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Nathan R. Corwyn

Keeva McCullen - Dämonen in London

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Dämonen in London

Informationen zur Romanreihe

Impressum neobooks

Dämonen in London

„Gehe, mein Diener! Durchschreite das Tor und säe Unheil und Verderben. Bereite uns den Weg!“, rief der Erzdämon.

Der Höllenhund verzog das Maul zu einem teuflischen Grinsen und entblößte riesige Fangzähne. Er schüttelte sein mächtiges Haupt, seine Augen glühten rot vor Vorfreude. Er hatte Hunger - schon seit vielen Jahren - und bald würde er ihn endlich stillen können.

„Geh!“, rief sein Herr erneut.

Der Höllenhund leistete ohne weiteres Zögern dem Befehl Folge.

Mit einem einzigen, kraftvollen Sprung landete er auf dem steinernen Absatz vor dem Dämonentor. Das Tor war gerade groß genug für seinen Leib und auch sonst nicht besonders spektakulär: eine ovale, bläulich schimmernde Scheibe, die senkrecht auf einem kleinen Felsplateau schwebte. In dieser riesigen Höhle wirkte es geradezu winzig – und doch würde es genügen, damit er auf die andere Seite gelangte.

Wenn er erst einmal dort sein und seinem Auftrag nachkommen konnte, dann würde das Tor wachsen - genau wie die Macht seines Herrn wachsen würde. Er allein hatte die Ehre erhalten, das Tor als Erster durchschreiten zu dürfen und so Wegbereiter für eine neue Zeit zu sein - einer Zeit, in der die Dämonen endlich wieder die Herrscher über London sein würden.

Stolz blickte er sich um. In der Mitte der Höhle tobten Elmsfeuer in einer Kuppel aus durchsichtigem Kristall und warfen flackerndes kaltes Licht auf die Gesichter der Umstehenden. Es waren nicht viele gekommen, um seinem Abschied beizuwohnen. Lediglich sein Meister und eine kleine Schar niederer Dämonen standen vor dem Plateau und blickten ihn an, die niederen Dämonen erwartungsvoll, sein Meister mit zunehmender Ungeduld.

Der Höllenhund wusste, dass er eine wichtige Rolle spielte. Vor genau zehn Jahren war dieses Tor verschlossen worden und ihnen dieser Weg seither versperrt. In dieser langen Zeit war sein Hunger stetig gewachsen und hatte ein Ausmaß erreicht, das er kaum noch in Zaum halten konnte.

Doch nun war endlich der Zeitpunkt gekommen und das Tor wieder frei. Ein großer Tag für die Dämonenwelt! Jetzt lag es nur noch an ihm und er hatte sich fest vorgenommen, nicht zu scheitern.

Er überlegte, ob ein lautes Brüllen angemessen wäre, um die Wichtigkeit dieses Augenblickes noch zusätzlich zu unterstreichen – doch ein Blick in das Gesicht seines Meisters ließ ihn schnell anderer Meinung werden. Wenn er hier noch lange herumstand, dann würde der Meister womöglich einem anderen niederen Dämon diese Aufgabe übergeben. Einem, der nicht so trödelte.

Also begnügte er sich mit dem erneuten Schütteln seiner imposanten Kopftentakel – er wusste, wie majestätisch das wirkte -, machte eine Schritt nach vorne und trat durch das Tor.

*

Die Ankunft auf der anderen Seite war ernüchternd. Der Dämon wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber bestimmt nicht das.

Er blickte sich um. Das Zimmer, an dessen Wand das Dämonentor kaum sichtbar bläulich flimmerte, war zwar geräumig, aber völlig heruntergekommen. Es handelte sich um ein Dachzimmer, die schrägen Balken über ihm trugen eine lückenhafte Ziegeldecke, durch die an vielen Stellen Streifen von Mondlicht auf den dreckigen Holzboden fielen. Überall lagen Gegenstände herum, von einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Höllenhund konnte ein paar grob gezimmerte Möbelstücke sowie einige achtlos in die Ecke geworfene Kisten erkennen.

