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Maxi Hill

EINFACH. ÜBER. LEBEN.

Neufassund von: Maxi Hill * AFRIKA - IM Auftrag der Geier

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DER UNBEKANNTE KONTINENT

DAS ANDERE LEBEN - November 1986

KINDER IM STAUB DER STRASSE

DER MUT EINER UNWISSENDEN

EIN ZAGHAFTER VERSUCH

DAS UNBEKANNTE LAND

WEIHNACHTLICHES DÉJÀ-VU-ERLEBNIS

DER JUNGE

ZWISCHEN EUROPA UND AFRIKA

ZURÜCK IN LUBANGO

EINE ANDERE FENDA

PRÄGENDE TRADITION

EIN HALBES JAHR AUS-ZEIT

RÜCKFLUG MIT WERNER

ROM SEHEN UND STERBEN?

YVONNE

ACEVEDOs LETZTE STUNDE

TEUFELSZEUG IN ROTER ERDE

EIN ARTIKEL IN DER SUPERILLU

ALPHABETISCHE WORTERKLÄRUNG

Impressum neobooks

DER UNBEKANNTE KONTINENT

Angola 1986

Schwüler Dunst stieg aus der heißen Erde und umhüllte die Hütten der Hoffnungslosen. So rasch wie der Regen eingesetzt hatte, rissen die Wolken wieder auf und die Bedauernswerten krochen aus ihren armseligen Behausungen. Tausendfach wölbten sich Wellblechdächer über Lehmhütten vom Stadtrand her, krochen die Tafelberge hinauf oder bissen wie Krebsgeschwüre in jedes Stück erbärmlichen Boden. Die kleine Regenzeit hatte eingesetzt. Kurze, heftige Schauer erquickten das dürstende Land, doch dazwischen beherrschte die unbarmherzige Sonne den azurblauen Himmel, hier im dunkelsten Winkel der Welt.

Ich blickte von der Loggia im vierten Stock des Laureano hinüber zum Eukalyptushain. In meiner Hand vibrierte ein Brief. Ich sah nicht die Pracht dieser tropischen Landschaft, genoss nicht die betörenden Düfte der trunkenen Natur. Selbst das Elend, das mir ringsum entgegen schrie, das Leid der Menschen in ihrem jammervollen Dasein, rührte mich in dieser Stunde nicht. Die eigene Seele litt. Bereits mit der ersten Post aus der Heimat verfluchte ich meine Zusage, hierher zu reisen.

Auch später galten meine Tränen noch lange nicht dem Leid der Menschen, das der Bürgerkrieg über sie schüttete. Barbarisch. Beispiellos. Ich weinte um meine Tochter, die Tausende Kilometer entfernt im Internat lebte und schrieb, wie sehr sie uns vermisste, mich und ihren Vater.

Unten auf der Straße schritten sonderbare Gestalten im Gänsemarsch auf das Haus zu. Die Mumuilas, eine ethnische Gruppe der Nyanekas aus dem Südwesten Angolas. Sie kamen den unendlich weiten Weg aus ihrem kimbo im Hochland zu Fuß in die Stadt, um Gemüse, Früchte und Eier zum Tausch anzubieten. Zum Glück. Ohne diese Möglichkeit müssten wir an diesem Ort beinahe ohne jede Frischware auskommen.

Die kleine Gruppe kam heute ungewöhnlich spät. Ich rechnete nicht damit, dass ihr Vorrat noch bis zu mir im vierten Stock reichte.

Der Regen wird sie aufgehalten haben. Meine Lippen bewegten sich, aber ich sprach nicht, hatte es gelernt, still zu sein, wenn mein Mann vor lauter Arbeit nicht ansprechbar war. Ich fühlte mich nicht nur in diesen Momenten wie ein Kind, das in seiner Bedeutungslosigkeit nicht zu Wort kommt. Ich fühlte mich als mitreisende Ehefrau ohne berufliche Herausforderung bedeutungslos, obwohl ich längst begriff, wie unendlich mühsam es hier war, das ganz profane Leben abzusichern.

Auf dem staubigen Vorplatz knirschten wie allabendlich zur selben Stunde die Reifen des Lada Niva von Don Acevedo. Acevedo war ein schlanker, eleganter Angolaner um die vierzig Jahre. Er wohnte mit seinen Kindern, die von wechselnden Zugehfrauen betreut wurden, hier im Haus der Entwicklungshelfer, dem predido do Laureano. Die sachliche Architektur des Gebäudes ähnelte den uns vertrauten Plattenbauten, war weder besser ausgeführt, noch solider ausgestattet. So schmucklos dieser Klotz auch war, so begehrt war sein bescheidener innerer Standard bei den meisten Menschen dieser Stadt, zugleich unerreichbar für jene da unter mir in ihren Hütten. Nicht für Don Acevedo. Der herrschte über die staatlichen Wohnungen und litt auch sonst keine Not. Wie ich inzwischen wusste, krümmte er selbst keinen Finger. Das Volk hatte sich vor elf Jahren von ihren portugiesischen Herren befreit, aber es gab längst wieder die Schicht der Besseren, die den Status des Herrenmenschen erstrebenswert hielten.

