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MICHAEL DANGL
Grado
ABSEITS DER PFADE
Eine etwas andere Reise durch die Sonneninsel
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6., aktualisierte Auflage 2020
© 2015 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
Photos: © Michael Dangl
Coverphoto: © Maria Fedotova
Karten: S. 28f., 52f., 62f., 74f., 92f., 106f., 122f., 140f., 156f., 166f., 186f., 196f. openstreetmap.org | © OpenStreetMap-Mitwirkende (CC BY-SA 2.0)
Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram
ISBN 978-3-99100-153-9
eISBN 978-399100-154-6
Für Anfisa Margarita
Unsere frühe Zeit als Kind
Lebt noch in Grados Welt:
Geht die Küste entlang mit dem Wind
Vergoldet sich im blauen Himmelszelt.
La fresca età bambina
la xe restagia in aria sora Gravo:
col vento la va longo la marina
e la se indora drento el sielo biavo.
Biagio Marin
Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt.
Johann Wolfgang von Goethe, „Italienische Reise“
Inhalt
Ankommen
Der Alte Hafen und seine Bars
In der „Libreria moderna“
Samstag im Dorf
Sonntag am Meer
Biagio Marin
Spiel der Winde
La Laguna
Festa del Perdòn di Barbana
Centro storico
Die Insel der Toten
Eine Wolke aus dem Paradies
Der Drago von Grado
Duino verzauberte stets
Ein venezianisches Dorf
Herbst auf der Insel
Abreisen
Dortsein (Informationen)
Grado, das römische Castrum
Vorwort
Lieber Reisender,
ein Geständnis zu Beginn. Grado ist meine Geliebte. Als solche teile ich sie nur ungern. Außer der Saison – und das heißt Ende September bis Ende Mai – gehört sie oft mir (obwohl auch das, wie bei den meisten Geliebten, eine Illusion ist). Doch gibt es etwas, das stärker ist als die von meiner Schönen geweckte Eifersucht, und das ist mein Stolz auf sie.
Es wäre falsch, Grado als östliches Ende einer Reihe von Touristenorten an der oberen Adria zu denken. Sie* ist vielmehr der westliche Anfang einer Küste der Poesie, die nach Miramar und Triest führt (beide mit freiem Auge zu sehen), und schon nach wenigen Kurven oder einer halben Bootsstunde in das Zauberreich von Duino. Die Poesie hört in den paar Wochen (mehr sind es nicht) des touristischen Ansturmes nicht auf, sie lebt im Gesicht des Fischers, der dir bei der sardelada seinen Fang zubereitet, im Sonnenaufgang, im Sternenhimmel, im Lagunengras, wo immer du bereit bist, sie zu finden.
Es war ein aufregender Entschluss für mich, meine Geliebte herzuzeigen, zu beschreiben und meine bislang eher stille Passion der Welt zu öffnen. Außerdem hatte ich mir so einen offiziellen Grund verschafft, sie zu besuchen. Und: Gravo – so der Name des Orts im lokalen Dialekt – war, als Ausgleich zu meiner wortreichen Tätigkeit, immer so etwas wie meine Küste des Schweigens. Doch nun frischte ich mein Italienisch auf, das in den Jahren meines glückvollen Russischlernens verwelkt war, und tat etwas, das meinen Gradoreisen einen bislang unbekannten Aspekt gab: Ich kam ins Gespräch. Und die Gradeser öffneten mir ihr Herz und ihre Insel.
Spiaggia azzurra
Es sind gnadenlos persönliche Aufzeichnungen. Als Schauspieler wie als Schriftsteller wie als Mensch sehe ich das Leben als ein buntes Spektakel – und Grado als unendlich vielfältiges, täglich neu sich abspielendes Insel- und Welttheater. Ein Fischer, erzählte mir Adriano, einer meiner Lieblingsdarsteller im Buch, entscheidet im allerletzten Moment, ob die Fahrt geschieht – und wo sie hingeht.
Machen Sie es auch so! Halten Sie Ihre Nase in den Wind. Werden Sie eine Möwe! Die stets vielfachen Möglichkeiten, in Grado von hier nach dort zu kommen, haben eines gemeinsam: Sie sind immer schön. Eine Spezialität, die ich sonst nur von Grados „Tochter“, der weltbekannten Kurtisane namens Venedig kenne.
Gute Reise!