Als er sich zur Seite drehte, stieß er mit seinem Hinterleib gegen eine wackeligen Stuhl, der prompt umfiel und zerbrach. Der Dämon grunzte. Was für ein kläglicher Durchgang in diese Welt. Er würde dafür sorgen, dass sein Meister einen prächtigeren Durchschlupf bekam. Doch dafür musste er erst dessen Macht vergrößern - und so viele Menschen töten wie nur möglich.

Seine Mägen knurrten laut und vernehmlich. Was zögerte er noch? Er sollte fressen und zwar schnell! Schließlich hatte er all die Jahre nur auf diesen einen Moment gewartet und sein Appetit war grenzenlos. Die gespaltene Zunge fuhr über sein lippenloses Maul und einige Tropfen Speichel fielen zu Boden, formten dunkle, kreisrunde Flecken auf dem ausgetrockneten Holz.

Der Höllenhund ging zu dem schmutzigen Fenster an der Dachschräge und bemühte sich, dabei nicht noch mehr zu zerstören. Er wusste noch nicht, wo er sich befand, und wollte nicht unnötig früh durch Lärm auf sich aufmerksam machen.

Ein Blick durch das Fenster zeigte ihm, dass er mitten in der Stadt gelandet war. Rund um ihn herum breiteten sich die Dächer von London aus. Etwas irritiert bemerkte der Dämon, dass sämtliche Fenster erleuchtet zu sein schienen. Es war kurz vor Mitternacht, sollten da nicht eigentlich die meisten Menschen bereits schlafen?

Erneut fuhr er sich mit der Zunge über das Maul, als er lautes Glockenläuten vernahm - und um ihn herum mit einem Schlag ein grauenvoller Tumult ausbrach!

Knallen, das an Schüsse erinnerte, dröhnte von allen Seiten durch die Nacht, Lichtspuren schossen vom Boden in den Himmel, zerbarsten am Firmament und formten unzählige feurige Kuppeln. Es sah fast aus die wie wild gewordenes Elmsfeuer, nur dass es in allen möglichen Farben leuchtete, nicht nur in kühlem Blau.

Eine Kakophonie aus Donner, Heulen und Zischen drang auf ihn ein und er stieß ein völlig undämonisches Quieken aus. Hatten die Menschen ihn erwartet? Hatte jemand gewusst, dass seit heute das ehemals verschlossene Tor wieder für einen winzigen Spalt geöffnet war? Nein, das konnte nicht sein!

Trotzdem musste er fliehen, musste er ein sicheres Versteck finden! Panisch durchquerte er den kleinen Raum mit wenigen Sätzen und zermalmte dabei alles, was ihm unter die rasiermesserscharfen Klauen kam. Es war ihm völlig egal, was nun zu Bruch ging, er wollte nur noch weg!

Mit einem einzigen Prankenhieb zerschlug er die dicke Holztür, sprang durch die Öffnung und gelangte in ein unbeleuchtetes und ebenfalls völlig heruntergekommenes Treppenhaus. Ohne zu zögern stürzte der Höllenhund die Treppen hinunter, durchbrach eine weitere Tür und stand schließlich in einem engen und düsteren Hinterhof.

Hier hielt er inne, gerade so lange, bis er einen mit einem Bretterzaun versperrten Durchgang erblickte. Sofort hetzte er auf diesen zu, übersprang die stümperhaft zusammen genagelte Bretterwand mit einem kraftvollen Satz, jagte mit eingezogenem Kopf um einige Häuserecken und verschwand schließlich jaulend in der Sicherheit verheißenden Dunkelheit eines naheliegenden Parks.

*

„Diese verfluchten Taxis! Nie ist eines zu bekommen, wenn man es braucht!“

Jeremy Reese hackte mit dem Zeigefinger wütend auf dem Display seines Smartphones herum und hielt es sich anschließend zum bestimmt hundertsten Mal ans Ohr.

„Jetzt ist sogar schon die Nummer der Zentrale besetzt!“, rief er genervt, legte auf und versuchte es erneut.

