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Elduria
Die Entscheidung
Fantasy-Roman
Norbert Wibben
Elduria
Die Entscheidung
Elduria, Band 3
Für Monika und Monika,
die besten Lektorinnen!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn – …
Übersichtskarte
Auf dem Weg nach Daheim
In Atropaias Haus
Zur Dracheninsel und neue Zauber
Geht Drakonias Plan auf?
Erneute Planänderung
Eine Wiederholung?
Igoreth und Ingbert
Bei den Nordelfen
In der Elfenfestung
Truppenbewegungen und ein Geheimnis
Enttäuschung
Täuschungen
Anwendung neuer Zauber
Auf in den Norden
In wichtiger Mission
Nordelfen
Elduria und Merion
Rubinias Tochter
In Serengard
Ein Fehlschlag
Die Rebellion
Entscheidung
Unerwartete Hilfe
Die Befreiungsaktion
Angriff auf den Norden
Ende des Aufstandes
Auf der Dracheninsel
Neue Überlegungen
Auf nach Grimgard
Creulon
Durch unterirdische Gänge
Eingekerkert!
Drachen kommen
Belagerung
Die Entscheidung
Zaubersprüche
Danksagung
Übersichtskarte
Insel der Drachen und Elduria.
Auf dem Weg nach Daheim
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Ein kurzer Rückblick.
Runa nutzte den magischen Sprung, um Creulon und Befire in den Felsengängen Grimgards zu entkommen. Wegen der verwobenen Zauber auf dem Gebiet der Triqueta war der Ortswechsel nicht direkt bis zu ihrem Heim im Elfenwald möglich. Zusammen mit Atropaia und Dragon gelangte sie lediglich etwas außerhalb von Grimgard zu dem Wäldchen mit den verkrüppelten Kiefern. Sobald sie dort ankamen, richtete sie ihren Blick dorthin, wo sie Drakonias Festung vermutete. Die war jedoch nicht zu sehen, da die Bäume die Sicht behinderten.
»Ich muss mich dringend um Paia kümmern«, wendete sich das Mädchen an den Drachen. »Verwandle dich in einen Kolkraben und halte Ausschau, ob bereits Verfolger auf unserer Spur sind!«
Der Junge wollte zuerst widersprechen, dass er das genauso gut in seiner Drachengestalt könne. Doch dann wurde ihm klar, dass er damit nur wachsame Augen auf sich ziehen und damit ihre Position verraten würde. Als Rabenvogel fiel er dagegen nicht auf, deshalb schwang sich Dragon in der geforderten Gestalt in die Lüfte. Über gedanklichen Kontakt gab er Entwarnung.
»Bisher scheint in der Burganlage alles ruhig zu sein. Creulon wird ohne Zweifel mitbekommen haben, dass du den magischen Sprung zur Flucht genutzt hast. Den entsprechenden Spruch hast du ja auch laut genug gerufen. Das klang für mich schon fast so, als wollest du ihn herausfordern.«
»Nein, das war keineswegs der Grund. Ich war lediglich erleichtert, weil ich wusste, der Ortswechsel würde dieses Mal gelingen. – Außerdem hatte ich Angst, die Zauberkräfte anschließend verloren zu haben. Die Herausforderung galt mir selbst. – Bitte achte weiterhin auf die Umgebung. Ich muss zuerst meine Amme versorgen.«
Runa beugte sich über die Elfe, die ermattet auf dem Waldboden saß, den Rücken an den Stamm einer Kiefer gelehnt. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Sollte sie eingeschlafen sein?
»Paia, wie geht es dir?«
Atropaias Augenlider hoben sich zitternd, jedoch nur für einen kurzen Moment. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ihre schwachen Worte waren kaum zu verstehen.
»Danke, meine Kleine. Ich fühle mich zwar matt, bin aber glücklich, wieder bei dir zu sein.«
»Kann ich etwas für dich tun, soll ich dir erneut Lebensenergie übertragen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, breitete sie die Hände aus. »Beatha!«
Sofort floss ein goldenes Glitzern zur Elfe hinüber. Schon nach wenigen Momenten straffte sich die Westelfe.
