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Imaginate

Copyright © 2020 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-358-4

Alle Rechte vorbehalten

Für Jaro und Lille

Inhalt

Die Fachwelt über Imaginate

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil II

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil III

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil IV

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil V

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil VI

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Vermicellis Herzblume-Show

Figuren

Danksagung

Über die Autorin

Die Fachwelt über Imaginate

»Imaginate avancierte in kürzester Zeit zum Kultbuch und hält eine ganze Generation von Fans in ständiger Erwartung auf den nächsten Fortsetzungsband. Ein Mysterium hat sich um den anonymen Autor gebildet, der in den Medien wahlweise als Außerirdischer, Genie oder Geistesgestörter gehandelt wird.

Oder als eine abgefahrene Mischung aus allen dreien.«

Nachrichten aus Nirgendwo, Baldorger Tageszeitung

»Eine wahrhaft köstliche Spezialität, die den Lesergaumen mit süßen Romanzen ebenso verwöhnt wie mit scharfen Actionszenen. Die Komposition wird abgerundet durch bittersüßen Humor, gewürzt mit einer Prise Ironie.«

Vermicelli, der Bücherwurm Ihrer führenden Buchhandlung

»der roman gewinnt noch durch die übersetzung in die zwergensprache aufgrund der häufung an gutturalen lauten wird die grundaussage des textes plastisch ausgedrückt zudem ermöglichen konsequente kleinschreibung und die streichung sämtlicher satzzeichen die ablösung von dem dogma ein text müsse einen sinn ergeben«

Gilbo, Zwerg, Sprachwissenschaftler und Philosoph

Prolog


Ein Heer von Schatten strömte durch das Tor zwischen den Welten. Das dunkle Geschwader setzte sich wie ein Krähenschwarm auf Häuser und verschluckte jeden Lichtstrahl, der es wagte, leichthin durch die Luft zu tanzen. Die Schatten versteckten sich nicht länger, waren von Spionen zu Eroberern geworden. Es war ein Sturm aufgekommen, und sie ritten auf den Windböen, die die stolzen Köpfe von uralten Bäumen beugten, bis ihre Wipfel den Boden berührten. Schon hatte die schwarze Wolke das grüne Eckhaus der Kobold­familie Brantock umzingelt, den Buchladen des Bücherwurms Vermicelli und den Sitz der Königin, den Nachttannenturm.

Sie drangen durch eine Ritze in der Wand in die Druckerei ein. Kippten Kästen mit losen Seiten um und ließen die Sätze darauf im Nichts verschwinden. Setzten sich auf die Maschinen und saugten die Tinte heraus. Die Druckmaschinen blieben wie ausgeblutete Beutetiere zurück. Das Dunkle hatte Einzug ins Reich des Nachttannenturms gehalten. Es rüstete sich für den Kampf, der diesem Land den Frieden nehmen sollte, den es so lange gehegt hatte. Bis ein Unbekannter einen Roman schrieb, der alles veränderte. Und nebenbei noch die Bestsellerlisten stürmte. Dessen Hauptfigur hatte von all dem keine Ahnung, bis …

Imaginate, stellt euch vor.

Teil I

Kapitel 1


Alles begann mit einem Blitz. Oder eher mit der rudimentären Zeichnung eines Blitzes, die irgendein Unbekannter in ein altes Buch gekritzelt hatte. Die Krakelei passte nicht zu der ehrwürdigen Strenge der Universitätsbibliothek, fand Raizel. Sie studierte in einer mittelgroßen britischen Stadt Internationale Literaturwissenschaft und war im vierten Semester. Ihr blieben nur noch drei Tage, ehe die Abgabefrist für ihre Hausarbeit ablief. Der Titel sollte lauten: Chronisch unterschätzt: Wie die fantastische Belletristik die großen Fragen der Menschheit verhandelt. Raizel wollte wissenschaftlich belegen, dass Geschichten von Magie und epischen Schlachten mehr zur Literaturgeschichte beizutragen hatten als Unterhaltung und Alltagsflucht. Ein Text von ihrer Lektüreliste fehlte noch: ein Aufsatz über den Drachen als Symbol, mal für chaotische Gewalt, mal für gewaltige Weisheit. Autoren und Filmemacher verwendeten dieses Motiv, um von den Ambivalenzen und Herausforderungen des Lebens zu erzählen.

