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Mitra Devi

SEELENSPLITTER

Mitra Devi

SEELENSPLITTER

Nora Tabanis dritter Fall

Appenzeller Verlag

1. Auflage, 2010

© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau

Alle Rechte der Verbreitung,

auch durch Film, Radio und Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe,

Tonträger, elektronische Datenträger und

auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Anna Furrer

ISBN Buch: 978-3-85882-518-6

ISBN eBook: 978-3-85882-587-2

www.appenzellerverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

1

Vollmond. Mitternacht. Die Kirchturmuhr des falschen Gottes schlug zwölf. Vom Dorf her hörte sie die Glocken läuten, bronzene Klänge, die übers Feld wehten. Sie beleidigten ihr Ohr, waren für andere gedacht, nicht für sie. Niemals würde sie einem männlichen Wesen huldigen, sie verehrte die dunkle Göttin. Die Weise, die Grausame. Sie liebte und fürchtete sie. Brachte ihr Opfer. Tötete für sie.

Ein Ruck ging durch ihren Körper, als der letzte Schlag verhallt war. Sie löste sich aus der Starre. Einen Augenblick reflektierte die Fensterscheibe ihre Gestalt. Ihre wirren, langen Haare verdeckten die Hälfte des Gesichts. Sie wirkte um Jahre älter als siebenundzwanzig, das wusste sie. Doch Äusserlichkeiten hatten für sie noch nie eine Rolle gespielt. Ihre Seele war uralt, abgrundtief, nur noch spinnwebendünn mit ihrem Leib verbunden und würde sich bald von ihrer fleischlichen Hülle lösen. Die Dämonen, die seit ihrer Kindheit nach ihr gierten, würden bald ins Leere greifen.

Sie öffnete das Fenster, liess ihren Blick über den Garten schweifen. Das fahle Licht erhellte die Beete, die die Form von Gräbern hatten. Die Salatköpfe waren bedeckt mit Tausenden von Tautropfen, in denen sich der Mond spiegelte. Drumherum ragten die Holzzacken des Zauns wie Zähne eines riesigen Krokodils in den nächtlichen Himmel.

Sie wandte sich ab und schritt mit bauschendem Rock durch den Korridor. Heute würde sie die Ernte verarbeiten, Wein und Gift zu einem tödlichen Trunk mischen. Ein böser Mensch musste sterben. Noch ein letztes Mal sollte er im Feuertanz zucken, bevor die allmächtige Mutter ihn mit Haut und Haar verschlänge. Zurück in die Erde mit seinem schändlichen Körper! Zurück in den Boden, wo Würmer, Käfer und anderes Getier darauf warteten, seine Überreste zu zersetzen. Wo seine Gedärme faulten und rotteten, bis sie sich in ihre Bestandteile auflösten, wieder zu Staub wurden, und neues Leben daraus entstand. Der ewige Kreislauf der Natur.

Ihre Lippen zuckten, die Rache loderte in ihr. Es war richtig, was sie tat, es war der einzige Weg zum Frieden. Die Stimmen in ihrem Kopf würden endlich zum Schweigen gebracht werden.

Als sie in den Dachstock emporstieg, knarrten die Stufen. In der Hand trug sie eine brennende schwarze Kerze. Kein elektrisches Licht durfte in dieser geweihten Nacht leuchten, ihre todbringenden Geschöpfe reagierten empfindlich auf Helligkeit. Sie öffnete die Tür, trat in den abgeschrägten Raum. Staubfusseln wirbelten auf. Der Mond schien bleich durch die Dachfenster. Die mit Leintüchern abgedeckten Möbel ihrer Grossmutter warfen bizarre Schatten an die Wände. Es roch nach Holz und altem Stoff.

Quer durch den Estrich des Bauernhauses war eine Schnur gespannt. Daran hingen sie, die Zauberkräftigen. Sie hatte die Wurzeln im Herbst ausgegraben und zum Trocknen an der Leine befestigt. In Reih und Glied, wie eine Armee verhutzelter Gnome, warteten sie darauf, zum Einsatz zu kommen. Galgenmännlein hatten die kräuterkundigen Frauen im Mittelalter die Pflanzen genannt, Henkerswurz, Folterknechtund Drachenpuppe.

Die magische Alraune.