Tilly, die sich seit letztem Jahr und nach einer endlos langen Verlobungszeit endlich Mrs Reese nennen durfte, stützte sich ein paar Meter hinter ihm an einer Hauswand ab und ignorierte seinen Zorn. Sie hatte andere Probleme. Ihre Seidenstrumpfhosen hatten in den neuen Pumps, die sie sich extra für diese Silvesterparty gekauft hatte, Falten gebildet und die empfindliche Haut an der Oberseite der Füße im Laufe des langen Abends wund gescheuert. Jetzt hielt sie immer wieder an, hob abwechselnd (und soweit ihr enger Rock es zuließ) die Füße und zog an den Strumpfhosen, um die Falten zu glätten und die Schmerzen etwas zu lindern. Doch es half nichts, kaum ging sie ein paar Meter, schon hatte sich der dünne Stoff wieder in die Schuhe gezogen und die Tortur begann von Neuem.

Seufzend gab sie auf und stolperte Jeremy hinterher. Sie hatte ganz schön einen sitzen, stellte sie fest, denn ihr Lauf war alles andere als gerade.

„Warte doch auf mich“, rief sie, aber Jeremy interessierte sich nur für sein Telefon. Als sie ihn endlich doch eingeholt hatte – eine ganz schöne Leistung für zwölf Zentimeter Absatz, wie sie fand – hängte sie sich etwas atemlos an seinen Arm. Er sah sie gereizt an, verlangsamte jedoch seinen Gang und verzichtete auch darauf, sie abzuschütteln. Das fand sie irgendwie nett.

„Dann gehen wir eben zu Fuß“, sagte sie beruhigend und war froh um die Stütze, die er ihr bot. „Es ist doch nicht kalt und ein wenig frische Luft tut uns gut.“

Er brummelte etwas Unverständliches, widersprach ihr aber nicht. Und sein Smartphone ließ er auch in Ruhe, wie Tilly erleichtert bemerkte.

Schweigend gingen sie weiter.

Es war fast drei Uhr morgens und das Silvesterfeuerwerk war so ziemlich zur Ruhe gekommen. Nur noch ganz vereinzelt waren ein paar Böller zu hören, ansonsten legten die Bewohner der Stadt sich nun langsam schlafen und immer mehr Lichter gingen aus. Morgen würden Aufräumkommandos die Überreste der nächtlichen Feier aufsammeln - vielleicht würde es auch noch bis Übermorgen dauern, die Stadt war groß und musste sparen -, aber danach würde der Alltag wieder einkehren und das neue Jahr genauso weitergehen, wie das alte geendet hatte.

„Wie hat dir die Feier gefallen?“, fragte Tilly.

„Ach, ganz gut“, meinte Jeremy abwesend.

Wahrscheinlich war er mit den Gedanken bei irgendeinem Geschäftsabschluss, dachte Tilly. Jeremy plante, noch vor seinem dreißigsten Geburtstag ein großes Tier in der Londoner City zu sein. Nun, viel Zeit hat er dafür nicht mehr, dachte Tilly mit einer gewissen Schadenfreude. Nächstes Jahr war es soweit. Doch sie musste zugeben, dass er bereits jetzt ansehnlich weit gekommen war.

Über Geldsorgen brauchte sie nicht zu klagen – eher schon über seine ständige Abwesenheit. Aber man konnte nicht alles haben. Und im Zweifelsfall war ihr eine Menge Geld schon lieber.

„Regina hat ganz schön zugenommen, finde ich“, meinte sie und ärgerte sich, als Jeremy auch jetzt nicht reagierte. Er hatte dieser Tussi verdammt oft auf den dicken Hintern gestarrt, fand sie. Dabei war sie selbst heute Abend ziemlich sexy gewesen, in ihren neuen Schuhen und dem hautengen Kleid. Und Jeremy hatte es überhaupt nicht bemerkt. Andere Männer dafür schon. Sie unterdrückte ein selbstgefälliges Kichern.

„Findest du nicht?“, hakte sie nach. Sie gingen gerade am Eingang zu einem weitläufigen Parkgelände vorbei.

„Was?“, schreckte Jeremy hoch. Offensichtlich hatte er nicht zugehört. Mal wieder.

„Ich habe über Reginas offensichtliche Gewichtsprobleme geredet“, wiederholte Tilly und bemühte sich, nicht allzu giftig zu klingen. Vergeblich, wie ihr sogar selbst auffiel.

Doch Jeremy ignorierte ihr Geplapper noch immer. Stattdessen wurde er langsamer, blieb schließlich ganz stehen und wandte sich ihr zu.

