Читать книгу: «Raban und Röiven Insel der Elfen», страница 4
Röivens Sorgen
Raban wird von einem Sonnenstrahl geweckt, der ihn in der Nase kitzelt. Der Junge lächelt und öffnet die Augen. Enttäuscht stellt er fest, dass es nicht Ilea ist, die ihm mit einem Grashalm spielerisch durchs Gesicht fährt, sondern die Sonne. Dabei hat er soeben noch von dem Mädchen geträumt, das sich gestern Abend mit einem erneuten Kuss, diesmal nur kurz auf seine Lippen gehaucht, von ihm verabschiedete. Er schließt die Augen, doch der süße Traum ist weg. Da die Vorhänge im Wohnzimmer nicht zugezogen sind, kann er den schönen Sommertag erahnen, der sich mit einem blauen, wolkenlosen Himmel ankündigt. Leise seufzend erhebt er sich von dem Sofa und bereitet das Frühstück in der Küche. Er ist gerade damit fertig, als seine Eltern und anschließend auch sein Opa, erscheinen. Gemeinsam lassen sie sich die leckeren Speisen schmecken. Nach einem kurzen Blick in die Zeitung verabschiedet sich sein Dad. Der Junge überfliegt die Schlagzeilen, während sich sein Großvater mehr Zeit dafür nimmt. Als er keine außergewöhnlichen Vorkommnisse entdecken kann, atmet Raban unbewusst auf. Insgeheim hatte er befürchtet, einen Hinweis auf eine neue Bedrohung zu finden. Dass er beim Lesen der Zeitung immer wieder so ein mulmiges Gefühl bekommt, hängt wohl mit den Ereignissen der letzten zwei Jahre zusammen. Doch die Dubharan oder andere Zauberer scheinen tatsächlich nicht mehr zu existieren.
»Die letzte Auseinandersetzung mit einem feindlichen Magier war im Herbst. Das ist schon fast ein dreiviertel Jahr her«, überlegt der Junge. »Obwohl das jedes Mal eine aufregende Zeit war, in der Röiven und ich Gefahren bestehen mussten, fehlt mir ein zu lösendes Rätsel ein bisschen. – Hm. Röiven könnte eine neue Aufgabe auch gebrauchen, wenn ich Zoe richtig verstanden habe.«
Der Junge legt seinen Teil der Zeitung zusammen und schiebt ihn zu Finnegan hinüber.
»Opa, kannst du mir einen Tipp geben, was ich gemeinsam mit Röiven unternehmen könnte? Er umsorgt seine Kinder viel zu sehr und wird sich noch damit überfordern, wenn ich ihn nicht auf andere Gedanken bringe.«
»Was ist los? Dein Freund umsorgt seine Brut? Dabei heißt es doch immer »Rabeneltern«, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass sich jemand nicht, oder nicht gut, um seine Kinder kümmert. Ich weiß, dass diese Bezeichnung entstanden ist, weil junge Raben nach dem Verlassen des Nestes noch sehr unbeholfen wirken. Daher schlussfolgerten viele Menschen, Raben seien schlechte Eltern und würden ihre Jungen vorzeitig im Stich lassen.«
»Das trifft auf keinen Raben und am wenigsten auf Röiven zu. Ich glaube, mein Freund übertreibt die Fürsorge. Die jungen Vögel können sich bereits sehr gut selbst versorgen und fliegen auch schon ausgezeichnet. – Also. Hast du eine Idee? Seine Partnerin, Zoe, macht sich ebenfalls Sorgen.« In diesem Moment meldet sich Ciana, die auf dem Sofa sitzend noch eine Tasse Tee trinkt.
»Wie wäre es, wenn du mit ihm noch einmal die Orte aufsuchst, an denen ihr vor zwei Jahren … Du schüttelst den Kopf und blickst skeptisch? Warum nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob alle Orte eine positive Erinnerung bei ihm hervorrufen. An den ersten Stellen waren wir nicht erfolgreich. Wir konnten nicht verhindern, dass es Bearach gelang, immer mehr Kolkraben zu töten. Das weckt vermutlich traurige Erinnerungen oder bestärkt ihn noch mehr in der Überzeugung, die Kinder nur durch seine Nähe vor Unheil bewahren zu können.«
»Aber es muss doch auch Orte geben, die mit positiven Erinnerungen verbunden sind.«
»Das Tal, in dem wir die ersten Raben überzeugen konnten, Asyl im geheimen Wald zu nehmen. Hm. Von dort stammt Zoe, mit der zusammen er schon oft dort gewesen ist.«
»Was ist mit dem Museum?«, wirft der Großvater ein.