Laut der Empfangsdame der Bibliothek war der entsprechende Essayband endlich nach Monaten zurückgegeben worden. Voller Vorfreude betrat Raizel den Lesesaal und suchte anhand der Registrier­nummer nach dem Band. Natürlich, er versteckte sich im obersten Regal der Bücherwand, die bis an die Stuckdecke des Raumes ragte. Und so blieb Raizel nichts übrig, als die wackelige Holzleiter hochzuklettern, die vermutlich wie das Bibliotheksgebäude noch aus dem 17. Jahrhundert stammte. Auf jeden Fall knarzte sie entsprechend. Raizel stieg vorbei an Sammelbänden über antike Mythologie und moderne Märchen. Je höher sie kam, desto weniger abgegriffen wirkten die Buchrücken. Raizel riskierte einen Blick über die Schulter. Unter sich sah sie lesende Menschen in Zwergengröße. Zumindest erschienen sie aus dieser Höhe so klein. Es ist die Perspektive der Bücher, schoss es Raizel durch den Kopf. Ihr wurde schwindelig, und sie drehte sich rasch wieder um. Endlich fand sie den gesuchten Titel. Mit seinem unscheinbaren mausgrauen Umschlag verriet er äußerlich nichts über die darin verborgenen Wunder.

Neugier und Ungeduld erlaubten es Raizel nicht abzuwarten, bis sie wieder am Schreibtisch saß. So lehnte sie sich Halt suchend an die Bücherwand und schlug die erste Seite auf. Und da war sie, die Blitzzeichnung. Raizel hatte eine ausgeprägte Fantasie und die simple Zeichnung reichte ihr als Inspirationsquelle völlig aus. Wer sie wohl hier hinterlassen hatte? Ein Student, der sich über eine schlechte Note geärgert hatte? Ein Leser, der vor einer langweiligen Lektüre warnte? Oder fühlte sich der Zeichner aus einem ganz anderen Grund wie vom Blitz getroffen? Raizel verlor sich im Reich ihrer Fantasie. Und als sie wieder hinunterklettern wollte, war da keine Leiter mehr. Auch kein Bücherregal zum Festklammern. So fiel sie in die Tiefe.

Panisch schlug Raizel um sich, unter sich nur Luft, mit der einen Hand noch immer das Drachenbuch umklammernd. Der linke Arm schrammte an etwas Dunklem, Stacheligem vorbei. Doch sie fand keinen Halt und fiel weiter. So hoch war das Bücherregal nun auch wieder nicht gewesen, dachte sie, als der Aufprall ausblieb. Dann wurde sie am Schlafittchen gepackt, ihr Fall gestoppt. Irgend­etwas musste sich durch die Rückseite ihres türkisfarbenen Pullovers gebohrt haben, und jetzt hing Raizel in der Luft wie aufgespießt. Als sie sich umdrehen wollte, riss der Stoff ihrer Kleidung und es ging weiter abwärts.

Sie sah den Boden unter sich. An die Stelle der glänzenden Mahagoni­dielen aus der Bibliothek waren Pflastersteine getreten, ein verspieltes Mosaik aus lilafarbenen und hellgrauen Elementen. Es wirkte sehr kunstvoll – und sehr hart.

Die Pflastersteine kamen unaufhaltsam näher, Raizels Atmung beschleunigte sich. Jetzt würde sie die Hausarbeit niemals rechtzeitig abgeben können, schoss es ihr absurderweise durch den Kopf. Etwas federte den Fall im letzten Moment ab und sie landete unsanft auf dem Rücken. Der Schock lähmte Raizels Glieder, und so blieb sie zunächst einfach liegen. Über ihr keine Stuckdecke mehr, sondern ein Nachmittagshimmel, der zu unspektakulär für die jüngsten Ereignisse war. Wohin war die Bibliothek verschwunden? Oder war sie es etwa, die verschwunden war? Ihr wurde schon wieder schwindelig – und das, obwohl sie auf dem Boden lag. Langsam bewegte sie Arme und Beine, es schien nichts gebrochen zu sein. Auch der Essayband hatte den Fall heil überstanden, was sie als seltsam tröstlich empfand. Wo war sie bloß?