„Was meinst du“, sagte er, „Sollen wir die Abkürzung durch den Park nehmen?“

Er war der faulste Mensch, den sie kannte! Sie war diejenige mit den wunden Füßen, aber er scheute jegliche überflüssige Bewegung. Immer, nicht nur jetzt!

Dabei könnte gerade ihm etwas Sport ganz und gar nicht schaden. Der Schwimmring um seine Hüften war unübersehbar, da konnte er morgens auf der Waage seinen Bauch einziehen soviel er wollte!

Aber im Grunde hatte er recht, wenigstens heute Nacht. Auch sie wurde mit jeder Minute müder und sehnte sich nach ihrem Bett. Und danach, endlich diese mörderisch schmerzenden Schuhe loszuwerden.

Dummerweise war das Parkgelände unbeleuchtet – und ganz schön unheimlich. Andererseits: was sollte an einem Neujahrsmorgen mitten in einer Millionenstadt schon groß passieren? In wenigen Minuten würden sie den dunklen Park durchquert haben – und dadurch doch eine gute halbe Stunde Lauferei einsparen.

Der Gedanke an ihre wunden Füße und die verlockende Aussicht, die Pumps deutlich eher in die Ecke schleudern zu können, gaben den Ausschlag.

„In Ordnung“, sagte sie daher, hakte sich noch etwas fester bei Jeremy ein und zog ihn kurz entschlossen auf den finsteren Kiesweg - ehe sie der Mut verließ und sie es sich womöglich doch noch anders überlegte.

*

Keeva McCullen schreckte hoch. Irgendein später Feiernder hatte anscheinend noch einen Böller in seiner Tasche entdeckt, ihn unten auf der Straße gezündet und sie dadurch geweckt.

Mit offenen Augen blieb sie in ihrem Bett liegen, wartete, bis ihr klopfendes Herz sich wieder beruhigte und dachte an den vergangenen Abend.

Es war so gewesen, wie es zu jedem Silvester in den letzten zehn Jahren gewesen war: ihr Vater, Liam McCullen, hatte sich zwar um Fröhlichkeit bemüht, war aber trotzdem nicht in der Lage gewesen, die tiefe Trauer zu verbergen, die gerade an diesem Tag immer besonders stark von ihm Besitz ergriff. Denn Silvester – und Neujahr – waren für Keeva und ihren Vater nicht nur wegen des Jahreswechsels ein besonderes Datum.

Zum einen war der 1. Januar zugleich auch Keevas Geburtstag. Heute vor achtzehn Jahren - um drei Uhr morgens, genau in dieser Minute, wie Keeva mit einem schnellen Seitenblick auf den Wecker feststellte – waren sie und ihr Zwillingsbruder Gabriel geboren worden.

Und acht Jahre später, also heute vor zehn Jahren, waren ihr Bruder Gabriel und ihre Mutter Rachel in einem Kampf gegen die Dämonenwelt ums Leben gekommen.

Jegliche Erinnerung an diesen Kampf war aus Keevas Gedächtnis getilgt, obwohl sie damals dabei gewesen war. Die Jahre davor und danach waren ihr lückenlos in Erinnerung – nur nicht diese eine Nacht. Sie wusste nur, was man ihr erzählt hat: dass ihr Vater nur sie hatte retten können. Seine Frau und seinen Sohn hingegen hatte er in dieser Nacht verloren, hatte ihr Sterben mit ansehen müssen. Und war seither nicht mehr derselbe Mann.

Keeva seufzte und drehte sich auf die Seite. Um Mitternacht hatten Vater und Großvater ihr gratuliert und Vater hatte dabei kaum seine Tränen zurückhalten können. Keeva spürte sehr wohl, dass er sie liebte und sich über jeden ihrer Geburtstage freute – aber trotzdem war die Trauer über seinen schrecklichen Verlust einfach stärker.

Ihr Geburtstag wurde dadurch nicht gerade zu einem Tag der Freude, auch wenn sie es verstehen konnte. In ein paar Stunden, am heutigen Abend, würden sie zusammen mit einigen wenigen Freunden ein schönes Abendessen genießen, Keeva würde ihre Geschenke in Empfang nehmen, und das war es dann.