»Du meinst, wo unser ehemaliger Gegner Bearach jetzt als »Perseus mit dem Haupt der Medusa« ausgestellt wird? Dort bin ich mit ihm an einem frühen Morgen gewesen, als das Museum noch geschlossen war. Wir wollten uns vergewissern, ob Morgana das Haupt der Medusa, oder möglicherweise sogar Bearach, geholt hat, um sie wieder zum Leben zu erwecken.«
»Genau. Wäre das nicht ein gutes Beispiel für eure erfolgreiche Zusammenarbeit im Kampf gegen das Böse?«
»Ja, schon. Ich könnte … Ich werde ihn fragen, wohin wir gemeinsam gehen sollen, um einfach mal auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht klappt es ja und ich reiße ihn so aus der eingefahrenen Spur. Ich danke euch.
Wartet nicht auf mich. Es kann sein, dass ich mehrere Tage mit Röiven unterwegs bin, auf unseren Spuren von damals.« Der Junge grinst die beiden an, umarmt sie und verlässt den Raum. Von seinem Zimmer aus nutzt er den magischen Sprung und begrüßt gleich darauf die Wachen am Eingang zum geheimen Wald.
Unter der Linde stehend ruft er gedanklich seinen Freund.
»Röiven, wo bist du. Komm bitte zu eurem Baum, ich möchte mit dir sprechen!«
Es erfolgt keine Antwort, die der Junge auch nicht sofort erwartet hat.
»Röiven. Ich bin‘s, Raban. Komm zu eurem Baum.«
Nichts.
»Du musst mich doch hören. Warum ant … Dir geht es doch gut?«, fragt der Junge sofort erschrocken. »Ist dir etwas passiert? RÖIVEN!«
»Krch. Ich …« Stille!
»Röiven. Wo bist du?«
»Ich … ich weiß nicht …«
»Öffne deine Sinne, lass mich durch deine Augen sehen.«
Keine Antwort. Trotzdem konzentriert sich der Junge mit geschlossenen Augen und versucht, durch die seines Freundes zu schauen. Aber alles bleibt schwarz.
»Röiven, öffne deine Augen!«, fleht Raban. Er wartet mit pochendem Herzen. Langsam wird es etwas heller, aber erkennen kann er immer noch nichts.
»RÖIVEN! Klappe deine Augendeckel auf und zu und lasse sie dann etwas länger offen.« Tatsächlich. Es wird hell, dann dunkel und erneut hell. Raban strengt sich an. Was ist das, was er dort sieht? Ein paar grüne Striche, die nicht genau zu erkennen sind, laufen quer über das Bild, das nun wieder verschwindet. Sollten das Grashalme sein? Dann müsste sein Freund ja auf dem Boden liegen.
»Röiven, liegst du auf der Erde? Versuche noch einmal, die Augen länger zu öffnen und einen Gegenstand zu fixieren.« Raban wartet. Es dauert etwas, aber dann wird es wieder hell. Die Grashalme werden unscharf, dafür erkennt der Junge nun eine alte Eiche. Der Knabe hofft, dass diese optischen Informationen für einen magischen Sprung ausreichend sind und ruft entschlossen: »Portaro!«
Er steht nun auf einem Bergrücken mit Blick auf einen alten, knorrigen Baum. Viele der Äste sind unbelaubt, aber nicht alle. An vereinzelten Stellen ist dunkelgrünes Blattwerk zu sehen, dass der Baum noch einmal hervorgetrieben hat. Doch wo ist jetzt Röiven?
»Krch!«, lässt ihn herumfahren. Dort liegt sein Freund auf dem Boden. Sofort fällt er auf die Knie und untersucht ihn. Eine Verletzung kann er nicht feststellen. Er dreht ihn um und horcht nach dem Herzschlag. Erleichtert atmet der Junge auf und breitet seine Hände über den Freund.
»Beatha! Beatha! BEATHA!«
Raban spürt ein leichtes Kribbeln an den Handflächen. Dann beginnt ein kaum sichtbares Licht von seinen Händen zum Kolkraben zu fließen. Das golden schimmernde Gleißen wird immer stärker. Die kleine Brust des Vogels beginnt sich etwas kräftiger zu heben und zu senken, wie der Junge erfreut feststellt. Raban beobachtet das helle Licht noch eine kurze Zeit, bevor er das Übertragen von Lebensenergie abbricht.