Ihre Kräfte konnten Wundbrand lindern, Rheuma kurieren und Unfruchtbarkeit heilen. Ihre Beeren, eingenommen mit Zimt und Wachholderschnaps, liessen einem Flügel wachsen, mit denen man über die Äcker fliegen und die Wolkendecke durchstossen konnte. Sie machte reich und glücklich, die Alraune, steigerte die Lust und den Rausch, liess Weichteile anschwellen und Körpersäfte pulsieren, auf dass sich die heissen Leiber im rituellen Tanz vereinigten.

Aber die Pflanze war auch erbarmungslos. Schon immer hatte ihre menschenähnliche Form Angst und Schrecken verbreitet. Pflückte man sie ohne Respekt, blies sie einem den Hauch des Todes ins Gesicht, bestrafte die Frevler mit Albträumen, Herzrasen und Irrsinn. Sie, die hier stand, wusste das. Sie behandelte ihre magischen Freunde mit gebührender Ehrfurcht. Vor einigen Vollmonden hatte sie sie geerntet. Zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens. Mit abgewandtem Blick hatte sie in der Erde gegraben und auf den grauenhaften Schrei des Pflanzengeistes gewartet, der einen zu Stein erstarren liess, doch er war ausgeblieben. Die Alraunen vertrauten ihr. Willig liessen sie sich aus dem Boden ziehen und raunten ihr zu: «Deine Stunde ist gekommen. Tu es, Kind der dunklen Göttin, tu es!»

Sie stellte die Kerze auf den Boden. Vorsichtig löste sie dreizehn Galgenmännlein mit verschrumpelten Beinchen und Ärmchen von der Schnur. Dann raffte sie den Rock, legte die Wurzeln hinein und stieg die Treppe hinunter. In der Küche entzündete sie weitere Kerzen und stellte sie im Halbkreis auf den Tisch. Das Messer lag bereit. Rotwein, Vanilleschoten, Zucker und eine Prise Safran hatte sie daneben plaziert. Sie schüttete den Inhalt der Flasche in eine Schale und gab die Gewürze dazu. Dann schnitt sie die Alraunen in dünne Scheiben. Sie rochen wild und feurig. Die Stückchen schaufelte sie in die Flüssigkeit und vermischte sie. Mit dem Mörser zerquetschte sie alles zu einem bräunlichen Brei, drückte das Gift in den Wein, der es in sich aufnahm.

Jetzt brauchte der Trank Zeit, um seine volle Wirksamkeit zu erreichen. Er musste ziehen und sich entwickeln. In ein paar Tagen war er so weit. Dann würde sie die dicke Masse absieben, den Saft in ein Fläschchen füllen, es zustöpseln und nach Zürich bringen. Und der Mann würde das Gebräu trinken, würde von dieser Welt gefegt werden, nicht wissend, wie ihm geschieht.

Ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sie hörte ein Krächzen aus ihrer Kehle kommen und wusste nicht, ob es Gelächter oder Weinen war. Die Dämonen griffen wieder nach ihr, wisperten hässliche Worte. Sie sah ihre lidlosen Augen mit den roten Pupillen, fühlte die knochigen Finger, die sie würgten und ihr den Atem nahmen. Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, breitete sie die Arme aus, die wuchsen und wuchtiger wurden, als wären sie Raubvogelschwingen, die sich bis zum Ende des Firmaments erstreckten. «Ich bin Alruna», flüsterte sie, «Tochter der Finsternis. Alruna, Rächerin der Blutzeugen. »

Jan Berger wischte sich den Schweiss vom Gesicht. «Ich kann nicht mehr», stöhnte er.

«Du hast dein Soll noch nicht erfüllt. » Nora Tabani warf ihm einen aufmunternden Blick zu, was ihr etwas schwer fiel, da sie sich gerade die Lunge aus dem Leib strampelte. Auf der zweithöchsten Stufe des Fitnessclub-Velos zu radeln, war eine Plackerei. Und dabei bewegte man sich keinen Zentimeter vom Fleck. Psychologisch ganz schlecht. Aber sie musste mit gutem Vorbild vorangehen, immerhin war er mitgekommen. Lange genug hatte sie ihm in den Ohren gelegen, etwas für seine Figur zu tun. In den letzten Wochen hatte er vier Kilo zugenommen und sich immer wieder argwöhnisch von der Seite im Spiegel betrachtet. Aus seinem netten Bäuchlein drohte ein üppiges zu werden. Seine ganzkörperliche Verliebtheit verleite ihn dazu, mehr zu essen, behauptete er. Es musste ihn heftig erwischt haben.

«Wie lange noch?», keuchte Jan und trat etwas verhaltener in die Pedale.