Raizel rappelte sich auf, setzte sich hin und strich sich eine freche Strähne aus dem Gesicht. Die hastig hineingesteckten Haarnadeln, die ihre roten Locken während der Bibliotheksarbeit im Zaum halten sollten, hatte sie beim Fall verloren. Ihr Blick fiel auf einen riesigen, beinahe unbebauten Platz, der sich in alle Richtungen erstreckte. In seiner Mitte nahm sie sich winzig aus. Voller Panik blickte sie um sich. Wie war sie bloß hierhergeraten? Und wo war dieses hier eigentlich? Instinktiv wusste Raizel, dass die Bibliothek und mit ihr das altvertraute Leben weit entfernt waren. Der Gedanke ließ ihre Hand­flächen feucht werden. Sie nestelte an den Kordeln ihres Kapuzen­pullis herum, wie stets, wenn sie nervös war. Wobei nervös eine gewaltige Untertreibung für die Beschreibung des Gefühlsaufruhrs darstellte, der in ihr tobte.

Sie war allein. Wenn man von dem majestätischen Turm absah, der neben ihr aufragte. Er war so dunkel, dass selbst die warme Nach­mittagssonne ihn nicht erhellen konnte. Aus ihrer Perspektive schien es Raizel, als schwängen sich die schimmernden Steintreppen zu einem himmelhohen Eingang hinauf. Ihr Herz begann zu rasen. Das konnte nicht möglich sein! Hatte sie sich beim Sturz von der Leiter etwa den Kopf gestoßen und fantasierte? Paralysiert blieb sie eine ganze Weile sitzen, weiterzuatmen erschien ihr schon Herausforderung genug.

Normalerweise müsste sie sich daran erinnern können, eingeschlafen zu sein – und am Ende der Geschichte würde sie aus einem Traum erwachen und in der Scheinwelt des Schlafes eine Erklärung für all das Zauberhafte finden, das sie in der Zwischenzeit erlebt hatte. Jetzt dachte sie von sich selbst schon wie von einer Romanfigur. Wenigstens würde ihr in diesem Fall garantiert eine außergewöhnliche Person begegnen und die Geschichte vorantreiben. Doch es kam niemand. Ungewissheit war für Raizel beängstigender als eine Katastrophe, der sie ins Gesicht blicken konnte. Also erklomm sie trotzig die Treppen zum Turm. Erst allmählich begriff sie, was sie da vor sich hatte. Die Fassade erinnerte nur vom Fuße des Turms aus betrachtet an einen dieser düsteren Türme, die in Märchen meist mächtige Zauberer mit einem Hang zur schwarzen Magie beherbergten. Tatsächlich bestand er aus unzähligen Tannen, die sich aneinanderschmiegten und immer dunkler wurden, je weiter Raizel die Treppe hinaufstieg. Nachtfarben. Die Bäume neigten ihr die Wipfel zu, und Raizel war sich nicht ganz sicher, ob sie den Eindringling begrüßen oder warnen wollten. Das also war das Stachelige gewesen, an dem sie hängen geblieben war und das ihren Fall abgefedert hatte. Ein Turm aus Tannen – für das Stadtkind Raizel war diese Vorstellung so sonderbar, dass sie einen Moment innehielt und überlegte, ob sie wirklich weitergehen sollte. Aber was war die Alternative? Sie konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit darauf warten, dass sie auf wundersame Weise zurück in die Bibliothek katapultiert wurde. Wobei eine Ewigkeit an einem Ort wie diesem vermutlich besonders lange dauerte.

Also ging Raizel weiter, bis sie bei einem Tor ankam, das aus ineinander verwobenen Ästen bestand. Bei Raizels Berührung teilten sie sich und gaben ihr den Weg frei. Noch einmal zögerte sie, ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie sich so vor dem schützen, was sie im Innern des Turmes erwartete. Dann straffte sie die Schultern und trat ein. Das Tannen­tor schloss sich raschelnd hinter ihr und sie fühlte sich wie ein Zootier, hinter dem man die Käfigtür geschlossen hatte. Für einen Moment blieb Raizel stehen und versuchte ihre Sinne an die neue Umgebung anzupassen. Das plötzliche Dämmerlicht inmitten all der Bäume raubte ihr die Sicht, dafür meldete sich der Geruchssinn überdeutlich: Tannengeruch mischte sich in der Luft mit dem Duft von Zimt und Flieder. Eine schwindelerregende Kombination. Alles beherrschend erstreckten sich gigantische Gewächse weit in die Höhe, die aussahen wie in Nachtschwärze getunkte Bäume. Trotz des Zwielichts wirkten die Farben hier warm, das Sonnenlicht blitzte an manchen Stellen durch die Tannen hindurch. Raizel kam sich vor wie an einem Herbstnachmittag im Wald. Nur dass sie sich nicht im Freien befand, sondern in einer Art ausladendem Ballsaal, wie sie überrascht feststellte. Raizel legte den Kopf in den Nacken und bewunderte die Bäume, die in schwindelerregende Höhen wuchsen. Ein lebendiger Organismus, und sie selbst mittendrin. Dieser Gedanke war beklemmend und aufregend zugleich. Langsam begann ihre Neugier über die Angst zu triumphieren, und so schaute sie sich weiter um.