Er beugt sich hinab und horcht erneut nach dem Herzschlag. Dieser klingt für ihn zwar nicht normal, eher unregelmäßig, aber immerhin kräftiger als eben. Da er im Moment außer Abwarten nichts weiter tun kann, blickt er sich um.
»Wo sind wir und was wollte mein Freund hier?«, grübelt er. »Und was vielleicht noch wichtiger ist, warum befindet er sich in diesem Zustand? Wenn ich das richtig beurteilen kann, war er kurz davor zu sterben.« Sorgenvoll betrachtet er seinen Freund. Als er vorhin erneut nach dessen Herzschlag gehorcht hatte, fühlte er sofort die Knochen des Brustkorbs. Sollte Ilea Recht haben, und Röiven ist abgemagert? Dann vernimmt er einen tiefen Atemzug, mit dem rasselnd Luft in den kleinen Körper gesogen wird. Die Augendeckel des schwarzen Vogels flattern und öffnen sich langsam. Die dunklen Augen blicken verwirrt hin und her, dann bleiben sie auf dem Jungen haften.
»Ra… ban. Me… Fr… nd …”«
»Ruhig. Erhole dich erst.« Als die Augendeckel wieder zufallen, breitet der Junge seine Hände vorsichtshalber noch einmal über den Vogel und überträgt mit »Beatha« erneut Lebensenergie. Raban setzt sich abwartend ins Gras und lässt seinen Blick umherschweifen.
Plötzlich regt sich der Kolkrabe, dreht sich um und hockt neben dem Jungen.
»Hättest du etwas Schokolade für mich?«, fragt er mit schräg gelegtem Kopf.
»Aber klaro.« Ein großer Haufen Schokobrocken erscheint vor dem Kolkraben, der sich sofort das erste Stück schnappt. Raban betrachtet den schwarzen Vogel, der einen Brocken nach dem anderen hinunterschlingt. Es dauert nicht lange, und alle Stückchen sind verschwunden.
»Ups«, knarzt Röiven plötzlich mit leicht gesenktem Kopf. »Jetzt habe ich dir alles weggegessen. Kannst du noch ein paar herbeizaubern?« Er klappert mit den Augendeckeln und schaut mit schräg gehaltenem Kopf zu dem Jungen hinauf. »Du weißt ja, dass meine Versuche, mir selbst welche herbeizuzaubern, fehlschlagen.« Dieser lacht und erwidert.
»Stimmt. Du hast es einmal versucht. Deine »Schokolade« schmeckte aber keineswegs wie echte. Sie erinnerte mich ein wenig an …«
»Du musst so alte Geschichten nicht wieder hervorholen. Ich weiß auch, dass die Brocken ungenießbar waren. Ihr Geschmack …«
»… erinnerte an eingeschlafene Füße, jedenfalls mich. Es ist mir immer noch ein Rätsel, warum dir das misslingt. Vielleicht konzentrierst du dich nicht genug, du wirst durch übliche Fithichnahrung abgelenkt oder … Aber egal. Hier sind noch ein paar Stücke, falls DU noch Appetit haben solltest. Ich möchte nichts essen. Ich habe gerade erst gefrühstückt. Wenn es dir möglich ist, könntest du mir jetzt erzählen, wo wir hier sind und warum du am Ende deiner Kräfte im Gras liegst.«
»Ja, also. Das ist eine etwas längere Geschichte. Sie beginnt eigentlich, als ich noch nicht geschlüpft war und in einem Ei lebte.«
»So weit zurück musst du sicher nicht gehen«, versucht Raban, eine offenbar sehr lange Geschichte abzukürzen.