»Das ist genug!«, forderte Atropaia. »Es ist wichtig, dass du darauf achtest, nicht zu viel deiner Energie abzugeben.«
Runa folgte der Aufforderung sofort. Sie wollte sich keineswegs verausgaben. Voller Erstaunen, dass sie noch Magie anwenden konnte, hatte sie lediglich nicht darauf geachtet. Sie atmete erleichtert auf, dass für sie als Halbelfe gilt, was laut Atropaias Aussage auf Elfen zutrifft. Sie kann und darf den magischen Sprung nutzen, obwohl sie noch jung ist. Hätte sie das vorher gewusst, wären Dragon und sie bestimmt schneller nach Grimgard gekommen. Doch das war schließlich nicht mehr wichtig.
Sie dachte sofort an Danrya. Warum hatte die ihr nichts davon gesagt? Weil auf dem Gebiet der Triqueta und vermutlich noch etwas darüber hinaus, Ortswechsel mittels Zauber nur über eine kurze Strecke nutzbar sind? Bei diesem Gedanken schrillten Alarmglocken, die sie jedoch vorerst ignorierte.
Wichtiger schien ihr, dass die Westelfe inzwischen voller Sorge auf eine Nachricht von ihr warten würde. Das Mädchen meinte, manchmal in dem Gangsystem unterhalb Grimgards den drängenden Ruf der Elfe gehört zu haben, konnte aber nicht darauf eingehen. Deshalb versuchte sie das nun ihrerseits. Die Verbindung gelang fast auf Anhieb. Danrya hatte jedoch wenig Zeit, da sie ihre Aufmerksamkeit auf Aidan und die aktuell stattfindende Versammlung richten musste.
»Wir sind erfolgreich gewesen«, sendete Runa hastig. »Details später.« Sie wartete keine Rückfrage ab, sondern unterbrach den Kontakt sofort wieder. Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung, da sie mit einer möglichen Verfolgung durch Creulon rechnen musste. Dass ihre Nachricht an die Elfe nicht präzise aussagte, ob es gelungen war, ihre Amme zu befreien, hatte sie nicht bemerkt. Deshalb grübelte Danrya in der Ferne darüber, ob das Mädchen lediglich ihr Eindringen in die Verliese Grimgards gemeint haben konnte.
Runa fühlte ihrerseits ein undefinierbares Unbehagen. Sie konzentrierte sich auf die Umgebung, um Atropaia sicher in ihr Heim zurückzubringen. Sofort schoss ihr der warnende Gedanke von vorhin durch den Kopf. Auf dem Gebiet der Triqueta sind Ortswechsel mittels Zauber nur über eine kurze Strecke möglich. Genau das wird Creulon wissen und sich beeilen, den engeren Umkreis um die Festung abzusuchen.
»Dragon, sind inzwischen Soldaten nahe der Burg zu erkennen? Nein? – Das ist äußerst verdächtig! Welche Alternativen gibt es sonst noch, um hinter uns her zu spionieren?«
»Ich sehe mehrere Vogelschwärme. Genauer gesagt sind es Krähen. Sie fliegen fächerförmig von Grimgard los, allerdings nicht aufs Meer hinaus. Einige bewegen sich auf uns zu.«
»Komm sofort herunter, wir müssen schnellstens hier weg!«
Der Kolkrabe fühlte sich automatisch versucht, herausfordernd in Richtung des nahenden Krähenschwarms zu krächzen. Er wusste, dass er dadurch Creulon auf ihre Spur führen könnte und schaffte es mit Mühe, das zu unterdrücken. Indem er stumm blieb, verhinderte der Junge, dem dunklen Zauberer einen Hinweis zu liefern. Womöglich befanden sich sogar verwandelte Magier unter den Vögeln. Solange Drakonias oberstem Hexer der erste Ort der Flucht unbekannt blieb, fehlte ihm jeder Anhaltspunkt, wohin die Verfolgten fliehen würden.
Runa nutzte den magischen Sprung erneut. Dieses Mal gelangten sie zu der Stelle auf der geraden Straße, wo ein Abzweig Richtung Kastell Drachenstein führt. Dragon zögerte, sich in den Jungen zu verwandeln. Er behielt vorläufig das Aussehen eines Kolkraben. Auch wenn nirgends Soldaten zu sehen waren, wollte er dadurch der Gefahr entgehen, erneut als Rekrut dorthin gebracht zu werden.
Sobald die Nacht hereinbrach, nahm er aber wieder die Gestalt eines Drachen an. Auf seinem Rücken legten Runa und Atropaia eine beachtliche Strecke zurück. Gegen Mitternacht landeten sie nahe einem Schafstall, um dort eine längere Pause einzulegen. Auch die scheinbar unerschöpflichen Kräfte eines Jungdrachen müssen schließlich einmal aufgefrischt werden.