Sosehr sie auch versuchte, den Blick zu fokussieren, die Luft hörte nicht auf zu flirren. Als Raizel die Ursache dafür erkannte, musste sie sich an einer der Tannen festhalten: Wesen in Kleinkindgröße schwirrten kometenhaft durch den Raum, ihre bunten Flügel blitzten in der Bewegung auf. Und noch ehe Raizel ganz begriffen hatte, was sie da sah, landete eine der Gestalten vor ihr auf dem Boden und sagte: »Hey, Puppe, erbitte dich ergebenst, die Lady da hinten zu kämmen.« Was für eine merkwürdige Ausdrucksweise! Wie ein Barkeeper, der einen neuen Slang-Rhetorik-Cocktail mixte, eine abgefahrene Kombination aus Ghettogangster und Hoflyriker. Die seltsame Sprache des Wesens lenkte Raizel so weit ab, dass sie nicht sofort durchdrehte, wie es angesichts fliegender Gestalten wohl angebracht gewesen wäre. Ihr Gegenüber drückte Raizel eine federleichte Bürste in die Hand und deutete mit einem Finger auf einen Punkt am gegenüberliegenden Ende des Saales. Sie musste wohl doch träumen, beschloss Raizel, um nicht vollends den Verstand zu verlieren. Sie wollte schon wie in Trance den Raum durchqueren, da hielt das Wesen mit der bizarren Sprechweise sie zurück.

»Derbe abgefahren, sie hat eine fürwahr erquickliche Lektüre eingeheimst!« Dabei zeigte es auf den Drachenband, den Raizel noch immer umklammerte. Halt suchend an etwas Vertrautem. Das Geschöpf vor ihr blickte sie an, zugleich auffordernd und einschmeichelnd. Ohne Worte machte es ihr deutlich, dass es das Buch gern hätte. Raizel überreichte es anstandslos. Die Hausarbeit würde sie ohnehin nicht so bald schreiben können. Das Wesen sackte unter der Last des Buches zusammen und landete auf dem Boden. Mit sichtlichem Kraftaufwand blätterte es neugierig die ersten Seiten um. Nach einer Weile sagte es: »Hab Dank. Jetzt checke ich es, die lütte Schnalle hat ein Sachbuch in hiesige Gefilde gebracht.« Der Tonfall klang ein bisschen enttäuscht.

»Ein Sachbuch? Über Drachen?«, fragte Raizel. Dann verstand sie: Fabelwesen waren hier wohl alltäglich und gehörten deshalb nicht in die Fiktion, sondern in den Biologieunterricht. Anscheinend war diese Welt so übersättigt mit dem, was in Raizels Augen fantastisch erschien, dass sich die Bewohner nach einer Alternative sehnten. Doch wonach?

Ihr Gegenüber hatte bereits das Interesse an dem Buch verloren. Er gab es ihr jedoch nicht zurück, sondern deutete mit einer Kopf­bewegung dorthin, wo Raizel jetzt im Halbdunkel eine weitere Gestalt erkennen konnte. Unschlüssig blieb sie stehen. Was war das bloß für eine bizarre Willkommenszeremonie?

Beinahe andächtig näherte sie sich dem weiblichen Wesen, dem sie offenbar die Haare kämmen sollte. Es hatte zwei pastellfarbene, durchsichtige Flügel und blickte sie zugleich unschuldig und bittend an. Da blitzte etwas in den Augen auf, voller Herausforderung und Schalk. Das Geschöpf hatte eine majestätische Aura, ob es sich um eine Art Königin handelte?