Manchmal fragte Keeva sich, ob Vater den Verlust nicht etwas leichter verkraftet hätte, wenn ihr Bruder Gabriel das überlebende Kind gewesen wäre, und nicht sie, das Mädchen. Dann hätte Vater wenigstens jemanden gehabt, den er zu seinem Nachfolger hätte ausbilden können.

Sie selbst kam dafür nicht infrage. Frauen konnten keine Dämonenjäger werden, so verlangte es die Regel. Und Vater hielt sich an die Regeln – zumindest an die der Dämonenjäger.

Keevas Großvater, Robert Paddock, hatte seine Meinung darüber in den letzten Jahren jedoch geändert.

Keevas Mutter Rachel war sein einziges Kind gewesen. Damals, lange vor Keevas Geburt, hatte Großvater ebenfalls noch an die Richtigkeit der Regel geglaubt und seine Kenntnisse nicht an seine Tochter weitergegeben. Stattdessen hatte er den damals zehnjährigen Liam zum Jäger ausgebildet - der später nicht nur sein Nachfolger, sondern auch sein Schwiegersohn geworden war.

Als es in jener schicksalhaften Nacht vor zehn Jahren schließlich zum finalen Kampf gegen die Dämonen gekommen war, war Rachel vollkommen unvorbereitet und daher auch nicht in der Lage gewesen, sich gegen diesen Angriff auf irgendeine Weise zu schützen. Wenn sie zumindest die Grundausbildung zum Dämonenjäger genossen hätte, dann wäre der Kampf womöglich vollkommen anders ausgegangen. Zu dieser Erkenntnis war jedenfalls Robert Paddock gelangt – und das war auch der Grund, warum er seine Meinung zur Ausbildung von Frauen geändert hatte.

Keevas Vater jedoch hielt unverbrüchlich an der starren Regel fest. Frauen durften keine Jäger werden, schließlich gab es diese Regel nicht ohne Grund. Es war nämlich nicht bloß deswegen verboten, weil man Frauen für nicht kräftig genug hielt – körperliche Stärke war keine grundlegende Voraussetzung für den Kampf gegen die Höllenwelt. Nein, Frauen hatten eine gänzlich andere Schwachstelle, die Männer nicht besaßen...

Gedankenverloren spielte Keeva mit dem Amulett, das sie seit dieser grauenvollen Nacht immer um den Hals trug. Es sollte sie schützen – aber ihre Mutter hatte es auch nur unzureichend geschützt. Trotzdem, es war das einzige Andenken, das sie an ihre Mutter besaß. Allein schon aus diesem Grund würde sie es niemals ablegen.

Unruhig stand sie auf und ging zum Fenster. Ihr Zimmer befand sich im obersten Stockwerk eines alten viktorianischen Reihenhauses und sie konnte weit über die Dächer von London blicken. Sie öffnete das Fenster und streckte den Kopf hinaus.

Es war still, auch die letzten Böller waren inzwischen verklungen und Dunkelheit breitete sich langsam über die Stadt aus. Alles wirkte friedlich und vollkommen normal. Trotzdem war Keeva plötzlich irritiert und runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. Oder bildete sie sich das nur ein?

Sie beugte sich etwas weiter hinaus und konzentrierte sich. Es war drei Uhr morgens, die Uhrzeit, zu der die Verbindung zum Reich der Finsternis am stärksten war. Doch heute war es zudem auch noch der Zeitpunkt, an dem sie zur Welt gekommen war - weshalb sie jetzt, in dieser Stunde, ungewöhnlich empfindlich auf übersinnliche Schwingungen reagierte.

Und gerade eben hatte sie geglaubt, welche empfangen zu haben.

Diese Empfindungen waren nur ganz leicht und weit entfernt zu spüren gewesen und auch sofort wieder verschwunden - trotzdem lief ihr ein Schauder über den Rücken. Unwillkürlich schloss sie ihre Hand um das Amulett und zog sich wieder ins Zimmer zurück.

Es war etwas im nächtlichen London unterwegs, etwas unvorstellbar Böses. Keeva war sich dessen sicher, denn sie hatte für wenige Sekundenbruchteile das Lauern dieser Kreatur fühlen können – und ihren Hunger.