* Ich übernehme die Gepflogenheit des Italienischen, in dem Städtenamen stets weiblich sind. „Grado ist schön!“ = „Grado è bellA!“
Dann, da!, geht weit ein großes Auge des
Himmels auf, und du stehst mit offener Seele
und lächelst wie im Traum dem Zauber zu.*
Die wahre Verzauberung einer Ankunft in Grado erfährt der Reisende, wenn in seinem eigenen Land noch Winter ist. Das mag es, dem Kalender nach, auch hier sein, doch wenn er sich durch Regen, Schnee und Eis der Alpenpässe gekämpft hat, vernimmt er schon nach den ersten Tälern des Friaul eine wundersame Transformation: Die Temperatur steigt – alle fünf Kilometer um 0,5 Grad. Und das Gebirge hört fast unvermittelt auf – diese Alpen kennen kein Vorland, die friulanische Ebene beginnt am Fuß des letzten Bergkamms und fällt sanft zum Meer hin ab. Anders als im übrigen Norditalien ist auch, dass es gleich „wie Italien aussieht“ – die Trockenheit der Winter gibt dem Friaul, trotz der Bora, mit Zypressen, Pinien, Maulbeer- und Olivenbäumen, Steineichen und Palmen ein mediterranes Aussehen (dafür fehlt ihm die Poesie der Morgennebel wie in der Poebene).
Weder San Daniele zwingt zum Halt noch sein berühmter Schinken. Dem übrigens zur Konservierung nur wenig Salz hinzugefügt werden muss – die Luft trägt es in sich. Das spürt der Reisende, wenn er das erste Mal sein Fenster öffnet, ein wenig schon an der Mautstelle der Abfahrt Palmanova, und gleich danach mit voller Wucht beim Ampelrot an der Kreuzung vor Cervignano – ein Sekundenrausch: oben im endlich blauen Himmel die weitausschwingende Möwe (viel zu groß für die schwalben-, höchstens taubengewöhnten Stadtaugen) als Abgesandte des Meeres, dessen wilder Duft zugleich in den Wagen einströmend, sein Salz-, Algen-, Fischaphrodisiakum, und die davon getränkten Eindrücke, Bilder, Erinnerungen aus 44 Jahren und mehr. „Tränen, fassungsloses Glück“, hat der Reisende einmal in sein Tagebuch notiert.
Der große Dichter Grados, Biagio Marin, der dieses Buch begleiten wird wie die Sonne, schrieb: „Ed ecco, il passato è tutto presente e il tuo cuore sobbalza.“* Öffnen wir uns der Natur, öffnen wir uns der Zeitlosigkeit. Je mehr Natur wir in uns haben, desto zeitloser sind wir. Und noch haben wir erst ein Wagenfenster offen.
Wir befahren die Strecke der alten Via Julia Augusta, die, vom Norden kommend, sich mit Straßen aus dem Westen und Osten traf und das Gebiet einst zum bedeutenden Handelszentrum machte** – alle Wege führten nach Aquileia, und alle haben auch Teil an der Geschichte Grados.
186 v. Chr. hatte die Zahl der zugezogenen Kelten dermaßen überhandgenommen, dass der römische Senat sich veranlasst sah, eine Kolonialstadt zur Festigung der Herrschaftsansprüche zu gründen. Als die Grenzen gezogen und der erste Stein gelegt wurde, erschien ein weißer Adler (aquila) am Himmel und flog in Kreisen über den Ort – man nahm es als gutes Omen. Mit Recht, denn die kleine Siedlung, in die Rom seine edelsten Söhne und Töchter entsandte, wurde zu einer blühenden Stadt, einer der wichtigsten des ganzen Reichs. Als Ausgangspunkt für Eroberungszüge war sie zeitweise Quartier für Julius Cäsar und andere Kaiser – Friuli kommt von Forum Julii.
Die romanisierten Kelten sprachen einen lateinischen Dialekt, aus dem sich dann das Friulanische entwickelte. Dante hat als Erster daraufhingewiesen, dass im Raum Aquileia eine ganz besondere Mundart zu hören war, dort würde „Ce fastu?“ (statt „Cosa fai?“) gebrüllt, um zu fragen „Was machst du?“. Friulanisch ist auf magische Weise eng mit dem Katalanischen und Mallorquinischen verwandt (und so für Spanier leichter verständlich als für Italiener) und gehört heute mit Slowenisch, Italienisch und Deutsch zu den vier offiziellen Sprachen der autonomen Region Friaul-Julisch-Venetien.