Das Wesen sprach kein Wort, doch das war auch nicht notwendig. Raizel fühlte sich merkwürdig angezogen, beugte sich hinunter und hob die Hand mit der Bürste, um mit ihrer Aufgabe zu beginnen. Ihrer Aufgabe, wie absurd das klang! Aber an einen Auftrag konnte man sich wenigstens klammern, wenn all die erdrückenden Neuigkeiten eigentlich danach verlangten, sich irgendwo in einer Höhle zu verkriechen, um in Ruhe nachdenken zu können. Oder wahnsinnig zu werden. Oder beides.

Das Haar des Wesens war rappelkurz – gemessen an dem allgemeinen Elfenklischee. Die Farbe wechselte ständig, mal glänzte es in edlem Perlmutt, dann wieder in schrillem Pink. Behutsam nahm Raizel eine Strähne zwischen die Finger und begann zu kämmen. Als sie das Haar zur Seite streifte, wurde ein langes, spitzes Ohr sichtbar.

Während Raizel weiterkämmte, spielten ihre Gedanken verrückt. Es war einfach unglaublich: Gerade noch war es ihre schwerste Entscheidung gewesen, ob sie sich an ihre Hausarbeit setzen oder mit ihren Freunden eine Pubtour machen sollte. Und jetzt? Bürstete sie einem geflügelten Wesen die Haare. Die Situation war derart surreal, dass sie keine Formulierung für all die Gedanken fand, die in ihrem Kopf Amok liefen.

So sprach sie kein Wort, bis die erste Hälfte des Haares glatt gestrichen war. Alsbald schmiegte sich das weibliche Geschöpf ganz eng an ihren Körper und Raizel spürte den warmen Atem. Das Haar war wieder verstrubbelt. Da hielt Raizel es nicht länger aus und die Fragen strömten nur so aus ihrem Mund.

»Wer seid ihr? Wie bin ich hierher …« Das Wesen gebot ihr mit einem Fingerzeig, zu schweigen.

»Later, Baby. Ein Hauch von Patience erquickt den Geist und relaxt ungemein.« Wieder diese verwirrende Ausdrucksweise. Noch nie hatte Raizel gehört, wie jemand die Sprachebenen so gehörig durcheinandermixte.

Sie war so von ihrer Aufgabe eingenommen gewesen, dass sie den Rest des Raumes vergessen hatte. Jetzt aber hörte sie ein glucksendes Kichern, das so gar nicht zur ätherischen Erscheinung dieser Wesen passte.

Langsam drehte Raizel den Kopf zur Seite und blickte in unzählige neugierige Gesichter. Eines der Geschöpfe hielt ein Buch mit der Aufschrift Imaginate in der Hand, blickte abwechselnd zu ihr und auf die Seiten und murmelte dabei aufgeregt: »Voll krass, unglaublich, fürwahr.« Dann überreichte es Raizel feierlich den Wälzer, der aus weit mehr Seiten bestand als das Drachenbuch, das sie am Eingang zurückgelassen hatte. In dem Moment, als ihre Finger den Einband berührten, änderte sich die Situation dramatisch: Da war plötzlich ein Geruch, beißend und intensiv. Raizels Atemwege schienen wie gelähmt zu sein und sie fing schrecklich an zu husten. Zu allem Überfluss durchzuckte sie ein Stromschlag, als hätte sie sich gerade eine Badewanne mit einem Zitteraal geteilt. So intensiv hatte Literatur noch nie auf sie gewirkt. Erst viel später würde sie sich einen Reim auf den merkwürdigen Effekt des Buches machen können. Für den Moment reagierte sie instinktiv.

Raizel ließ Buch und Bürste fallen und rannte. Fort von diesem Abenteuer, ehe es überhaupt erst richtig begonnen hatte. Sie lief aus dem Saal, aus dem Turm, aus dem Dämmerlicht zurück in die Sonne. Die plötzliche Helligkeit zwang sie, die Augen zusammenzukneifen. Dann flüchtete sie weiter, ein kleines Heer aus elfenartigen Wesen folgte ihr. Über die Treppen und den Platz. Ihre Verfolger stießen Laute aus, die wie zerplatzende Wassertropfen klangen. Lachten sie Raizel etwa aus? Sie wollte nur noch fort von diesem unheimlichen Turm und seinen merkwürdigen Bewohnern.