Nora hatte gemerkt, dass er jedesmal einen Zacken zulegte, wenn sie ihn beobachtete, um gleich wieder zu verlangsamen, sobald sie zur Aerobic-Lehrerin auf dem Bildschirm schaute. Die Dame in glänzendem Pink im Sportsender schien über unerschöpfliche Kräfte zu verfügen, tanzte, sprang und hüpfte im Takt und schaffte es dabei, ein immerwährendes Lächeln auf ihren aufgespritzten Lippen zur Schau zu tragen. Und das Ganze in mannigfacher Ausführung. Acht Fernseher hingen nebeneinander vor den Ausdauergeräten an der Wand, auf jedem trieb die Unermüdliche ihr Unwesen und motivierte ihre Schäfchen zu Höchstleistungen.

«Noch zehn Minuten», sagte Nora mitleidlos. «Deine Monika möchte dich rank und schlank. »

«Meine Monika liebt mich, wie ich bin. »

«Sei etwas dankbarer. Keine andere Vorgesetzte lässt ihre Angestellten während der Arbeitszeit Fitness betreiben. »

Jan grinste zu ihr hinüber. «Ich dachte, du wolltest nicht, dass ich dich Chef nenne. Du sagst, wir seien ein Team, gleichberechtigt und souverän, und niemals im Leben würdest du den Macker raushängen. »

«Okay, dieser Punkt geht an dich. Aber vergiss nicht: mens sana in corpore sano. » Sie wollte mahnend den Zeigefinger hochhalten, was sie um ein Haar aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Bevor sie Richtung Lady in Pink stürzte, konnte sie sich an den Griffen festhalten.

«Verlier die Balance nicht, Chef. Ich lebe nach Churchills Motto. Du weisst schon: Sport ist Mord. »

Nora verdrehte theatralisch die Augen. Dann stellte sie den Schweregrad für die letzten Minuten aufs Maximum und gab, was sie konnte. Neben ihnen waren um diese Zeit nur wenige Leute im Fitnessstudio. Dienstagmorgen, kurz nach neun. Yvonne vom Empfang und Mädchen für alles tippte etwas in ihren Computer. Ein paar Frauen machten Yoga auf den Matten, ein Instruktor erklärte einem Neuling die verschiedenen Geräte und Gewichte, eine Handvoll regelmässiger Besucher absolvierte still die Übungen. Neben Nora radelte ein solariumgebräuntes, hageres Männchen, dessen Verfalldatum bereits seit einigen Jahren abgelaufen war, vor sich hin. Immer wieder blinzelte er zu ihr hinüber, da er wohl gemerkt hatte, dass sie und Jan kein Paar waren.

«Lass uns aufhören, Schatz», sagte Nora genüsslich laut zu Jan. Dieser zog verwundert eine Augenbraue hoch. Der alternde Geck zuckte zusammen und wandte sich einer anderen Frau zu.

Als sie das Training auf den Fahrrädern absolviert hatten, kamen die Kraftübungen an die Reihe. Bizeps, Trizeps, Bauch und Beine, dann Dehnen, dann Duschen. Nachdem Nora sich angezogen hatte, brachte sie ihre Haare in Form, wozu zwei, drei Rubbelbewegungen durch ihren dichten, kurzen Schopf genügten. Unter ihren gebleichten Strähnen war der dunkle Haaransatz zu sehen. Die ganze Bleichaktion war ein Reinfall gewesen. Blond passte nicht zu ihr. Und das angespannte Verhältnis zu Gaby, der Coiffeuse im unteren Stock, das Nora versucht hatte, mit der Opferung ihrer ursprünglichen Haarfarbe zu verbessern, war schlecht wie eh und je. Gaby war Kettenraucherin, ihre Kundinnen waren es auch. Der Zigarettengestank zog durchs Treppenhaus an der Seefeldstrasse, machte alle Bewohner verrückt und verpestete Noras Mansarde im Dachgeschoss und ihre Büroräume im ersten Stock.

Noras Arbeit als freie Detektivin lief nach anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen recht gut. Die Aufträge trafen nicht gerade im Rudel ein, doch nebst kleineren Überwachungen und Abklärungen hatte sie in letzter Zeit zwei grosse Fälle gelöst. Was für die Miete, Jans Lohn und ein Olivenbäumchen beim Eingang gereicht hatte. Jan war ein echter Lichtblick.

Seit bald einem Jahr arbeiteten sie schon zusammen, und er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. In ihm steckte viel mehr, als auf Anhieb erkennbar war. Vielleicht sogar mehr, als er selber ahnte.