Von all dem hatte der Reisende, als er die ersten Male hier ankam, keine Idee. Er wollte nur eines: ans Meer. Das sich, nach vielen Stunden der Anfahrt, aufreizend lange entzieht: noch eine Biegung, noch ein langes Zypressenspalier, die kurze Strecke von Palmanova wird zu einem Geduld- und (die Erregung steigernden) Vorspiel. Unbeabsichtigt ahmt der Reisende so die Bewegung nach, aus der Grado großgeworden ist: die der Flucht. Seit dem ersten Einfall nordischer Völker (barbari) blieben immer mehr Menschen in Grado, als die Gefahr vorüber war, bis 452 n. Chr. ein Schwarm Störche, der auf der Stadtmauer Aquileias sein Nest hatte, seine Kleinen sammelte und floh. Wieder nahm man das als Omen – als ein schlechtes diesmal, und wieder zurecht: Der heranstürmende Attila war schon durch starken Wind, der Häuser abdeckte und Felder verwüstete, angekündigt worden. Nun lag der Hunnenkönig vor der Stadt und erwog bereits, die Belagerung aufzugeben – doch der nämliche Schwarm auffliegender Störche erinnerte ihn an die aufgebrauchten Nahrungsvorräte und er machte sich an die Erstürmung. Die Aquileianer stellten Soldatenpuppen auf die Mauern und schifften sich bei Nacht, schwarz gekleidet und auf schwarzen Schiffen, nach Grado ein. Erst kurz vor den Mauern bemerkte Attila den Betrug, eilte zum Hafen, aber die Schiffe waren schon weit. Als sein Pferd das Wasser berührte, bäumte es sich auf und die „Geißel Gottes“ (Flagellum dei), wie Attila genannt wurde, seufzte: „Addio, bel grado!“ – er soll damit namensstiftend für eine Stadt gewesen sein, Grado, während er eine andere, Aquileia, anzündete und zerstörte. Beinahe alle Zurückgebliebenen starben.
Der duomo von Aquileia
Bewohner, die vorhatten, irgendwann von Grado zurückzukehren, versteckten ihre Schätze unter der Erde. Daher ist es manchmal heute noch Sitte, dass sich der Besitzer bei Landverkauf in einer Vertragsklausel das Recht vorbehält, auf etwa zu findende Verstecke und deren Preziosen Anspruch zu haben. Und wirklich werden immer wieder Gefäße, Vasen und andere antike Gegenstände freigelegt.
Der Name Grados hatte immer schon Anteil an der Faszination für den Reisenden.* Tatsächlich kommt er vom lateinischen gradus (Schritt, Stufe), das oft im Sinn von „Hafen“ bzw. „Ufer“ gebraucht wurde. Zwei weitere Orte, an denen Flüsse ins Meer münden, sind San Piero a Grado an der Arnomündung bei Pisa und Gradus in Südfrankreich. Und es gibt ein Grado in Asturien, am Jakobsweg. Im dortigen Dialekt heißt es – wie im Friulanischen – Grau. Wenn jedenfalls der grado di difficoltà an einem bestimmten grado della carriera hoch war, war man froh, die Flucht zur Erholung noch einmal geschafft zu haben, „grade“ noch einmal – nach Grado.
Unvergesslich die beiden ersten Annäherungen: als Knabe wasserwärts mit einem Hausboot, das im Lagunenschlamm stecken- und, bei Ebbe zur Seite gekippt, liegen blieb wie die Arche auf dem Ararat; dann, lange danach, landwärts, als Mann, dem der Atem versagte in der letzten Biegung bei Belvedere – ein Name, so oft gebraucht, und wann so untertrieben, viel zu schlicht für den Anblick, der sich da, nachdem man Aquileia und vor allem seinen duomo sträflich achtlos links (tatsächlich!) liegen gelassen hat, dartut. „Da, wo das Land unendlich sanft versinkt“*: die offene Lagune, dieses Netz aus Kanälen, weiten Wasserflächen, Sandbänken und Sumpf, dieses urzeitliche Reich, das sich vor Jahrtausenden über die ganze obere Adria hingezogen haben soll, vom Damm durchschnitten, der zur Insel führt, von Mal zu Mal vertrauter deren Silhouette, dahinter das Meer. Die Sonne war herausgekommen; umspielt war dieses gleißende und doch so unendlich sanfte Licht, dieser bittersüße Duft von Salz, Tamarisken, Akazien und Meerwermut, mit dem die Grappa gewürzt wird, von Rossinis „Stabat Mater“ – für diesen Moment komponiert.