*

Jetzt schmerzten nicht nur Tillys Füße, auch ihre Blase machte ihr zunehmend zu schaffen. Sie hätte sich beim Champagner eindeutig zurückhalten sollen, doch wann hatte man sonst schon die Gelegenheit, auf Kosten anderer das teure Getränk ohne Mengenbeschränkung in sich hineinschütten zu können?

Außerdem hatte sie ja irgendeine Beschäftigung gebraucht, nachdem Jeremy den ganzen Abend nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als seine Geschäftskontakte zu vertiefen. Und auf dicke Hintern zu starren.

Von den Gesprächen, die er mit den anwesenden Kollegen und möglichen Kunden geführt hatte, hatte Tilly sowieso kein Wort verstanden. Also war sie freundlich lächelnd daneben gestanden und hatte beim vorbeiziehenden Personal unermüdlich ein leeres Glas gegen ein volles ausgetauscht.

Auf diese Art und Weise hatte sie wenigstens die ganze Zeit etwas in der Hand gehabt. Und konnte, während sie einen Schluck oder auch mehrere nahm, mit sexy Augenaufschlag über den Rand des Glases hinweg das jeweilige Gegenüber vielversprechend anblicken - vorausgesetzt es war männlich.

Jeremy hatte ihr mehrfach eingeschärft, dass sie beim flirten nicht zimperlich sein und ruhig ihre Vorzüge einsetzen durfte – denn das wäre ihm sicherlich von Nutzen.

Psychologische Kriegsführung sozusagen.

Nun, das hatte sie brav den ganzen Abend getan – und nun musste sie aufs Klo, und zwar so schnell wie möglich.

Ein wenig ängstlich blickte sie sich um. Seit sie und Jeremy in den Park abgebogen waren, hatten sie geschwiegen. Tilly aus Angst, dass der Schluckauf (der sich bereits seit ein paar Minuten ankündigte) endgültig zum Ausbruch kommen könnte – dann würde sie minutenlang kein vernünftiges Wort mehr herausbringen. Und Jeremy, weil er sich schon wieder mit seinem bescheuerten Smartphone beschäftigte und irgendwelche Informationen im Internet abfragte.

Wahrscheinlich die neuesten Börsenberichte, dachte Tilly boshaft. Denn wenn Mister Jeremy Reeves die Kurse nicht in jeder wachen Minuten im Auge behielt, dann gerieten sie bestimmt völlig außer Kontrolle.

Sie musste allerdings zugeben, dass das sanft schimmernde Licht des Displays ein wenig beruhigend auf sie wirkte. Die Dunkelheit um sie herum war unheimlich – und die zunehmende Stille ebenfalls. Hatte Tilly sich vorhin noch gewünscht, dass es endlich ein wenig leiser wäre, so empfand sie gerade das jetzt eher als bedrohlich. Hier, mitten im finsteren Gelände, hätte der lebendige Lärm einer ordentlichen Party ziemlich tröstlich gewirkt.

Doch so, fiel ihr auf, war jeder ihrer Schritte überdeutlich zu vernehmen. Jeremys elegante Lederschuhe knirschten laut und gleichmäßig, wohingegen Tillys Mörderpumps eine schnelle Folge von Klicks von sich gaben – und hin und wieder ein schlurfendes Geräusch, wenn sie stolperte. Was leider doch das eine oder andere Mal passierte und Jeremy jedes Mal dazu veranlasste, sie prüfend und leicht gereizt anzusehen.

Wenigstens sagte er nichts und ersparte ihr somit eine Diskussion. Als er vor einigen Tagen unerwartet früh von der Arbeit nachhause gekommen war und sie mit einem frisch gefüllten Glas Prosecco in der Küche erwischt hatte, war das Gespräch danach recht unerfreulich gewesen.

Jeremy hatte so getan, als hätte er es bisher nicht bemerkt, dass Tilly tagsüber ihren langweiligen Alltag ganz gerne mit einem – oder auch zwei – Fläschchen des italienischen Schaumweins aufhellte.