Nora packte ihre Sporttasche und trat aus der Garderobe. Ihr Kollege sass bereits an der Bar und schwatzte mit Yvonne. Nora setzte sich zu ihm und bestellte einen frisch gepressten Orangensaft, wie er einen vor sich stehen hatte.

«Na», bemerkte sie, «das hat doch einmal mehr so richtig gut –»

«Sag jetzt nichts», gab er zurück. «Du hast ja Recht. Ich werde weiterhin Fitness treiben, auch wenn es mein Gemüt angreift. »

«Das hört man gern. » Sie nahm einen Schluck Saft und sah ihn eindringlich an. «Und was wolltest du mir wirklich mitteilen?»

«Wie meinst du das?» Er begann, seine Brille mit dem Ärmel zu putzen.

«Komm schon. Seit ein paar Tagen druckst du herum, und ich hab keine Ahnung, was es sein könnte. »

«He, Chef! Intuition war immer mein Gebiet, fang nicht auch noch damit an. »

«Also?»

«Nun gut. » Er setzte die Brille wieder auf. «Ich wollte dich um zwei Wochen Ferien bitten. Im Mai. »

«Verreist du?»

Er machte eine bedauernde Handbewegung. «Es tut mir leid. Ich weiss, wir hatten vor, unsere Homepage zu aktualisieren, die neuen Visitenkarten und Briefumschläge drucken zu lassen und all das. »

«Kein Problem!», sagte sie. «Damit komm ich auch allein klar. Das heisst, ich werd’s vor mir herschieben, bis du zurück bist. Wohin fährst du denn?»

Er strich sein spärliches Haar zur Seite und schaute sie so herzerwärmend an, dass sie verstand, was Monika an ihm fand. «In die Flitterwochen nach Madeira. Ich heirate. »

«Was, jetzt? Ich meine, wann? Warum so schnell?»

«Nora! Ich hab gedacht, du freust dich für mich. »

«Natürlich freu ich mich. Ich dachte nur, ihr kennt euch erst fünf Monate –»

«Vier. »

«Na eben. Ist das nicht ein bisschen überstürzt?»

Jan seufzte. «Ich bin neununddreissig. Monika wird im August vierzig. Wir wollten einfach noch in den Dreissigern heiraten. Verstehst du das nicht?»

«Doch, klar, Jan. Ich gönne es dir von Herzen, dass du einen Menschen hast, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen möchtest. » Oh, Gott, klang das pathetisch. Während sie es sagte, dachte sie an ihre Männergeschichten, die nichts anderes gewesen waren als genau das: Geschichten. Ein paar kurze, heftige Affären und eine längere Beziehung mit Joël aus Genf, der sich als Enttäuschung des Jahrzehnts herausgestellt hatte.

«Hallo? Jemand zu Hause?» Jan wedelte vor ihren Augen herum. «Vertreib Joël aus deinem Hirn. Ein Kerl, der dir seine Frau und Kinder verschwiegen hat, wäre eh nichts für dich gewesen. »

«Scheisse, hab ich laut geredet?»

Jan lachte. «Echt, Nora, manchmal bist du so was von durchschaubar. Bekomme ich nun die zwei Wochen im Mai?»

«Aber sicher. » Sie schüttelte die Vergangenheit ab und stürzte den letzten Rest Saft hinunter. «Trink deine Vitaminbombe aus, ein Stapel Arbeit wartet auf uns. »

«Aye, aye, Chef. »

2

Die Dachterrasse der Lagerhausfirma «Store & Go» neben dem Bahnhof Zürich-Altstetten war mit bunten Lampions dekoriert. Rote, blaue und gelbe Papierkugeln, die in die Nacht hinausleuchteten. Eine Riesengirlande hing am Geländer. Mit Goldbuchstaben waren die Worte «20 Jahre Store & Go» darauf geschrieben. Sarah Dobler brachte die Bowle heraus und plazierte sie mitten auf den Tisch. Daneben drapierte sie die Lachshäppchen, Schinkentriangoli und die Guacamole. Den Wein und die passenden Gläser stellte sie in versetzte Reihen, wie sie es kürzlich bei einer Vernissage gesehen hatte. Zum Schluss streute sie ein paar Rosenblätter auf die weissen Tischdecken, was dem Ganzen eine romantische Note verlieh. Roland und Tim würden sie zwar wieder auslachen, aber schliesslich hatte ihr Kowalski freie Hand gelassen. Ausnahmsweise hatte er sich diesmal grosszügig gezeigt, so dass sie bei den Delikatessen nicht geizen musste.