Die Lagune als Fluchtort, beim Einfall von Feinden. Hütten aus Holz, Stroh, Schilf und Ruten wurden gebaut. Ist so Grado entstanden? Lange vor Attila … die wahre Geschichte der Sonneninsel liegt im Dunkeln. Ein Sandhügel in der Lagune, mehr war es nicht, 200 Jahre v. Chr. immerhin schon ein Fischerdorf, das ist das Früheste, was man weiß …
Vor 100 Jahren war hier, in Belvedere, Schluss mit der Landreise, die Gäste wurden in Booten nach Grado gerudert. Sigmund Freud wählte die Route mit dem Dampfboot von Aquileia über den Fluss Natissa und notierte dafür eine Reisezeit von zweieinhalb Stunden. Die Lagune fand er: „ödest“*.
Heute hat man den Damm, der die Lagune in einen Westteil (palù de soto) und einen Ostteil (palù de sora) spaltet, in Minuten überwunden, es sei denn, man nimmt ihn zu Fuß oder per Rad und stimmt sich auf das gemächliche Inseltempo ein. Selbst Gradeser (oltreponti nennt man jene, die außerhalb Grados, „jenseits der Brücke“, leben) erzählen, dass sie hier die Geschwindigkeit drosseln, überwältigt von der Schönheit der Kulisse. Ringsum die Laguneninseln, links Barbana mit der Wallfahrtskirche. Angler zu beiden Seiten. Am Ende die ponte girevole, die für größere Schiffe geöffnet wird, am Fuße der Brücke Werften und die Einfahrt des Kanals zum Alten Hafen.
Der erste Spaziergang – vorzugsweise am Strand oder am von den Österreichern errichteten Lungomare, der Meerespromenade. Verwundert lässt der Reisende die Pullover fallen. Gegen die Eiswelt seiner Heimat, die er heute Morgen verlassen hat, ist hier am Nachmittag schon Sommer – obwohl in manchen Gesichtern noch Winter steckt. Die Sehnsucht nach Grado ist immer auch die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. Ein Gefühl, sich selbst wieder „zurückzusetzen“, wie man das bei Computern selbstverständlich macht, bei sich aber gerne vergisst. Überhaupt streicheln wir uns selbst viel weniger als unsere Smartphones. Grado übernimmt das gerne. Wir können wieder lernen, was ein Meereshorizont ist (an den zu schauen die ersten Stunden schwerfällt, so hausmauer- und bildschirmverdorben sind die Augen), nach oben zu blicken und die Gedanken vom Himmel zu nehmen (wir alle haben immer so viel Himmel über uns, warum nur sind wir so bodenorientiert).
Das wirklich jedesmal Staunenmachende ist, dass alles wieder da ist: die Luft, das Licht, die Stimmung, die Geräusche und die Stillen, die Häuser und die Horizonte, und alles zugleich dich anspringt, aufnimmt, integriert, als wärst auch du nie weg gewesen, als hättest du nur einen Tag verschlafen nach einem herrlichen Rausch oder einer heftigen Bootstour. Es ist so wichtig, an einen Endpunkt zu reisen, an dem es, mit den uns vertrauten Mitteln, nicht weitergeht. Man „fällt hinunter“ nach Grado – und sie fängt uns auf mit ihrer Wärme, ihrer Milde, vor allem der Österreicher erfährt hier – auch historisch – einen süßen Schauer des Heimkommens. Nach einer längeren Abwesenheit und einer mehr oder weniger beschwerlichen Anreise kannst du diesem Ansturm des Schönen nicht anders standhalten, als dich niederzulassen (auf deine Knie, wenn du deiner Empfindung wirklich entsprechen willst und es dir nichts macht, wenn die Möwen dich auslachen, aber das tun sie immer) und zu warten, bis dein Herz, deine Augen, all deine Sinne und durch sie (oder vor ihnen?) deine Seele dieses schrecklich süße Gift in sich aufzunehmen bereit sind – denn das geht nur tröpfchenweise, so verstopft sind deine Schönheitsrezeptionsporen vom Hässlichkeitsstaub deines Alltags, deiner Arbeit, deines falschen, weil zu nördlichen, deines allzu mitteleuropäischen Lebens. Vieles fällt ab, vieles relativiert sich. Schon in den ersten Minuten.