Sie schliefen bis weit in den Morgen hinein. Genau genommen war es bereits kurz vor Mittag, als Atropaia vom Blöken einiger Schafe geweckt wurde. Sie blickte erstaunt um sich und benötigte geraume Zeit, um sicher zu sein, nicht zu träumen. Sie beugte sich über Runa, die sich im Heu neben sie gekuschelt hatte. Das schlafende Mädchen wirkte so erwachsen, dass sie sich fast nicht traute, ihre Wangen zu streicheln. Bei der ersten, sachten Berührung sprang dieses auf und hielt im gleichen Moment einen gespannten Elfenbogen in der Hand.
»Scht, scht. Ich bin’s nur, mein Winterkind!« Die Stimme und die oft gehörten Worte versetzten Runa kurzzeitig in die Kindheit zurück. Sie blickte verwirrt auf den Bogen und ließ ihn sinken. Im nächsten Augenblick steckte sie ihn in eine Tasche zurück, nachdem er vorher mittels Magie wieder verkleinert worden war. Ihre Augen betrachteten forschend das Antlitz der Elfe, die erholt wirkte. Die Ruhepause hatte ihr offenkundig gutgetan.
»Wie lange haben wir geschlafen?«
Die Westelfe erhob sich und warf einen Blick nach draußen.
»Ich glaube, die Sonne müsste fast den höchsten Punkt erreicht haben. Somit ist es gleich Mittagszeit.«
Trotz der leisen Worte wachte nun auch Dragon auf. Er erhob sich, um sich ausgiebig zu recken. Dass er dabei sein Schwert in der Hand hielt, wirkte theatralisch. Er hatte es vorsorglich bereitgelegt, um gewappnet zu sein, falls sie unerwünschten Besuch bekommen sollten.
Für eine Mahlzeit zauberte das Mädchen Brot, Wurst und Äpfel herbei. Zu trinken gab es Wasser. Der Junge strich sich schon bald über den Bauch. Er hatte im Gegensatz zu Atropaia Unmengen gegessen. Er reckte seine Gestalt erneut und trat mit der Waffe in der Hand vor den Schafstall. Nach einer länger dauernden Rundumsicht kam er zurück.
»Es ist gut, dass wir unwillkürlich der Route auf unserem Hinweg Richtung Grimgard gefolgt sind, nur in umgekehrter Reihenfolge. Dadurch können wir einen Stopp in Herzhagen einlegen. Ich möchte mein Versprechen einlösen.«
»Willst du zu dem versteckten Drachengrab?« Atropaia blickte ihn fragend an. »Kennst du den bestatteten Drachen?«
Dragon berichtete ihr von seiner Lehrerin, und dass es sich um einen ihrer Brüder handelt, der dort vielen Elfen und Menschen das Leben rettete. Dass der Westelfe die Hintergrundgeschichte bekannt sein musste, entging dem Jungen. Er wiederholte, was er dem Mädchen beschrieben hatte. Atropaia schmunzelte verstohlen über seinen Eifer. Sie spürte, dass er als Beschützer gerne genauso berühmt wie dieser Drache sein möchte, vorzugsweise aber ohne dessen tragisches Ende.
Bevor sie aufbrachen, veränderte Runa mit Magie ihr aller Aussehen. Dieses Mal wurden sie zu älteren Frauen, wodurch sie nicht Gefahr liefen, zwangsrekrutiert zu werden. Das hatte außerdem den Vorteil, dass ihre Geschwindigkeit zu der immer noch schnell ermüdenden Atropaia passte. Trotz der Übertragung von Lebensenergie mussten sie viele Pausen einlegen.
»Ich wundere mich, dass du inzwischen derart gewachsen bist«, wendete sich die Elfe an das Mädchen. »Ich durfte nur in unregelmäßigen Abständen nach draußen, um unter schwerster Bewachung wenige Runden im Innenhof der Festung zu laufen. In den Kerkerraum gelangte nur geringe Helligkeit durch einen Lichtschacht, so dass ich kaum Tage von Nächten unterscheiden konnte. Trotzdem schätze ich die verflossene Zeit auf einige Jahre. Ich meine, es müssen etwa vier bis fünf sein.«
Runa schüttelte den Kopf.