Der Platz war zwar groß, aber nicht unendlich. Raizel verlangsamte ihr Tempo kaum, als sie in eine schmale Gasse bog. Die Weite des Platzes wich augenblicklich einem Gefühl von Enge. Dafür verantwortlich waren dicht an dicht gebaute Steinhäuser, deren bunt gestrichene Eingangstüren malerisch von Efeu umrankt wurden. Der Boden war ebenso gepflastert wie der Platz mit dem Turm, aber alles Pompöse war einer entspannten Schlichtheit gewichen. Raizel nahm das alles nur aus den Augenwinkeln wahr, konzentrierte sich aufs Laufen. Langsam begann ihre Lunge zu schmerzen. Hastig blickte sie sich um. Ihre Verfolger waren verschwunden.

Raizel spürte einen Stich der Enttäuschung. Hatte sie sich nicht ihr halbes Leben lang Elfenohren gewünscht, in Sommernachts­träumen mit den Feen getanzt und war am Morgen nur ungern wieder in die Realität zurückgekehrt? Und jetzt, da sie aus unerklärlichen Gründen tatsächlich solch fantastischen Wesen begegnete, lief sie einfach weg. Eine schöne Heldin war sie!

Ihre Schritte hatten sich beim Blick zurück nicht verlangsamt. Plötzlich fasste sie jemand unsanft an den Handgelenken und stoppte ihren Schwung abrupt. Alarmiert schwang Raizel ihren Kopf herum.

Vor ihr stand ein junger Mann, in etwa so alt wie sie selbst, sein schulterlanges Haar von einem dunklen Braun. Offenbar hätte sie ihn beinahe umgerannt. In der engen, gewundenen Gasse hatte Raizel ihn nicht kommen sehen. Reflexartig befreite sie sich aus seinem Griff und streifte die fremden Hände ab, die sich warm auf ihrer Haut anfühlten. Ihr Gegenüber musterte sie amüsiert.

»Lass mich raten: Du hast einem Zwerg heimlich den Bart gestutzt und er ist hinter dir her. Oder angesichts der Panik in deinem Blick ist es vielleicht eher eine Horde ausgehungerter Zyklopen, vor der du fliehst?« Als ihre Antwort ausblieb, schob er nach: »Oder gar vor dir selbst?«

»Du bist offenbar ein Amateurpsychologe«, konterte sie, und es klang patziger als beabsichtigt. Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie vor liebreizenden Elfenwesen geflohen war, weil ein Buch komisch roch. Ihre Reaktion erschien ihr mittlerweile überstürzt, und so projizierte sie ihren Unmut auf den Mann, der sich ihr einfach so in den Weg gestellt hatte. Jetzt entgegnete er mit spöttischem Unterton:

»Du hast mich ertappt. Und meine ausgeprägten Antennen für das Befinden anderer Menschen sagen mir, dass du derzeit zwischen wütend, überrascht und peinlich berührt schwankst.« Raizel starrte ihn an. Seine Diagnose war zugegebenermaßen ziemlich zutreffend. »Ah, jetzt überwiegt ganz eindeutig die Überraschung«, sagte er und ließ sich lässig auf der hüfthohen Mauer aus Feldsteinen nieder, welche die Häuserreihe von der Straße abtrennte.

Ihre Antwort kam schnell.

»Genau, ich bin überrascht, wie anmaßend die Menschen hier sind.« In dem Moment wurde ihr bewusst, dass der Unbekannte, der ihr seinen Namen noch nicht verraten hatte, tatsächlich der erste Mensch war, dem sie an diesem Ort begegnete. Vorausgesetzt, er war kein Gestaltwandler, der sich gleich in einen fauchenden Drachen verwandeln würde … Dieser Ort beflügelte ihre Fantasie eindeutig zu sehr! Vielleicht sollte sie ein bisschen freundlicher zu ihrem Gegenüber sein. Sie würde in dieser fremden Welt noch Verbündete brauchen.