Und es ist, am Ende des Golfs von Venedig verweilend, der sich da an Triest und den istrischen Karst verliert, so, wie Grillparzer es am nicht weit entfernten Markusplatz empfunden hat: „Wer hier sein Herz nicht schlagen fühlt, hat keines.“
* „Poi, ecco, si spalanca una grande occhio celeste, e tu rimani con l’anima aperta, e sorridi come in sogno all’incantesimo.“ (Biagio Marin, „L’isola d’oro“)
* „Und wirklich, was war, ist ganz da – und dein Herz springt auf.“
** Die römische Bernsteinstraße verlief ebenfalls hier, von Carnuntum an der Donau bis Aquileia, wo das aus dem Baltikum kommende Bernstein verarbeitet und weiter auf die Märkte Roms und anderer Städte des Reichs gebracht wurde. Aquileia verband so das Meer des Nordens mit dem des Südens. Die Bernsteinstraße war eine Art antike Autostrada del sole, auf der auch Gold, Silber, Felle, Tiere und Sklaven transportiert wurden.
* Assoziationen zu „Grat“ (Berggrat, Einsamkeit, dünne Luft, klare Gedanken); „Grad“ (der Fieberkurve des Thermometers im Sinn von extremen Temperaturen nach unten und oben); sono in grado heißt „ich bin in der Lage“; sono a Grado: „ich bin in Grado“; a Grado sono in grado: „in Grado bin ich in der Lage“; andare per gradi: „schrittweise vorgehen“; al massimo grado: „im höchsten Grade“; der Wein misst sich im grado alcolico; und ein schöner poetischer Ausdruck für „gerne“ ist di buon grado.
* „Làdove la terra s’affonda con infinita dolcezza.“ (Biagio Marin)
* Damit ist aber keineswegs „öde“ im heutigen Sinn, also „langweilig“, zu verstehen. Thomas Mann schreibt im „Tod in Venedig“ von der „ungeheuren Scheibe des öden Meeres“. „Öde“ wurde also vor rund hundert Jahren im Sinne von „leer“ verwendet.
1Mercato ittico (Fischmarkt)
2Trattoria „Al Pescatore“
3Osteria „Zero Miglia“
4Bar „Manzoni“
5Bar „Bomben“
6Bar „Al Porto“
Und jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde
sind voll von Licht und guter Bestimmung.*
Die unbekannteste unter den sehenswerten Straßen Grados ist wohl die Riva Dandolo. Unbekannt, weil sie „nirgends hinführt“, sehenswert, weil sie die Straße der Fischer ist. Hier laufen sie aus und ein, löschen ihre Fracht und verkaufen sie am mercato ittico (Fischmarkt), putzen ihre Netze und präparieren ihre Boote für die nächste Fahrt. Das „Al Pescatore“ ist das authentischste Fischlokal der Insel, nicht nur wegen seiner Lage. Die Osteria „Zero Miglia“, schon fast am Ende der Uferstraße, kocht köstlich – wenn auch prätentiöser und teurer. An zwei Wochenenden im Juli und August gibt die Cooperativa pescatori in der Riva ihre traditionelle sardelada: Die Seefahrer selbst kredenzen allerlei Frittiertes mit Polenta, Wein und Bier, das Volk schmaust mit den Fischerfamilien an Holztischen. Eine Atmosphäre, die man nicht vergisst.
Die Riva Dandolo, die nach der noblen venezianischen Familie Dandolo, die vier Dogen und einen Patriarchen von Grado gestellt hat, benannt ist, heißt vorher, am stadtseitigen Anfang des Hafens, Riva San Marco und beherbergt die Bar „Manzoni“, die friedlichste der den porto mandracchio** beherrschenden Bars. Da dessen östlicher Teil den Gästebooten vorbehalten ist, trifft man viele deutschsprachige Besucher. Die Bar „Manzoni “hat eine recht frühe Morgen- und die längste Abendsonne und macht Tramezzini im alten Stil. Ich sehe nun schon die dritte Besitzergeneration, und es ist, von Opa zu Tochter und von Tochter zu Enkelin, einTemperament und einGesicht, eine Freundlichkeit und eine Ruhe.