»Das war natürlich scherzhaft gemeint. Da es aber um mich geht, liegt dort der Anfang. – Um das jetzt kurz zu machen: Meine übergroße Sorge um die Kinder ist wohl die Ursache.«
»Aha. Kannst du noch ein bisschen genauer werden?«
»Zoe hat mir immer wieder gesagt, dass ich um die Kinder zu fürsorglich bemüht bin. Bei Ainoa hat sie sozusagen noch ein Auge zugedrückt, da wir sie ja beinahe verloren hätten. Bei unseren in diesem Jahr geschlüpften fünf Kindern verlangte sie aber vorgestern, dass ich sie endlich sich selbst überlassen solle. Das war, nachdem ich dich und Ilea unter der Linde verlassen hatte. Die haben sich vor uns versteckt, so dass wir sie nicht finden konnten. Zoe hat mich darauf hingewiesen, dass sie nun für sich selbst verantwortlich sind und mich aufgefordert, sie zu ihrer Familie im Norden zu begleiten. Sie wolle sie wiedersehen, da sie schon lange nicht mehr dort gewesen ist. Wenn ich unsere Kinder weiterhin zu sehr umsorge, enge ich sie derart ein, dass sie uns später nicht mehr besuchen kommen werden. Wenn ich mich dagegen so verhalte, wie ihre Eltern es bei ihr gemacht haben, würden unsere Kinder uns auch später noch gerne besuchen. Da ich nicht wusste, was richtig ist, zögerte ich zu lange. Mit einem ärgerlichen Knarzen flog Zoe davon. Da ich weiß, wo ich sie finde, ließ ich sie fliegen. Meine Kinder wollte ich wenigsten noch einmal sehen, bevor ich sie davonziehen lasse. Seitdem habe ich sie ununterbrochen gesucht, ohne Erfolg zu haben. Ich habe kein Futter zu mir genommen, damit ich keine Zeit verliere. Jetzt sorge ich mich sehr um meine Kinder. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!«
Ein Hilferuf
Raban muss seine ganze Überredungskunst anwenden, um Röiven daran zu hindern, erneut nach seinen Kindern zu suchen. Als sein Freund trotzdem sofort wieder davonfliegen will, kann er sich nicht zurückhalten.
»Du hast soeben noch völlig ausgepumpt am Boden gelegen, konntest kaum deine Augen offenhalten, torkelst sogar jetzt noch beim Gehen und willst nach ihnen suchen? Das ist, verzeih bitte meine Ausdrucksweise, völlig schwachsinnig von dir. Und dabei heißt es, Fithich seien kluge Vögel. Ihr geltet als ebenso weise und klug wie Eulen. Das kann aber nicht stimmen, wenn ich deinen Starrsinn bedenke. Solltest du dich jetzt in die Luft erheben, werde ich dich vor dir selbst schützen und mit »Torpor« daran hindern.«
»Du willst was?«, knarzt der schwarze Vogel aufgeregt und plustert sich auf. »Mich mit einem Zauber lähmen? Mich, deinen Meister, von dem du nicht nur die Magie … Ähem, hast du gerade gesagt, wir Fithich gelten als genauso klug wie Eulen?« Röiven steht abrupt still, und versucht in der Miene seines Freundes zu lesen. »Meinst du das wirklich, oder willst du mich nur auf andere Gedanken bringen?«
»Fithich spielen weltweit eine Rolle in Sagen und Märchen. Demnach haben alte Götter und Könige ihre Weisheit, Intelligenz und Flugfähigkeit genutzt. Schon bei den Germanen und anderen nordischen Völkern wurden sie hochverehrt. Fithich symbolisierten in der nordischen Mythologie die Weisheit. Eulen standen dagegen in der griechischen Mythologie für Weisheit und Klugheit. Also könnte man sagen, ihr seid ebenbürtig. Wissenschaftler haben inzwischen bewiesen, dass ihr zusammen mit Krähen die klügsten Vögel, also sogar schlauer als Eulen seid.«
»Auf uns Fithich trifft das zu, das habe ich eigentlich schon immer gewusst.« Röiven beginnt hin und her zu stolzieren, um dann wieder innezuhalten. »Aber die Intelligenz des Lumpenpacks soll ebenso groß wie unsere sein? Da muss sich ein Fehler eingeschlichen haben. Ha, ha, ha.«
»Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, das mit den Krähen stimmt. Das habe ich dir bereits im letzten Jahr gesagt. Doch was nutzt die größte Klugheit, wenn sie vom Eigensinn verdrängt wird?«
»Wovon wird sie verdrängt?«
»Von Starrsinn, wenn du das besser verstehst. Das bedeutet, du hast dich in etwas verrannt und willst, entgegen besserem Wissen, nicht davon lassen.«
»Hm …«
»Was, hm?«
»Ja nun …«
»Ja?«
»Dräng mich doch nicht so!«
»Ich treibe dich nicht.«
»Doch, das tust du.«
»Wenn du das so nennen willst. – Aber, wie entscheidest du dich?«
»Was soll ich entscheiden?«
»R Ö I V E N!«
»Warum betonst du derart meinen Namen? Ist doch schon längst entschieden.«
»Und?«
»Jo.«
»Was soll das jetzt heißen?«
»Jo. Wir Fithich sind die klügsten Vögel.«
»Darum geht es doch gar nicht!«
»Nicht?«
»Nein. Bleibst du, oder willst du deinen Kindern unsinnigerweise hinterherfliegen?«
»Ach das! Unsinnig ist das keinesfalls.«
»Nun?«
»Da ich mit einer überragenden Klugheit ausgestattet bin, was sogar eure Wissenschaftler bestätigen, werde ich natür…«
Plötzlich erschallt in der Ferne ein Schrei, der schrill in ihren Köpfen widerhallt, um dann langgezogen zu verklingen. Obwohl nichts zu verstehen ist, deutet der Ruf auf höchste Not hin.