Erst jetzt musterte Raizel den jungen Mann genauer. Er trug einen dieser Kapuzenumhänge, wie es sie auf Mittelaltermärkten zu kaufen gab, und abgewetzte Lederstiefel. Eine unbändige Strähne hing ihm ins Gesicht und verbarg es so vor allzu neugierigen Blicken. Wäre sie ihm auf einer Party zu Hause begegnet, hätte sie ihn vermutlich gern kennengelernt. Raizel spürte ihm gegenüber eine eigentümliche Vertrautheit. Schluss damit, schalt sie sich selbst. Da hatte sie einmal einem Wesen mit spitzen Ohren die Haare gebürstet, und schon fühlte sie sich dem erstbesten Menschen verbunden, der ihr über den Weg lief!

Ihre ruppige Bemerkung schien ihn nicht weiter zu stören, sondern eher zu belustigen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihr gemütlicher türkisfarbener Pullover, der bis zur Hälfte der Oberschenkel reichte und sich gut für lange Bibliotheksnachmittage eignete, war von den Tannennadeln ganz schön malträtiert worden. Ein langer Riss an der Seite gab den Blick auf ein Stück ihres Bauchs frei, wie Raizel erst in diesem Moment bemerkte. Auch ihre kastanienfarbenen Leggins hatten jetzt ein paar Löcher. Wenigstens ihre heiß geliebten Stiefel in Herbstblattbraun hatten sich als abenteuertauglich erwiesen. Raizel wollte jedoch gegenüber dem Unbekannten keine Schwäche zeigen und entschied sich, ihre Kleidung nicht weiter zu kommentieren. Auch zwang sie sich, nicht wie sonst in ungewöhnlichen Situationen an ihrer Pulloverkordel herumzuspielen. Stattdessen funkelte sie ihn ungehalten an. Ihre markanten Augenbrauen, die von Natur aus wie mit einem breiten Pinsel gezeichnet wirkten, verliehen ihrer Mimik Nachdruck. Ihr Blick schien zu sagen: »Ist was?«

Auch er ging nicht auf ihr derangiertes Erscheinungsbild ein. Stattdessen fragte er: »Ich habe dich hier noch nicht gesehen, und deine feuerroten Locken wären mir bestimmt aufgefallen. Bist du neu in der Gegend?« Überall sonst hätte das wie eine sehr billige Flirt­floskel geklungen.

»Kann man so sagen«, antwortete Raizel wahrheitsgemäß. Damit er nicht nachfragen konnte, setzte sie hastig hinterher: »Da, wo ich herkomme, stellt man sich übrigens mit Namen vor. Also, ich bin Raizel.« Eine Erwiderung blieb aus. Stattdessen passierten zwei Dinge gleichzeitig: Raizel registrierte im Augenwinkel eine Bewegung, und der Blick ihres Gegenübers wechselte von neugierig zu alarmiert.

»Polpo, warte auf mich!« Ein Junge im Teenageralter lief plötzlich durch die Gasse, warf Raizel einen schnellen Blick zu und stieß einen glucksenden Freudenschrei aus, als er sein Haustier endlich einfangen konnte. Der Unbekannte, mit dem Raizel sich gerade noch unterhalten hatte, erhob sich von der Mauer, blickte den Jungen an und grinste. Dann wandte er sich wieder ihr zu. Ihre Blicke fingen sich, das helle Blau ihrer Augen mischte sich mit seinem dunklen Grün.

So intensiv war dieser Blickkontakt, dass es einige Momente dauerte, bis die Information Raizels Bewusstsein erreichte, dass der Junge rote Koboldohren gehabt hatte und das Haustier auf zwei Beinen gelaufen war. Sie drehte sich nach dem ungewöhnlichen Duo um, aber es war schon in einer der abzweigenden Gassen verschwunden.

»Wer war das?«, wollte Raizel den Unbekannten fragen, doch die Antwort blieb aus. Sie war allein in der Gasse.


»Ich hab sie gesehen, ich hab sie echt gesehen!« Frips schlug die Tür des schmalen grünen Eckhäuschens zu, in dem die Koboldfamilie Brantock schon seit Generationen lebte. Die Behausung sah so aus, als hätte ein Riese sie rechts und links ein bisschen zusammen­gedrückt, wobei das Dach auf der einen Seite in eine Schieflage geraten war. Diese ungewöhnliche Konstruktion ermöglichte Frips ein Spiel, bei dem er über die Dachziegel in einen Heuhaufen oder Schneeberg rutschte. In diesem Moment jedoch hastete er durch den Flur, stolperte über den Teppich und ins Wohnzimmer, wo seine Mutter Lille Brantock Patiencen legte. Sie hatte sich selbst bei diesem Kartenspiel für eine Person gerade beinahe besiegt, und dennoch blickte sie sofort auf, als sie Frips nach Hause kommen hörte. Ihre mit Lachfältchen gerahmten Augen leuchteten voll gespannter Erwartung.