Anders die Bar „Bomben“ gegenüber. Auch, dass die Frühsonne hier bald weicht, macht, dass sie der Treffpunkt der Tagesbevölkerung ist. Das Gradeser „Stadttheater“ wird nämlich von verschiedenen Darstellergruppen bevölkert, die alle ihre „Auftrittszeiten“ haben und gleitend ausgetauscht werden. Nach den Joggern und Strandläufern am frühen Morgen, zwischen die sich vereinzelte Hunde mit Menschen an der Leine und Radfahrer mit panini im Gebäckkorb mischen, übernehmen die Rentner das Regiment. Sie stehen nicht, wie am Nachmittag, wo sie ihre zweite Dienstschicht haben, im Freien zusammen, sie sitzen in den Bars und verhandeln das Weltgeschehen der letzten 12 Stunden und 62 Jahre. Die Männer haben ihre Bars, die Frauen ihre. Wo es sich vermischt, wird gebalzt und gescherzt wie ehedem. Um neun gehen sie auseinander, als hätten sie eine Arbeit erledigt, und verschwinden in ihren Häusern bis zum nächsten Auftritt. Neun bis zehn, das ist die Stunde der Hausfrauen und jungen Mütter, die am Weg von den Geschäften und Kindergärten sehr ausgiebigen Halt in der Bar „Bomben“ machen, um mit Freundinnen zu plaudern – was eher so aussieht und sich anhört, als würden sie die Welt einmal komplett zerlegen und wieder zusammensetzen, wobei sie, auch wenn es eine Stunde dauert, winters ihre warmen Jacken und Mäntel nicht ablegen, wie um die Sprunghaftigkeit des Cafébesuchs zu betonen. Vor zehn wird es laut im Ort, als sprängen die Ohren auf. Man hat die Touristen auf die Straße getrieben, wie müde Fliegen fallen sie angegessen und angeschlagen aus ihren unterkühlten Frühstückssälen. Und so geht es weiter …
Die Riva Dandolo – vom Alten Hafen zur Lagune
Die Bar „Bomben“ also ist ganz Geschäft, ganz „Heute“. Der Verkehr rollt an seinen paar Gehsteigtischchen vorüber (während das „Manzoni“ nur durch die schmale Riva vom Wasser getrennt ist). Die Tramezzini sind neuerdings, vielleicht ein Zugeständnis an burgergewöhnte Kiefer, dreistöckig. Flockenleicht vormittags in beiden Bars die warmen Croissants (brioche). Sogar Alice kommt mit dem Fahrrad vorbei, um sie in ihrer Bar weiterzuverkaufen.
Ihre Bar – das ist die dritte am Hafen, vielmehr die erste, weil sie Tag- und Nachtleben Grados bespielt und eine wirkliche Institution ist. Zunächst die Lage: Keine Straße stört, man sitzt am Hafen (gleich hinter dem Wassertaxistand und der Anlegestelle des Lagunen-Ausflugsbootes Christina). Fischer verkürzen sich hier das Warten auf die mitternächtliche Ausfahrt mit cubi – schmalen Gläsern gewässerten Weins. Innen ist die Bar urig, eine Hafenkneipe eben (und als solche im Winter immer kalt, weshalb man sein Getränk gern im Stehen zu sich nimmt), fast schon eine Spelunke, in der man sich Schmuggelgeschäfte und Messerstechereien vorstellen kann. Letztere hätten dann unzweifelhaft mit Alice zu tun, Tochter des sympathischen Barbesitzers Luca, Inbegriff des „Mädchens von der Hafenkneipe“, wie aus einem Simenon-Roman. Gertenschlank, muskulöse, von der Arbeit geformte Arme und Hände, märchenhaft und doch früh vom Leben gezeichnet schön, Augen, tief wie das Meer, sehnsüchtig und traurig zugleich. Spätnachts dringt ein Lachen von ihr nach draußen, so kräftig und voll Lebenslust, dass man hineingehen möchte, um es diesem ernsten Gesicht abgewinnbar zu machen. Nicht wenige Menschenmotten lockt auch das Licht ihres Geheimnisses in diese Bar „Al Porto“, die unter den vier, fünf nachtaktiven Ausschänken der Altstadt die bodenloseste, „grenzwertigste“ ist, die immer letzte Einkehr – vor der stets letzten Ausfahrt.
Hier jedoch würde mir Alice widersprechen. Man bestelle kein „letztes“ Getränk, sagt sie. Denn was käme danach: der T.. ?! – Ähnlich wie Adriano, der Fischer, der vor der Ausfahrt um Mitternacht gerade sein cubo trinkt, abwinkt, wenn ich ihm „buona pesca“ wünsche, „guten Fang“. Das dürfe man niemals sagen! – Was dann? – „Am besten … gar nichts!“
* „E ogni díche passa e ogni ora i xe pini de luse e buona sorte.“ (Biagio Marin)
** Ein porto mandracchio bezeichnet einen Hafen, der hauptsächlich für Fischerboote reserviert ist, die wie eine mandria, eine Herde, zusammengefasst sind, um möglichst wenig Raum einzunehmen.