Sie trug ihre smaragdgrüne Bluse und hatte die Haare wie immer hochgesteckt. Ihr Make-up war dezent. Als einziger Schmuck schimmerte ein perlmuttfarbener Stein an ihrem Finger. Sie hatte damals für den Ring auf einem griechischen Markt nur ein paar Euro bezahlt, doch er war zu ihrem Lieblingsstück geworden.

Seit dem frühen Morgen hatte sie daran gearbeitet, aus dem heutigen Jubiläum einen ganz besonderen Tag zu machen. Das Wetter war für einen Frühlingsabend viel zu warm, so dass sie die Party draussen feiern konnten. Dennoch sorgten mehrere tragbare Elektroöfen in allen vier Ecken der Terrasse dafür, dass auch später niemandem kalt würde. Es war sternenklar. Obwohl die erleuchteten Häuser der Umgebung den Himmel erhellten, konnte Sarah den Grossen Wagen erkennen.

Selten hatte sie Gelegenheit, ihre kreativen Ideen in ihre Arbeit einfliessen zu lassen. Wenn es einmal möglich war wie heute, genoss sie das sehr. Es war zwar nicht wirklich die Aufgabe einer Chefsekretärin, ein Buffet anzurichten, doch sie hatte sich auf die Abwechslung gefreut. Sie arbeitete seit fünf Jahren für «Store & Go». Kowalski wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie war exakt, gewissenhaft und pflichtbewusst. Was nicht gerade sexy auf Männer wirkte, das war ihr klar, doch in einem so grossen Unternehmen waren ihre Fähigkeiten gefragt. Gleich von Anfang an hatte Kowalski ihr viel Verantwortung übergeben, froh, dass er sie nicht selber tragen musste. Gegen aussen spielte er den autoritären Boss, doch Sarah hatte mehr als einmal seine Unsicherheit gesehen. Schon oft war es ihr gelungen, Spannungen im Team, die er mit seiner ruppigen Art verursacht hatte, mit Diplomatie zu lösen.

«Mensch, Mädchen, du hast dir ja wieder Mühe gegeben!», rief Roland Wehr von der Terrassentür her.

Sie hätte schwören können, dass er als Erster auftauchte. Gleich würde er sich wie ein vorwitziger Junge am Buffet bedienen. «Noch nicht!», bat sie und ging auf ihn zu, so dass er seine Finger, die bereits nach den Chips gegriffen hatten, wieder zurückzog.

«Geht klar», sagte er lächelnd, «ich soll die schöne Ordnung nicht kaputtmachen. Sorry. » Er schaute sie mit seinen Hundeaugen an, eine blonde Locke hing ihm in die Stirn. Er trug einen weissen, lockeren Anzug und wirkte darin wie ein kalifornischer Beach Boy. Sie wollte nicht, dass er einmal mehr bemerkte, wie sehr er ihr gefiel, und begann etwas verkrampft, die Servietten rechtwinklig zur Tischkante zu stapeln. Natürlich ahnte er längst, was sie für ihn empfand. Er schien es zu geniessen, machte ihr zwar nie Hoffnungen, wies sie aber auch nicht ab.

«Nur nicht so steif, Sarah», meinte er, «das wird ein prächtiger Abend. Du hast das wirklich toll hingekriegt. Ausser… » Er nahm die Hände aus seinen Hosentaschen und zeigte neckisch zur Dekoration hinüber.

«Ich weiss», seufzte sie, «die Rosenblätter. »

«Die Rosenblätter, du sagst es. Das ist das Letzte, was zu unserer Firma passt. Rosendornen – ja. Oder besser noch Distelstacheln. Oder Kakteen. Aber Rosenblätter? Das, liebe Sarah, ist reinstes Wunschdenken. »

Sie wehrte ab. «So schlimm ist es nicht. Kowalski hat sich gebessert. Kürzlich hat er sogar –»

«Ach was, der wird immer ärger! Du bist viel zu nachsichtig. Ich könnte dir auf Anhieb zehn Leute aufzählen, die ihn liebend gern um die Ecke bringen würden. Mich inklusive. » Er grinste sie spitzbübisch an, konnte es nicht lassen, sich eine Olive zu schnappen, dann flüsterte er: «Achtung, wenn man vom Teufel spricht … »

Maximilian Kowalski betrat mit forschem Schritt die Terrasse. Mit bald sechzig verfügte er über eine Energie, die ihresgleichen suchte. Seinen massigen Oberkörper hatte er in einen zu engen Zweireiher gezwängt, was auf einige bestimmt ungewohnt wirkte, die ihn nur hemdsärmelig kannten.