»Ich bin direkt an ihr vorbeigelaufen! Sie sieht genauso aus wie in meinem Buch! Die roten Haare! Das ist so cool, ich werde verrückt! Polpo, sag doch auch mal was!«

Polpo war ein Tulfo, hatte vier Pfoten, von denen er zwei zur Vorwärtsbewegung und zwei zum Futterstibitzen nutzte. Frips zuliebe hatte er so getan, als laufe er vor ihm weg, damit der junge Kobold diese Raizel unbemerkt ausspionieren konnte. Der schnelle Lauf hatte den Tulfo ermüdet, denn er war schon so an das Haustierdasein gewöhnt, dass ihm Jagen altmodisch und unbequem vorkam. Deshalb brummte Polpo nur mürrisch:

»Ihr Konterfei lässt keinen Zweifel ob ihrer Identität – obschon Mitglieder dieser Speiseeis sich ja gewöhnlich sehr ähnlich sehen.«

»Du meinst Spezies, Polpo, nicht Speiseeis. Du denkst wirklich immer nur ans Essen«, seufzte Frips. Normalerweise korrigierte er die ständigen Ausdrucksfehler seines Tulfos nicht, denn darauf reagierte dieser stets sehr beleidigt. Aber er war in diesem Moment viel zu aufgeregt, um auf die Befindlichkeiten seines behaarten Freundes Rücksicht nehmen zu können. Stattdessen beugte er sich zu ihm hinunter und klaubte ihm ein Blatt aus dem struppigen Haar. Polpo legte zwar Wert auf eine äußerst distinguierte Sprache, lehnte Kämmen jedoch ab. Das war nur etwas für Spießer, fand er. Und körperliche Arbeit – viel zu konventionell! Deshalb wohnte er auch bei der Familie Brantock und übte sich lieber in geistreicher Konversation und Rekorden im Puddingverzehr, statt Hühnern hinterherzujagen, wie dies Gerüchten zufolge Vorfahren der Tulfos einmal getan haben sollten.

Seine Lebenseinstellung teilte er mit vielen seiner Artgenossen, und meist entwickelte sich ein sehr inniges Verhältnis zwischen ihnen und den Kobolden. Jetzt aber wandte sich der Tulfo gekränkt ab, seine Sprachkenntnisse waren ihm nun mal heilig. Während er sich in seine Kammer unter dem Dachboden zurückzog, grummelte er vor sich hin.

»Ignotanten.«

Frips wollte ihm hinterherlaufen, doch Lille beruhigte ihn. »Durch deine Korrektur verhilfst du ihm zu einer besseren Sprache, und das ist schließlich genau das, was er will. Er wird sich wieder beruhigen. Aber ich platze vor Neugier. Erzähl mir von ihr!«


»Warum ist die holde Tussi abgehauen? Obgleich wir ihr so einen derbe abgefahrenen Empfang bereitet haben!«, wunderte sich Selp lautstark. Selp war ein Balde. Und Balden waren Wesen, die in vielerlei Weise den Vorstellungen entsprachen, die sich Nichtmagische von Elfen machten: spitze Ohren, Zauberkraft, ein unbeschreibliches Charisma. Weil es sich bei den Balden aber nicht um Fantasie­gestalten, sondern um reale Geschöpfe handelte, waren sie weit weniger klischeehaft. Sie litten nicht wie der Durchschnittself an Magersucht und hatten außerdem nichts gegen Zwerge. Sie hatten eigentlich gegen niemanden etwas, denn es handelte sich trotz ihrer Neigung zu Schalk und Schabernack um Harmoniewesen. Das war vielleicht ihr einziger Charakterzug, der so extrem ausgeprägt war, dass er als Stereotyp gelten könnte. So erklärte sich auch die Sprechweise der Balden: Niemand sollte durch Sprache ausgegrenzt werden, deshalb wurden vorsorglich Ausdrucksweisen verschiedener sozialer Schichten vermischt.

399
477,97 ₽
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432 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783959913584
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Правообладатель:
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