»Es sind tatsächlich mehr als sieben. Ich bin inzwischen zwölf!«
»Was? Nein, das glaube ich nicht! So lange soll ich eingekerkert gewesen sein? – In der ersten Zeit wurde ich täglich von diesem Owain verhört, manches Mal auch mit Folterwerkzeugen.« Sie erschauerte bei der Erinnerung daran. Sie folgten schweigend der schnurgeraden Straße, bis sie fortfuhr. »Er wollte stets wissen, wo das Kind von Raika geblieben ist. Ich weiß nicht warum, aber Drakonia hatte ihm wohl verboten, mich zu töten. Auch wenn ich sie nie zu sehen bekam, habe ich damals sie und ihren ergebenen Helfer verflucht. – Die Trennung von dir und die Ungewissheit, ob es dir gut gehen würde, schmerzten sehr. Ich warf mir vor, das Versprechen Raika gegenüber gebrochen zu haben, dich gut zu behüten.« Runa wollte einwenden, dass sie das durch die Verwandlung in eine Haselmaus gehalten hätte, weshalb sie nicht auch gefangen genommen worden war. Doch sie kam nicht dazu. Atropaia forderte sie mit erhobener Hand zum Schweigen auf und fuhr fort. »Die Verhöre ließen mit der Zeit nach. Vermutlich, weil ich mit zunehmendem Abstand zum Zeitpunkt meiner Ergreifung kaum wissen konnte, wo du dich verstecken würdest. Owain besuchte mich nur noch gelegentlich. Einige Male war er auch in Begleitung eines ihm ähnlich sehenden, hochnäsigen jungen Mannes. Die letzten Monate bekam ich lediglich ab und zu etwas Essen, meistens nur hartes Brot. Die Hofgänge fielen jedoch weg. Ich wäre vermutlich in kurzer Zeit vergessen worden, wenn du nicht gekommen wärst.«
»Hier müssen wir abbiegen«, unterbrach Dragon die Unterhaltung. »Wir befinden uns in Herzhagen!«
Sie folgten dem Seitenweg, weg von der Hauptstraße, und wanderten gemeinsam zur gen Süden ausgerichteten Bergflanke. Sie streiften durch das besonders nahrhafte Gras, das von zottigen Schafen mit schwarzen Köpfen gefressen wurde. Sogar die jungen Tiere von diesem Jahr zeigten bereits ihr dunkles Antlitz. »Das muss der Ort sein, wo der Bruder meiner Lehrerin Moira nach der Rettung der Elfen bestattet worden ist«, stellte der Junge voller Überzeugung fest. Atropaia nickte zur Bestätigung.
»Ich grüße dich von deiner Schwester«, begann Dragon, sobald sie an der Senke in der Bergflanke ankamen. »Sie ist stolz darauf, dass du die Nordelfen erfolgreich schützen konntest! Trotzdem vermisst sie dich. – Wenn du gestattest, bringe ich ihr als Andenken einen Blumengruß.« Er bückte sich und zupfte drei Stiele von frisch aufgeblühtem Wiesenschaumkraut ab. Dragon steckte die empfindlichen Blumen vorsichtig unter sein Hemd, um sie Moira zu bringen.
In Atropaias Haus
Der letzte magische Sprung führt zum Heim im Elfenwald, genauer gesagt, an den Rand der großen Lichtung. Runa wundert sich über den Anblick des Hauses. Der ist völlig anders, als sie ihn, von ihrem Tage zurückliegenden Aufenthalt, in Erinnerung hat. Die verkohlten Überreste, der von ihr und Dragon aus dem Gebäude geschafften und danach verbrannten Möbel, sind verschwunden. Die Eingangstür ist geschlossen und scheint mit grüner Farbe neu gestrichen worden zu sein. Gleiches trifft auf die Sprossen und Rahmen der Fenster zu. In den Glasscheiben spiegelt sich ein rötlich angehauchter Himmel, der den nahenden Abend ankündigt. Das Blumenbeet wirkt wie frisch erblüht und der Weg zum Obstgarten ist geharkt. Die Dachrinnen und die Regentonne, in die ein neues Fallrohr führt, sehen funktionsfähig aus. Erst als Runa im Inneren den bequemen Sessel und auch die über der Armlehne liegende, zusammengefaltete Wolldecke wiedererkennt, weiß sie Bescheid.