In seinem Schlepptau folgte Cedric Stark in perfekt sitzender Kleidung und glänzenden Lederschuhen. Aufmerksam huschten seine Augen von einem zum anderen, verschafften sich in Sekundenschnelle einen Überblick. Stark wartete schon lange darauf, Kowalskis Job zu übernehmen. Doch dieser dachte nicht im Traum daran, sich zur Ruhe zu setzen. Cedric Stark war geduldig wie eine Zecke, die ohne Nahrung auf einem dürren Ast ausharrt, um sich im richtigen Moment auf ihr Opfer zu stürzen. Sarah fürchtete seine scharfe Zunge, seinen Sarkasmus und seine Fähigkeit, andere mit einem einzigen Wort kleinzumachen.

Hinter ihm ging Tim Stalder, der mit Claudia Campanini in ein Gespräch vertieft war. Sie kicherte etwas schrill und wackelte dabei mit dem Kopf, so dass ihre Ohrringe – zwei grosse schillernde Delphine – hin- und herschaukelten. Wie immer war sie gewagt gekleidet, ihr Ausschnitt war tief, ihre mehrfarbige Halskette zog den Blick unwillkürlich auf ihren Busen. Tim schien ihr etwas zu erklären, dann entdeckte er Sarah und nickte ihr freundlich zu.

Die anderen Mitarbeiter der Administration und aus den Lagerhallen folgten ihnen, dann das Reinigungspersonal. Am Schluss traten die Transportleute auf die Terrasse. Es waren hauptsächlich Türken, Albaner und Serben. Zum Team gehörte auch Chandra, ein Tamile, der so feingliedrig war, dass Sarah sich immer wunderte, wie er all die Lasten schleppen konnte, aber er schien keine Mühe damit zu haben. Die anderen waren kräftige Männer, die sich in ihren Arbeitsoveralls sichtlich wohler fühlten als in den Anzügen, die sie jetzt trugen. Mehmet schaute missbilligend auf die Schinkenstückchen, dann hellte sich sein Blick auf, als er den Lachs entdeckte. Er lächelte Sarah augenzwinkernd zu, sie hatte ihm versprochen, nicht allzu viel «Schweinisches» aufzutischen, wie er es nannte.

Sarah zählte schnell nach. Es waren alle gekommen: Zweiunddreissig Personen, darunter sechs Frauen. Anders als in anderen Firmen, in denen sich die weiblichen Angestellten, wenn sie in der Unterzahl waren, mit Vehemenz Gehör verschaffen mussten, wurden sie bei «Store & Go» ebenbürtig behandelt. Kowalski bestand auf gleichem Lohn für gleiche Arbeit. In Norddeutschland, wo er aufgewachsen war, habe es dieses ganze «Frau-Mann-Zeug» nicht gegeben, behauptete er, da wurde gearbeitet, man war genügsam und zufrieden mit dem, was man hatte.

Tim gesellte sich zu Sarah. «Schön hast du’s hergerichtet, wie immer. Sogar Rosenblätter … »

«Ich wusste, dass du dich darüber lustig machen würdest. »

«Mach ich doch gar nicht. » Tim nahm ein Blütenblatt und schnupperte daran. «Sie duften wunderbar. Aber du wirfst Perlen vor die Säue, Sarah. Irgendwann wird er dich ohne Skrupel rausschmeissen und eine andere Sekretärin suchen. »

«Warum sollte er? Ich mache meine Arbeit gut. »

«Das wird dir irgendwann nichts mehr nützen. Bis jetzt hat er noch keine so lange behalten wie dich. Sieben Chefsekretärinnen in zwanzig Jahren. Das ist ein echter Verschleiss. »

«Irgendwie versteh ich das nicht», murmelte sie.

«Nicht?» Tim schien überrascht. «Das ist doch glasklar. Er will Frischfleisch. Hast du denn nie bemerkt, wie er euch anstarrt?»

«Ruth nicht. »

«Ruth ist ihm zu alt, logisch. Aber Claudia und dich. Das fällt sogar mir als Mann auf. Ich hoffe, er ist nie zudringlich geworden. » Er schaute sie mit einem besorgten Ausdruck an.