Was soll das?, hatte Tilly gedacht, als Jeremy aufgebracht auf sie eingeredet hatte. Wenn er bisher nichts bemerkt hatte, wozu also die Aufregung? Nur weil sie es dieses eine Mal nicht geschafft hatte, die leeren Flaschen rechtzeitig vor seiner Heimkehr zu entsorgen? Was hatte er denn geglaubt, wo ihre Fahne und der leicht unsichere Gang jeden Abend herkamen? Etwa von dem bisschen Weißwein, den sie zu seinem Feierabend immer gut gekühlt angeboten hatte? Wohl kaum. Und wenn sie, wie er behauptete, tatsächlich so etwas wie eine beginnende Alkoholikerin war, warum hatte er das denn nicht schon früher bemerkt? Schließlich machte sie das bereits seit mindestens zwei Jahren. Außerdem regte sie sich ja auch nicht über seine Zigaretten auf.

Tilly seufzte – und prompt stellte sich der Schluckauf ein. Sie presste die Lippen zusammen. Vielleicht würde sie dieses Jahr wirklich ein wenig kürzer treten und sich eine sinnvolle Beschäftigung zur Bekämpfung ihrer Langeweile suchen.

Fitnesstraining oder Yoga oder so etwas, das war gut für die Figur.

Aber das konnte man doch auch nicht zehn Stunden am Tag machen, oder? Es würde also noch immer genügend leere Zeit übrig bleiben, die sie einfach nicht zu füllen wusste.

*

Der Höllenhund lag im Gebüsch und leckte seine Wunde. Er war enttäuscht über die Welt der Menschen. Sie war laut, grell und unheimlich schmutzig. Und diese Wesen hielten sich für besser als die Bewohner der Dämonenwelt? Er schnaubte abfällig. In seiner Welt lagen jedenfalls keine zerschlagenen Bierflaschen auf dem Boden, deren scharfe Scherben einem den Fuß aufschlitzen konnten.

Vor ein paar Stunden, kurz nach seiner wilden Flucht aus dem Dachzimmer, hatte er recht bald begriffen, dass die Lichterscheinungen und die lauten Knallereien von einem Silvesterfeuerwerk herrührten – aber da war es bereits zu spät gewesen. Bei einem seiner weiten Sprünge war er mit der rechten Vorderpfote auf einer dieser Scherben gelandet und hatte sich eine tiefe und ausgesprochen schmerzhafte Schnittwunde zugezogen.

Er hatte sich daraufhin in dem angenehm dunklen Gebüsch des Parks, in den er so kopflos geflohen war, versteckt und gewartet, bis das Feuerwerk endlich ein Ende finden und seine Pfote nicht mehr so stark bluten würde.

Jetzt sickerte nur noch ein dünnes Rinnsal aus dem Schnitt, aber es schmerzte nach wie vor äußerst heftig. Hinzu kam das zunehmend unerträglicher werdende Hungergefühl in seinen zwei Mägen. Jetzt war er bereits seit drei Stunden hier und hatte noch immer kein Menschenfleisch gekostet!

Seine Laune war gerade dabei, auf einen absoluten Tiefpunkt zu sinken, als er Schritte vernahm. Erfreut schlich er zum Rande des Gebüsches und blickte auf den Weg, der sich für ihn deutlich sichtbar durch den weitläufigen Park schlängelte. Er konnte sein Glück kaum fassen, als er die zwei Menschen erblickte, die geradewegs in seine Richtung liefen.

Er bleckte die Zähne und vergaß schlagartig seine schmerzende Pfote. Endlich würde er mit seiner Aufgabe beginnen und seinen Hunger stillen können!

Er hob den Kopf, um die Witterung der beiden Menschen aufzunehmen. Angewidert verzog er die Nase. Der leichte Wind trug ihm den deutlichen Geruch nach einem übertrieben blumigen Parfüm entgegen, das allerdings nicht in der Lage war, den darunterliegenden Schweißgeruch der Menschen zu überdecken. Doch als noch weitaus unangenehmer empfand er den Alkoholdampf, der alles überdeckte. Er ekelte sich. Menschen waren einfach widerlich!

