelbarer Nähe des felsigen Genfer Sporns Seile gespannt hatte. Aus dieser Entfernung konnten wir uns nicht vorstellen, was passiert war. Ein Sturz über den Bergschrund wäre unangenehm, aber unterhalb war der Hang weder sehr steil noch gefährlich. Warum also stieg man ab? Ein kleiner Ausrutscher wäre doch kaum der Rede wert und noch kein Grund, die wichtige Arbeit für den Rest des Tages einzustellen. Weder Feldstecher noch Fernrohr konnten das Rätsel lösen, und Funkgeräte hatten wir keine. Nach einiger Zeit trafen zwei Sherpas im Eilmarsch ein, sie waren völlig außer Atem und übergaben uns einen Zettel von Gabriel: „Drei Sherpas verletzt! Benötige sofort Medikamente!“ Wir warfen eilig das Nötigste zusammen, und schon machten sich die Sherpas wieder auf den Weg. Jean und Gustave schulterten ihre Rucksäcke und starteten wenige Minuten später, während ich ihren Abmarsch filmte. Vielleicht war es die durch Gletschermüdigkeit und den Sauerstoffmangel verursachte Lethargie oder aber die Tatsache, dass aus großer Entfernung alles nur halb so schlimm aussah: Keiner von uns hatte auch nur die leiseste Ahnung, dass die Situation wirklich ernst war.

Am späten Nachmittag kehrten Jean und Gustave zurück. Ihre sonnenverbrannten Gesichter waren müde und eingefallen: „Mingma Dorje ist tot!“

Wir sind zutiefst erschüttert. Ang Dawas Augen füllen sich mit Tränen. Keiner spricht. Alle sind fassungslos. Wie konnte das nur geschehen? Es hatte so harmlos ausgesehen. Dann erfahren wir die Einzelheiten:

Da Gabriel mit dem Dräger-Sauerstoffgerät experimentieren wollte, verließ er Lager 5 mit einiger Verspätung. Arthur, mit Dawa Thondup und Ang Temba am Seil, war bereits ziemlich hoch über dem Bergschrund, gefolgt von zwei Sherpa-Seilschaften von je drei Mann. Gabriel, zwei Sauerstoff-Flaschen am Rücken und die Maske im Gesicht, war mit Da Namgyal und Ang Nima in einer Seilschaft verbunden. Gerade als er im Begriff war, den Bergschrund zu überqueren, hörte er laute Schreie: „Sah’b, Sah’b!“ Hoch oben in der Lhotse-Steilrinne hatte sich eine kleine Eislawine gelöst. Riesige Eisbrocken stürzten auf sie zu, es blieb keine Zeit zum Ausweichen. Sie pressten sich gegen den Steilhang und hofften auf ein Wunder. Ein gewaltiger Klumpen traf Gabriel am Rücken, aber die Sauerstoff-Flaschen schützten ihn vor ernsten Verletzungen. Da Namgyal erhielt einen Treffer und verlor fast das Bewusstsein. Die drei oberen Seilschaften hingen regungslos im Eis. Mingma Dorje wurde von seinen Kameraden am straffen Seil gehalten. Gabriel beeilte sich, zu ihm zu stoßen, musste aber zunächst eine diagonale Stufenreihe schlagen.

Mingma Dorjes Gesicht war blutüberströmt, seine Sonnenbrille zerschmettert. Er stöhnte und kam allmählich zu Bewusstsein, aber er konnte sich nicht aufrichten. Mit Hilfe eines Flaschenzuges gelang es, den Schwerverletzten über eine heikle Traverse zum fixen Seil hinüberzuziehen. Dann wurde er langsam und vorsichtig zum Bergschrund heruntergelassen. Alle waren ziemlich dicht beisammen, da verlor plötzlich die Seilschaft Aila, Da Norbu und Mingma Sitar ihren Halt und glitt immer schneller den steilen Lawinenkegel hinab. 200 Meter tiefer blieben sie liegen, jenseits einer kleinen Mulde.