Sarah hatte von Anfang an gespürt, dass Tim völlig in Ordnung war. Ein integrer Mann, der tat, was er sagte. «Mach dir keine Gedanken. Ich ignoriere solche Dinge. »

«Und falls doch. Du weisst, du kannst dich an mich wenden. »

«Ich weiss. Danke. Aber es ist nicht nötig. »

Tim schien es ihr nicht ganz zu glauben, sagte aber nichts mehr. Er schaute zu Kowalski hinüber, der gerade seine Angestellten im Halbkreis um sich scharte und zu einer Ansprache ansetzte. Augenblicklich verstummten die Gespräche ringsum.

«Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», begann er in astreinem Hochdeutsch, «ich möchte Sie heute am 1. April – und das ist kein Scherz! – alle ganz herzlich zu unserem 20-Jahr-Jubiläum begrüssen. ‹Store & Go› wurde von mir, wie Sie wissen, als kleine Firma buchstäblich aus dem Dreck gezogen. Inzwischen ist sie eine der bedeutendsten Lager- und Transportunternehmen der Stadt. » Er schaute in die Runde, dann zeigte er mit dem Finger auf Gerhard Furrer. «Sie!»

«Ja?» Gerhard schien überrumpelt.

«Sie gehörten zu den Ersten, die damals durch diese Tore gingen. Erzählen Sie, was sich in all den Jahren verändert hat. » Kowalski nickte ihm auffordernd zu.

«Ähm… »

«Na los, machen Sie schon! Als Sie hier anfingen, waren wir noch zu dritt. Mickrige Räume, harte Arbeitsbedingungen. Sie erinnern sich. Dann die ganze Umstellung auf Digital und Computer. Die neuen Sicherheitsschlösser in den Lagerhallen. Die besseren Hygienemassnahmen. Der Umbau. Vor vier Jahren der Artikel in der NZZ, der einen wahren Ansturm von Mietern nach sich zog. »

«Genau», murmelte Gerhard.

«Danke, Furrer. Sie sehen also», Kowalski liess seinen Blick in die Runde schweifen, schien zufrieden mit der Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde, und fuhr fort: «Sie sehen also, es lohnt sich, für ‹Store & Go› zu arbeiten. Den ersten Interessenten, die damals Lagerräume bei uns mieteten, standen ganze neun Kubikmeter zur Verfügung. Heute bieten wir ihnen Kleinsträume von sechs bis zu Lagerhallen von sechshundert Kubikmetern zur Auswahl. »

«Das wissen wir doch alles», flüsterte Roland entnervt in Sarahs Richtung. «Bis der fertig ist, verschimmeln die Lachsbrötchen. »

«Nebst Möbeln», fuhr Kowalski fort, «lagern unsere Kunden Kleider, Ordner, Sportartikel, ganze Wohnungseinrichtungen und Restposten von Geschäftsauflösungen bei ‹Store & Go›. Manchmal nur wenige Tage, manchmal über Jahre. Und das für sage und schreibe … » Er schaute erwartungsvoll auf die Anwesenden und hob seine Arme wie ein Dirigent in die Höhe. «Nun, meine Damen und Herren?»

Alle murmelten: «Zwölf Franken pro Kubikmeter!»

«Korrekt!» Kowalski strahlte übers ganze Gesicht.

«Er zieht immer die gleiche Show ab», zischte Claudia leise. «Langsam ist es nur noch peinlich. »

Roland pflichtete ihr bei.

«Darum, werte Mitarbeiter, der langen Rede kurzer Sinn:Ich bedanke mich für Ihr Engagement. Ich fordere weiterhin einen vortrefflichen Einsatz. Das Buffet ist eröffnet!»

«Das ging ja flotter als erwartet», murmelte Tim.

Sarah lächelte. «Er wird durstig sein. »

«Das ist das Stichwort», meinte Roland, «lasst uns anstossen!» Er nahm den Schöpflöffel, tauchte ihn in die Früchtebowle und füllte mehrere Gläser. «Zum Wohl, Sarah! Tim! Gerhard!»

Sie prosteten sich zu, Kowalski schenkte sich bereits zum zweitenmal ein, und sogar Ruth, die älteste der Angestellten, sonst massvoll und zurückhaltend, trank mit sichtlichem Genuss.

«Ausgezeichnet!», meinte Cedric Stark. «Fast wie selbstgemacht. »

«Sie ist auch selbstgemacht», sagte Sarah mit Nachdruck. «Von mir. »

«Tatsächlich? Nur nicht so empfindlich, ‹Fräulein› Dobler. Sie schmeckt trotzdem gut. »

Sarah kam sich blöd vor. Stark hatte es wieder einmal geschafft. Zum Glück hatte sie nicht viel mit ihm zu tun. Sein Büro lag am anderen Ende des Gangs, er war für die PR zuständig.