»Was war das?«
»Meine Kinder!«, knarzt Röiven und erhebt sich, um in die Richtung zu fliegen, aus der der Schrei kam. Raban hat sich ebenfalls erhoben und rennt dem Vogel hinterher. Es geht auf dem Bergrücken an der großen Eiche vorbei. Zu Fuß vermag der Junge den Raben natürlich nicht einzuholen, obwohl dessen Flug nicht ganz so schnell wie sonst ist, was eine Folge seiner Erschöpfung ist. Um mithalten zu können, nutzt Raban wiederholt den magischen Sprung. Trotzdem ist ihm der Kolkrabe voraus. Jetzt geht der Bergkamm in einen sich windenden Pfad über, der hangabwärts führt. Es stehen nur vereinzelte Bäume auf dem mit kargem Gras bewachsenen Hang. Konnte der Schall deshalb bis zu ihnen gelangen? Der Junge schüttelt den Kopf. Das ist jetzt unerheblich, da offenbar jemand Hilfe benötigt. Doch zu sehen ist niemand und ein weiterer Schrei erschallt nicht.
»Siehst du etwas, mein Freund?«, sendet Raban.
»Bisher nicht. Halt, sollte das …«, knarzt die Antwort.
»Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«
»Im Tal, hinter den drei Bäumen. Dort steht ein Haus.«
»Ich sehe dich!« Raban hat zwei magische Sprünge ausgeführt und erblickt nun ein altes Haus, das sich hinter den drei großen Fichten scheinbar auf den Boden duckt. Dieser Eindruck drängt sich sofort auf, da das mit Reet gedeckte Dach weit herunter reicht. Es ist stark gewellt und an vielen Stellen mit dunklem Moos bewachsen. Die Außenwände, soweit sie unter dem herabreichenden Dach zu erkennen sind, sind mit einem gelblich grauen Putz versehen. Die Fenster besitzen Sprossen, die Scheiben wirken stumpf. Das Haus macht den Eindruck, unbewohnt und lange nicht genutzt worden zu sein. Woher kam aber der Schrei? Der Junge blickt sich suchend um.
»Hast du etwas entdeckt?«, fragt er gedanklich seinen Freund, der nicht mehr in der Luft schwebt.
»Komm schnell und hilf mir«, antwortet dieser sofort.
»Wo bist du denn? Du warst soeben noch über dem Haus, aber jetzt?«
»Komm ums Haus herum, und beeil dich!«
Raban schüttelt verwundert den Kopf, folgt aber der Anweisung. Er rennt an der Längsseite vorbei, eine niedrige Eingangstür registrierend, die, schief in den Angeln hängend, offensteht. Der Junge blickt aber nicht hinein, sondern biegt kurz darauf um die Hausecke. Bei dem sich ihm bietenden Anblick steht er abrupt still. Das währt nur kurz, dann hastet er zu seinem Freund.
Der Kolkrabe hockt mit schräg gelegtem Kopf vor einem leblosen Körper auf der Erde und murmelt etwas, woraufhin ein leicht goldenes Flirren von ihm zu der Gestalt hinüberströmt. Raban lässt sich ebenfalls nieder und breitet zitternd seine Hände aus.
»Beatha! Beatha! Beatha!«, fordert er mit kräftiger Stimme und lässt gleich darauf ebenfalls Lebensenergie fließen. Nach einigen Momenten unterbrechen beide diesen Vorgang. Der Junge beugt sich mit bangem Blick vor, um den Puls zu ertasten. Er ist aber zu aufgeregt, um an dem schlaffen Handgelenk einen Pulsschlag wahrnehmen zu können. Also beugt er sich entschlossen über den leblosen Körper, öffnet den grünen Umhang und legt seinen Kopf dorthin, wo er den Herzschlag hören sollte. Er hält den Atem an und lauscht.