Am liebsten hätte er diese beiden weiterziehen lassen, doch seine leeren Mägen ließen es nicht zu, dass er auf appetitlichere Exemplare wartete. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass die zwei nur ein Vorgeschmack auf die kommenden Genüsse sein würden – und er später hoffentlich ein paar ansprechendere Ausfertigungen zwischen die Reißzähne bekommen würde.

Neugierig beobachtete er, wie die beiden näher kamen. Der Größere - das Männchen, wie er vermutete - hatte etwas in der Hand, das einen seltsamen grünlichen Lichtschimmer verbreitete. Der Mann schien völlig darauf konzentriert zu sein. Ob es eine Art Spiegel darstellte?

So langsam konnte der Höllenhund die Ausdünstungen der beiden Menschen differenzierter wahrnehmen. Die schauderhafte Mischung aus Alkohol, Parfüm und Schweiß stammte eindeutig von der Frau. Dafür stank der Mann so stark nach Rauch, als hätte er eine Weile in einem brennenden Haus gestanden.

Der Höllenhund wusste, dass dieser Geruch von kleinen Stangen aus fermentierten Pflanzen stammte, die sich manche Menschen in den Mund steckten, anzündeten und den dabei entstehenden Rauch schließlich inhalierten. Er konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, welchen Nutzen oder gar Genuss man daraus ziehen konnte – aber er hatte es bereits jetzt, nach nur wenigen Stunden in dieser Welt, aufgegeben, die seltsamen und in seinen Augen ekelerregenden Gewohnheiten der Menschen verstehen zu wollen.

Seine Mägen knurrten so laut, dass der Dämon kurzzeitig Angst hatte, den beiden näher kommenden Menschen würde das Geräusch auffallen. Doch dann dachte er an das unterentwickelte Gehör dieser Spezies – ein weiterer Beweis für deren Unzulänglichkeit – und er legte sich beruhigt auf den kalten Boden und wartete.

*

Tilly hielt es nicht mehr aus.

„Ich muss mal“, sagte sie und blieb einfach stehen. Da sie noch immer Jeremys Arm fest im Griff hatte, blieb ihm nichts anders übrig, als ebenfalls zu stoppen und endlich von seinem dämlichen Smartphone aufzublicken.

„Hier?“, fragte er entgeistert.

„Wäre es dir lieber, wenn ich mich dort vorne, wo der Park wieder vorbei ist, an den Straßenrand setze?“, fragte sie und hickste. Verdammt!

„Du bist ja schon wieder betrunken“, sagte er. Was hatte er denn gedacht? Dass sie die Silvesternacht stocknüchtern und langweilig verbringen würde, so wie er?

Den Ausdruck schon wieder hätte er sich allerdings sparen können. Tilly hätte ihn gerne zurechtgewiesen, aber ihr Schluckauf hinderte sie daran. Also begnügte sie sich damit, ihn böse anzublicken, löste sich von seinem Arm und stolperte über die Wiese in Richtung eines dichten Gebüsches.

„Warum gehst du so weit weg?“, rief Jeremy ihr hinterher. „Hier ist doch niemand. Setz' dich doch einfach auf die Wiese.“

Tilly ignorierte ihn wütend. Hielt er sie für einen Hund, der sein Geschäft überall verrichten konnte? Nein, sie besaß noch Reste von Anstand. Außerdem brauchte sie etwas, woran sie sich festhalten konnte, wenn sie in die Hocke ging.

Der Boden war halb gefroren und von einer dünnen Schicht Schnee bedeckt, so dass ihre dünnen Absätze nur leicht einsanken. Trotzdem fiel es ihr schwer, vernünftig zu gehen, ihre Knöchel knickten immer wieder seitlich weg. Sollte sie vielleicht doch... ?

Sie drehte sich halb um und wollte Jeremy gerade fragen, ob er nicht zu ihr kommen und sie stützen könne, als sie an seiner Körperhaltung erkannte, dass er schon wieder auf sein verfluchtes Lieblingsspielzeug starrte.

Das machte sie wütend. Sie ging hier mutterseelenallein in stockfinsterer Nacht durch einen menschenleeren Park – und er dachte nur an sein Geschäft, statt vielleicht ein wachsames Auge auf seine frisch angetraute Ehefrau zu haben. Sie schnaubte. Na warte, dachte sie, dir jage ich einen gehörigen Schrecken ein.

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