Der Abend schritt voran, angeregte Gespräche entstanden, wenngleich die Teams sich kaum mischten. Das Reinigungspersonal blieb unter sich. Die türkischen und albanischen Umzugsleute unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache. Cedric Stark schleimte sich bei Kowalski ein, der ihn jedoch links liegen liess. Man ass, trank und gab Anekdoten zum besten. Wo immer Kowalski auftauchte, versandeten die Gespräche, da er endlose Monologe an sein Gegenüber richtete.

Sarah sorgte dafür, dass das Buffet immer appetitlich aussah, und brachte mit Ruths Hilfe Nachschub von unten herauf. Gegen zehn tauchte die mexikanische Musikgruppe auf, die Sarah als Überraschung engagiert hatte. Sie war ein voller Erfolg. Fünf Männer mit Sombreros spielten Gitarre, Trommeln und Mandoline, sangen temperamentvolle spanische Lieder und forderten die Frauen und Männer zum Tanzen auf. Nach anfänglichem Zögern wagten es die Ersten, sich zu den feurigen Klängen zu bewegen. Kowalski zog Claudia zu sich heran und schwang das Tanzbein. Sie liess es mit angewidertem Gesichtsausdruck geschehen. Gerhard Furrer wippte unsicher mit dem Fuss zum Takt. Sarah betrachtete sein Geierprofil. Gerhard hatte etwas Unheimliches und Düsteres an sich. Vielleicht kam das daher, dass er seit Jahren in den unterirdischen Lagerhallen arbeitete.

Sarah wandte sich wieder ab und beobachtete die anderen. Tim bat gerade eine portugiesische Dame der Reinigung um einen Tanz, diese stimmte mit kokettem Lächeln zu. Die Stimmung wurde ausgelassener. Sarah plauderte ein bisschen mit Mehmet, konnte ihn wegen der lauten Klänge aber kaum verstehen. Roland in seinem weissen Anzug wirbelte allein zu den südamerikanischen Rhythmen herum, seine Hand balancierte ein halbvolles Glas. Ruth stand am Rand bei einem der Öfen und schien sich auf ihre eigene stille Art über den gelungenen Abend zu freuen.

Gläser klirrten. Das Buffet war nach einer Weile ein weinbekleckertes und ölverschmiertes Schlachtfeld. Oliven, Brosamen und Teigreste waren überall verstreut, was Sarah leider nicht hatte verhindern können. Die Mexikaner trieben mit ihrer Musik auf den Höhepunkt zu. Roland lächelte beschwipst vor sich hin. Tim kippte die Portugiesin im Tangostil nach hinten, was diese mit begeistertem Quietschen quittierte.

«Was hat er denn?», hörte Sarah Marco Benedetto neben sich sagen. Sie hatte heute noch kein Wort mit ihm wechseln können.

«Was meinst du?»

«Der ist ja komplett besoffen», antwortete Marco und zeigte auf Kowalski, «Madonna mia, jetzt übertreibt er aber!»

Sarah folgte seinem Blick und sah, wie ihr Chef herumtorkelte und Claudia grob von sich stiess. Sie prallte gegen den Tisch und hielt sich an der Tischdecke fest. Tim eilte ihr zur Hilfe. Bevor alle Gläser zu Boden fielen, konnte sie sich wieder aufrappeln. «He!», machte sie empört zu Kowalski, doch dieser ging gar nicht darauf ein. Sein Gesicht war gerötet, als hätte er einen Sonnenbrand. Er stammelte unverständliche Worte. So hemmungslos hatte Sarah ihn noch nie gesehen. Hoffentlich endete die Party nicht in einem Desaster. Bereits entfernten sich einige Angestellte und starrten aus sicherer Entfernung auf ihren Chef. Der bewegte sich inzwischen mit fast spastischen Bewegungen zur Musik.

«Vengan y bailan!», schrien die Mexikaner, erfreut über die Wirkung ihrer Lieder, «Bailan! Bailan! Kommt und tanzt!»

Kowalski stolperte, richtete sich wieder auf, rief mit schwerer Zunge: «Es ist heiss!» und fuchtelte mit den Armen.

«Wenn ich so viel intus hätte, wär’s mir auch etwas wärmer», meinte Roland.

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9783858825872
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