Gewöhnlich hütete ich mich vor Vorurteilen gegen Menschen, die nicht schuld an meinem Trübsinn waren, aber dieser Mann passte nicht in mein Bild von einer unterdrückten Rasse, und er passte noch weniger in die schwarze Brüderlichkeit. Er lebte als Siegertyp, smart, doch mit eiserner Faust. Drei Ehefrauen waren vor seinen Schlägen schon auf und davon. Sie hatten diesem Tyrannen vier süße Kinder hinterlassen, an deren dunklen, spitzbübischen Kulleraugen ich mich nicht sattsehen konnte. Beim ersten Blick schon waren meine Schuldgefühle aufgelebt. Mein halbwüchsiges Kind von fünfzehn Jahren musste in die Obhut fremder Menschen, damit es hier im dunkelsten Winkel der Welt vorwärts geht…

Ohne eine bestimmte Hoffnung lief ich zur Hinterseite des Hauses und trat auf die Balustrade. Von hier aus konnte ich hören, auf welcher Etage die Mumuilas gerade ihre Waren anboten. Mein Blick erfasste die Weite der Landschaft, die südlich-östlich bis zum Horizont reichte. Auch von dieser Seite umzingelten endlose Elendsviertel die stabilen Häuser entlang der Straße.

Ein Luftzug trug den Geruch nach gärender Milch, nach Zwiebeln und Schweiß durch das Treppenhaus. Die letzten Sonnenstrahlen kündeten schon von der raschen Dämmerung, als sie barfüßig, beinahe lautlos, den regennassen Betonboden betraten.

Wie viele Menschenalter war ihre Zeit stehengeblieben? Noch traute ich mich kaum, meinen Blick genauer auf die halbnackten Körper zu richten. Auch wagte ich nicht, in den gelbstichigen Augen des einzigen Mannes das Misstrauen zu deuten, das bei jedem Besuch zu spüren war.

Auf diesem einen Planeten, wo die andere Welt nach fernen Sternen griff und sich anschickte, in unseren Genen die Handschrift der Schöpfung zu entziffern, leben diese Menschen einfach, nur um zu überleben.

Wie sehr ich irrte, wurde mir erst später klar. Ihr Leben war einfach, ja, aber sie lebten in Würde und hatten ihre Ideale, wie wir die unseren hatten.

Die Haartracht der Frauen, mit einem Gemisch aus Kuhdung und roter Erde angereichert, thronte kunstvoll geformt über der kahlgeschorenen Stirn. Die bloßen Oberkörper der jungen Mädchen schimmerten wie Hämatit. Kreuzweise gelegte Perlenketten, bunte Schnüre und bestickte Bänder umspielten knospengleiche Brüste, deren Fleisch fest und deren rosige Warzen prall und spitz waren. Nur bei den älteren hing die Haut aschfahl und trocken um die ausgemergelten, schlaffen Brüste. Man sagte mir, der monströse Halsschmuck — mit Perlen besetzte Bastwülste — lasse die soziale Stellung der Frauen erkennen. Ich vermochte es nicht. Noch nicht.

Zu dieser Zeit wusste ich nicht viel über das Land und seine Kultur. Bücher über Afrika waren rar in der DDR und Angola war wohl der weißeste Flecken auf den Landkarten der Welt. Die Bücher, in denen der Staat sein Land beschrieb, waren in Moskau gemacht und strotzten vor Patriotismus. Über die Menschen und deren Geschichte wusste ich rein gar nichts. Wie sollte man so in die Seelen blicken können? Woran sollte man erkennen, ob sie zufrieden sind und ob die altväterliche Kultur ihr wahres Heiligtum ist?

Mais velho, das Oberhaupt der Gruppe, trug abgelederte Sandalen aus alten Autoreifen und einen dicken, zerlumpten Wollmantel, schien aber immer noch zu frieren. Mit herrischer Miene wies er auf eine der Frauen, die er Ngula nannte und die ihr Baby in einem Tuch auf dem Rücken gebunden mit sich trug. Diese Frau öffnete die Bündel aus grobem Sackstoff, in dem ihre Waren verstaut waren. Nur noch drei Eier, etwas Maniok und Süßkartoffeln kullerten durcheinander. Ihr Misstrauen blieb, und mein Misstrauen wuchs, dabei wünschten wir beide den raschen Austausch. Ich begann zu feilschen, aber weder meine Strickjacke noch die Kernseife aus der hiesigen loga gefielen dem Alten, wenngleich die Blicke der Frauen heller wurden und ihre Hände sich danach streckten.