»Stimmt ja. Danrya hatte vor, zuerst das Haus in Ordnung zu bringen, bevor sie nach Elduria aufbrechen wollte. Sie muss diese Dinge aus ihrem Heim in Ochsenham geholt haben.«
Atropaias Augen leuchten. Sie freut sich, endlich wieder daheim zu sein. Trotzdem sinkt sie erschöpft in den Sessel. Die Heimreise war mehr als anstrengend, auch wenn das Mädchen mehrfach Magie nutzte. Runa zaubert einen frisch zubereiteten Pfefferminztee herbei. Das feine, prickelnde Aroma wirkt belebend. Die Elfe nimmt einen vorsichtigen Schluck und lächelt.
»Schön sieht es hier aus! Hast du unser Heim nach dem Eindringen von Owains Männern wieder hergerichtet? Ist das überhaupt möglich? Du warst doch erst fünf!«
Das Mädchen erblickt für einen kurzen Augenblick erneut die chaotische Szenerie, die hier bei ihrer überhasteten Flucht vor den Verfolgern herrschte.
»Ich versuchte damals, sofort deinen Entführern zu folgen, was mir leider nicht gelang. Vor wenigen Tagen bin ich zum ersten Mal nach sieben Jahren hier gewesen.« Es berichtet in einer Kurzfassung, was in dem langen Zeitraum geschehen ist. Runa schließt damit, dass sie die von Atropaia für sie hinterlassenen Informationen gefunden hat. Die Flucht vor den Verfolgern, das unerwartete Treffen mit Danrya und deren wertvolle Hilfe bilden den Abschluss. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass es hier bis vor Kurzem noch anders ausgesehen hat. Deshalb wird dir vermutlich bald auffallen, dass einige deiner Einrichtungsgegenstände fehlen. – Nein, das Lob für den guten Zustand des Hauses gebührt Danrya. Sie wollte hier nach dem Rechten sehen, nachdem wir uns trennten.«
»Dann hat sie das für unsere Rückkehr vorbereitet? – Sobald ich einigermaßen erholt bin, werde ich …« Sie stellt ihre leere Tasse auf das Tischchen neben dem Sessel und hustet heftig. Sollte sie sich am Tee verschluckt haben? Andererseits hatte sie schon unterwegs immer häufiger pausieren müssen, weil sie schnell außer Atem kam. Es dauert auch dieses Mal geraume Zeit, bis sie wieder verhältnismäßig normal atmet. Ihre Stirn ist schweißbedeckt und sie versucht, ihren Zustand mit einem Lächeln zu überspielen. Sie kann jedoch nicht verhindern, ermattet in den Sessel zurückzusinken.
Runa stellte ihre Tasse mit Beginn des Hustenanfalls sofort auf den Wohnzimmertisch und hockt sich jetzt besorgt vor ihre Amme.
»Bist du krank?« Sie blickt die Elfe ängstlich an. »Dagegen gibt es doch hoffentlich einen Zauberspruch, oder nicht?«
Im gleichen Moment sieht sie erneut die Szene vor Augen, als Owain sieben Jahre zuvor ihre Paia entführt hatte. Damals sah Puschel, ihr Kaninchen, elend aus. Sie hatte die Hoffnung, dass ihre Amme es heilen könnte, doch dazu kam es nicht mehr. Atropaia wurde gefangen weggeführt und vorher war Runas Haustier von einem der Bewaffneten getötet worden. Das Mädchen schüttelt sich, um diese Erinnerung fortzuscheuchen. »Ich glaube, Danrya hat Dragon mit »Salvus« geheilt. Wird der Spruch auch dich heilen?«
»Damit ist eine Heilung möglich. Er hilft jedoch nur, wenn die Krankheit oder eine Verletzung nicht durch einen dunklen Zauber hervorgerufen worden ist. Und das könnte bei mir der Fall sein.«
Runa blickt die Elfe mit großen Augen erschrocken an. Sollte sie ihre Amme schon bald verlieren, und dieses Mal für immer? Nein! Dagegen muss sie alles zu unternehmen versuchen. Aufgeben ist keine Alternative! Sie richtet sich auf und breitet ihre Hände über die im Sessel sitzende Atropaia. Bevor sie die ihr bekannten Worte spricht, schießt ihr eine Erkenntnis durch den Kopf.
»Sie sieht wirklich elend und viel älter aus, als sie vermutlich ist. Wenn ein dunkler Fluch die Ursache sein sollte, was kann ich dann machen?«, überlegt sie.