Die vier Verletzten wurden auf Luftmatratzen gelegt und in Decken eingewickelt. Mingma Dorje hatte Schnittwunden und Prellungen im Gesicht, mehrere gebrochene Rippen und innere Verletzungen; Mingma Sitar hatte einen Schlüsselbeinbruch erlitten sowie Prellungen am Oberschenkel und Rippenbrüche; Ailas Gesicht war blutüberströmt und kaum zu erkennen; Da Norbu hatte glücklicherweise nur unbedeutende Prellungen. Wie durch ein Wunder waren Arthur und seine zwei Sherpas unversehrt davongekommen! Sie waren schon fast am Beginn der felsigen Rippe des Genfer Sporns, als die riesigen Eisblöcke rechts an ihnen vorbeisausten …

Wenige Stunden später hatte Gabriel die von uns heraufgesandten Medikamente erhalten und konnte Mingma Dorje und Mingma Sitar, die am schwersten verletzt waren, Pantopon verabreichen. Mingma Dorje erhielt auch noch Coramin. Er litt unter starkem Schock und wälzte sich wie von Sinnen von Seite zu Seite. Nach einiger Zeit wurde er etwas ruhiger, dann riss er plötzlich das Zelt auf, bäumte sich auf mit letzter, konvulsiver Kraft und fiel tot nach hintenüber. Mingma Dorje war Vater von drei Kindern, ein erstklassiger Sherpa und prachtvoller Kamerad …

Wir waren wie gelähmt, als wir uns im Messezelt versammelten, vor allem Tensing, der seiner Sherpa-Mannschaft gegenüber ein besonders großes Verantwortungsgefühl empfand. Wir hatten nicht nur einen unserer besten Leute verloren, nun waren wir auch mit einem neuen Problem konfrontiert: Wie stand es jetzt mit unserer Anstiegsroute zum Südsattel, die wir bisher zwar als sehr lang und anstrengend betrachteten, hingegen für objektiv sicher hielten? Sollten wir tatsächlich versuchen, die restlichen Männer dazu zu überreden, schwere Lasten durch diese Gefahrenzone zu tragen? Wir beschlossen, am nächsten Tag in aller Frühe nach Lager 5 aufzusteigen, um die Lage mit Gabriel und Arthur zu besprechen. Außerdem mussten die Verletzten heruntergebracht werden. Mingma Dorje sollte auf einer kleinen Moräne begraben werden, auf halber Höhe zwischen den Lagern.

Welch ein deprimierendes Nachtmahl! Wie Elendshäufchen saßen wir um die flackernde Kerze, jeder machte sich Gedanken, fragte sich, ob die heutigen Ereignisse nicht das Ende unserer großen Hoffnungen bedeuteten. Falls die Sherpas allzu demoralisiert sein sollten, um weiterzukämpfen, wären wir erledigt! Alle waren sich dessen bewusst, aber es wurde kaum gesprochen. Die große Stille der Bergwelt war bedrückend und kaum ertragbar. Stumm sahen wir zu, wie Ernst aus einem Kistendeckel ein Kreuz anfertigte und eine schlichte Inschrift einkerbte. Jeder war mit seinen Gedanken allein. Raymond und Tensing verließen als Erste das Messezelt.

Wir saßen noch einige Zeit vor Kälte zitternd um den Kerzenstummel und sprachen von der Heimat. Kurz nach acht suchten auch wir unsere Zelte auf. Die Nacht schien ungewöhnlich kalt und die riesigen Berge glitzerten im grellen Mondlicht. Das tückische Blankeis unserer Anstiegsroute war gut erkennbar, aber zu dieser Stunde sah alles eher harmlos und friedlich aus. Trotzdem machte ich mir große Sorgen. Die größten Schwierigkeiten standen uns noch bevor, und sechs Leute waren bereits ausgeschieden: Zwei Träger starben infolge Kälte und Erschöpfung beim Anmarsch, und nun war ein Sherpa tot und drei andere schwer verletzt. Wie lange konnten wir unter diesen Umständen weitermachen?

Im Morgengrauen stiegen wir am 1. November zum Lager 5 auf. Mingma Dorjes Leichnam wurde aus dem Zelt geholt und in Säcke gewickelt. Dann begann die melancholische Prozession unter einem schwarzblauen Himmel. Jeder Sah’b und alle mehr oder weniger einsatzfähigen Sherpas nahmen teil. Am Bestimmungsort angekommen, gruben die Männer im beinharten Moränenschotter ein flaches Grab. Schweigend sahen wir zu, wie der Tote in seine letzte Ruhestätte gelegt wurde. Er war uns allen nahegestanden, und wir würden ihn sehr vermissen. Unser einfaches Holzkreuz wurde am Fußende eingegraben. Eine Lage von schweren Steinplatten und Felsbrocken, dann eine obere Schicht von kleinen, weißen Steinen, wie es in Sherpafamilien der Brauch ist: Sirdar Tensing Norgay zelebrierte die Totenfeier nach buddhistischem Ritus. Es war eine tief bewegende Szene, diese Gedenkstunde im Schatten des Gipfels der Welt. Chomolongma, Göttin-Mutter des Landes, hatte einen ihrer Söhne zu sich genommen: Mingma Dorje aus Namche Bazar.

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9783702236908
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