»Nun. Wie sieht es aus?«
»Bitte Ruhe. Ich bin nicht sicher.« Raban hält den Atem an. Hört er das Rauschen seines eigenen Blutes oder könnte das …? Ja, das ist eindeutig ein schwacher Puls zu vernehmen!
»Er lebt. Aber, was macht er hier und wer hat ihn in diesen Zustand versetzt?« Raban richtet sich wieder auf und starrt abwechselnd auf den vor ihm liegenden Körper und auf den Raben.
»Das wird er uns sagen, sobald es ihm besser geht«, versucht der schwarze Vogel, seinen aufgeregten Freund zu beruhigen. Er klappert mit den Augendeckeln und schaut auf den reglosen Mann. Plötzlich fährt Raban hoch, als er eine böse Ahnung hat. Er blickt suchend um sich.
»Sollten das …? Das müssen feindliche Zauberer … Sgiath! Protego!« Raban hat um sie alle einen maximalen, magischen Schutz errichtet. Sein Blick streift suchend über die Umgebung. »Ich werde vorsichtshalber noch einen Heilungszauber sprechen. Vielleicht hat er eine innere Verletzung erlitten. Wenn er aber von einem dunklen Fluch getroffen wurde, hilft das leider nicht.« Der Junge breitet seine Hände erneut über den Mann und spricht dreimal »Salvus«. Sofort fließt ein goldenes Gleißen von ihm zu dem leblosen Körper, das kurz darauf erlischt. Jetzt hebt sich dessen Brust und ein einziger, leichter Seufzer ist zu hören. Das Gesicht hat immer noch eine ungesunde Färbung. Ob doch ein Fluch die Ursache sein sollte? Wenn das so ist, wie konnte er dann einen Hilferuf senden? Hat er ihn kommen sehen, aber nicht abwehren können?
»Hilferufe erfolgen manchmal unbewusst. Vielleicht war das auch ein gedanklicher Ruf nach uns«, erwidert Röiven, der die Überlegungen seines Freundes mitbekommen hat. »Ich werde vorsichtshalber einen uralten Zauber versuchen, den ich von Elfrun, meiner Großmutter, gelernt habe. Ich muss mich konzentrieren. Halte du währenddessen die Umgebung im Blick.« Der schwarze Vogel ist kurze Zeit still, während der er seine Augendeckel geschlossen hält. Als er sie öffnet, leuchten sie zuversichtlich. Er murmelt knarzend einige Worte, die er offenbar dreimal wiederholt. Raban meint »Cum ri buidseachd« zu verstehen und fragt, als Röiven endet:
»Der Spruch hilft wirklich gegen einen dunklen Fluch? In der Geschichte über Eila haben die Elfen im geheimen Wald Erdmuthe zu heilen versucht, nachdem sie von einem derartigen Zauber getroffen worden war. Wenn sie auch diesen Spruch nutzten, müsste ich ihn doch kennen, oder?«
»Das kann ich nicht sagen. Damals war ich noch nicht geschlüpft. Da ich ihn von meiner Großmutter habe, muss der Spruch nicht unbedingt den Elfen bekannt sein. Vermutlich ist er das auch nicht, was erklären würde, warum du ihn nicht mit dem Wissen der Elfen übertragen bekommen hast. – Ich hoffe, dass der Spruch tatsächlich hilft. Soweit ich mich erinnere, stärkt er die Abwehrkräfte eines Zauberers gegen einen dunklen Fluch. Je nachdem, was das für ein Zauberspruch war, kann er auch versagen. Aber, hoffen wir das Beste!«
»Etwas anderes bleibt uns wohl nicht übrig!« Raban ist skeptisch, da er keine Reaktion auf den Zauberspruch erkennen kann. Er beugt sich erneut hinab, horcht nach dem Herzschlag und richtet sich wieder auf. »Sein Herz arbeitet, auch wenn es unregelmäßig schlägt. Ich meine aber, dass es etwas kräftiger klingt.« In diesem Moment sehen sie, wie sich die Augen hinter den geschlossenen Lidern heftig hin und her bewegen. »Jetzt sollten wir besser von hier verschwinden. Womöglich lauern die, die ihm das angetan haben, noch hier!«
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