»Probiere alle Sprüche, die positiv wirken könnten«, fordert Dragon. Das Mädchen hatte vergessen, dass der Junge noch immer in gedanklichem Kontakt zu ihm steht. Doch anders als manches vorige Mal, freut sie sich darüber. Sie nickt in seine Richtung und wendet sich erneut ihrer Amme zu. Die ist inzwischen eingeschlafen, so erschöpft ist sie von den Strapazen der Rückreise. Sie mussten oftmals eine größere Strecke wandern, um sich nicht als Zauberer zu erkennen zu geben. Creulon hätte dann womöglich einen Hinweis zugetragen bekommen können, und das wollten sie nicht riskieren. Runa hält ihre Hände nebeneinander über die im Sessel in sich zusammengesunkene Elfe.
»Salvus! Beatha!« Ob der Spruch zum Übertragen von Lebensenergie dieses Mal besser wirkt, weiß das Mädchen nicht, hofft es aber inständig. Das auf die Westelfe hinunterfließende, goldene Gleißen unterbricht es nicht so schnell. Runa will möglichst lange ihre Energie übermitteln. Es könnte sogar fast zu viel sein, denn sie taumelt und wird sofort von Dragon gestützt.
»Du musst vorsichtig mit dem letzten Spruch sein! Wenn du nicht aufpasst, fällst du in tiefe Bewusstlosigkeit. Dann vermagst du die Übertragung nicht zu stoppen und würdest als Folge davon sterben.«
Der Junge führt Runa besorgt zu einem Stuhl, auf den sie sich fallen lässt. Sie richtet ihren Blick dankbar zu ihm auf.
»Dann würdest du mich retten. Du bist schließlich mein Beschützer, dem ich inzwischen sehr oft das Leben zu verdanken habe!« Ein leichtes Lächeln spielt um ihre Lippen.
Dragon droht ihr mit erhobenem Finger.
»Ich sehe schon, dir geht es nicht so schlimm, wie es aussah. – Doch zurück zum Übertragen der Lebensenergie. Die kann nur der Zauberer stoppen, der damit begonnen hat.«
»Aber, wenn du …«
»Genau, falls ich jedoch in gedanklicher Verbindung mit dir stehen sollte, könnte ich das möglicherweise auch aufheben.«
»Richtig. Das wäre ähnlich so, wie das bei den Zauberangriffen der Hexenmeister oder dem von Creulon war.«
»Aber besser ist, wir lassen es nicht so weit kommen, dass wir das probieren müssen!«
Der Junge blickt Runa beschwörend an. Sie nickt langsam. Es sieht allerdings so aus, als ob sie ihm nicht genau zuhören würde. Das bestätigt das Mädchen auch sofort durch ihren nächsten Satz.
»Damit hast du mich auf eine Idee gebracht. Ich sollte versuchen, über eine Gedankenverbindung in Atropaias Kopf nach der Ursache für ihre Schwäche und den Husten zu suchen. Dann könnte ich in der Lage sein, den dunklen Fluch von ihr zu nehmen, wenn der die Ursache sein sollte. Denke nur an die dunkel-violetten Wolken, die wir am Rand unseres Bewusstseins aufspüren und vertreiben konnten. Ich vermute, das könnte bei ihr ähnlich aussehen.«
Runa greift nach ihrer Teetasse und nimmt einen großen Schluck. Sie will bereits aufstehen, als Dragon sie sanft zurück auf den Stuhl drückt.
»Das kannst du später oder besser noch morgen probieren. Du solltest dich vorher völlig erholen, denn auch du schaust angegriffen aus!«
Sie blickt den Jungen an. Erst nach einem Blick zu ihrer Amme hinüber nickt sie.
»Einverstanden. Da Paia tief zu schlafen scheint, könnte ich die Verbindung im Moment doch nicht herstellen. – Aber ich sollte versuchen, Danrya zu beruhigen. Möglicherweise kennt sie einen weiteren Spruch, den ich anwenden kann.«
»Das kannst du gerne machen, nachdem du dich auch etwas ausgeruht hast!«
Das Mädchen blickt den Jungen an und will empört auffahren. Doch nach wenigen Momenten besinnt es sich, dass Dragon recht hat. Es nickt und schaut ihn schelmisch an.
»Ja, Mutti!«
Fast im gleichen Augenblick fällt auch sie in tiefen Schlummer. Die Übertragung der Lebensenergie auf Atropaia hat mehr Kraft als gedacht gekostet.
Im Traum kehrt Runa in ihre ersten Jahre hier im Haus zurück. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, trägt Dragon sie zum Sofa hinüber. Er bettet sie darauf und breitet eine Decke über sie.
»Danke, mein Beschützer!«, murmelt das Mädchen im Halbschlaf.