»Pano«, sagte der Alte forsch. Ich besaß keinen Stoff. Inzwischen hatte ich den universellen Wert von Stoffen für diese Menschen begriffen, heuchelte aber angesichts des geringen Gegenwertes mein tiefes Bedauern. Kranke, gelbe Augen irrten wirr umher, bis er energisch durch sein lückenhaftes Gebiss schnalzte: »Acucár?«

»Nein, ich habe auch keinen Zucker«, log ich ziemlich gereizt. Er würde ihn doch nur für das Teufelsgebräu brauchen, das ihre Augen gelb, ihre Sinne trüb machte. Gujóme hieß es. An ganz bestimmten Tagen schöpften die Frauen im Schatten großer Bäume diese stinkende Brühe mit Blechbüchsen aus Blechtonnen. Ein widerliches Zeug und äußerst gefährlich. Sie brauten es nicht nur in ausgedienten, verrosteten Tonnen, sie gaben auch hinein, was wir als Sondermüll entsorgten, um eine Kontamination des Erdreiches zu verhindern: Batterien.

Bitterstoffe mussten sein, egal woher sie stammten. Jeder fragte sich, wie ihre Leber aussehen mochte und wie lange sie die Welt noch mit ihren Augen erleben durften.

Ich fuchtelte mit sechs Fingern vor seiner Nase herum, um anzudeuten, wie viele Eier er für eine Tüte Zucker herausrücken müsse, die Ngula gar nicht mehr hatte.

Ich weiß nicht mehr, was mich an jenem Tag so wütend gemacht hatte. Es kann nur das mütterliche Herzweh gewesen sein, das nicht nachlassen wollte. Freundlich brauchte ich jetzt nicht mehr zu sein, aus dem Geschäft würde nichts werden.

Ngula packte bereits mit wütendem Blick ihr Bündel zusammen. Dabei drehte sie sich zum Himmel, als wollte sie an die nahende Dämmerung erinnern. Ihr merkwürdiges Stöhnen und ihr Zucken verrieten etwas Bedrohliches. Ich folgte ihrem Blick über die unendliche Weite des Hochplateaus, das sich von hier scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckte. Natürlich sah ich Neuweltmensch nur etwas Wundervolles. Mit letzter Kraft hatten die Sonnenstrahlen einen prächtig schillernden Regenbogen vor die abziehende, dunkle Wolkenwand gespannt. Wie eine winzige Krone thronte die fade Sichel des Mondes darüber, der schon am langsam ermattenden Himmel hing.

Ngula zerrte das Bündel mit ihrem Baby nach vorn und auch die anderen Frauen schnürten die Bündel zusammen. Mais velho klopfte mit einem der hölzernen Schlangenstöcke auf den Betonboden und trieb die Frauen mit merkwürdig schnalzendem Ton an.

Es war jene Zeit, als ich noch wissbegierig jede Vokabel zu lernen versuchte. Baloico und lua, nur so viel konnte ich später von den ängstlichen Worten in mein Gedächtnis zurückrufen. Mühsam fügte ich sie einzeln aus dem Wörterbuch zusammen und verstand nicht, was oder ob es etwas bedeuten könnte: »Mond und Schaukel?«

Ich huschte zurück in die spartanische Küche und vergrub mich in längst fälliger Kleinarbeit. Überreife Guaven-Früchte mussten noch ausgeschält und zu einem süßen Brotaufstrich eingekocht werden. Bei stupider Arbeit meldete sich zumeist mein Gewissen. Ich hatte die Balance im Umgang mit diesen mir fremdartigen Menschen noch nicht gefunden und war dem Heulen nahe. Sie brauchten, was wir hatte, wie wir brauchten, was sie uns geben konnten.

Ich war alles andere als lebensunerfahren, aber Arne, der schon vor sechs Monaten vorausgereist war und diese Welt besser verstand, hatte mich gewarnt. Wenn man denen die Hand zu weit ausstrecke, bekäme man sie nie wieder los.

Warum hatte er das gesagt? Warum bin ich hier? Warum ist dieser Tag so schwer?

Nicht lange danach ersann ich eine gute Tat, um meinen Seelenfrieden, meine Achtung vor mir selbst wieder herzustellen. Etwas herauszufinden, war nicht schwer. Es durchzuführen schon eher. Arne würde mir zu dieser Stunde strikt verbieten, die Wohnung zu verlassen. Doch Arne saß im kleinen Zimmer an seinem Schreibtisch und las die ersten Kapitel der Diplomarbeit seiner Studentin Celestina. Wenn ich aber aus der separaten Küchentür schlüpfte, würde er es gar nicht hören.

Unbemerkt erreichte ich das lichtlose Treppenhaus und lief hinunter in die Vorhalle, wo immer ein bewaffneter Posten stand, der uns zu beschützen hatte. Hier herrschte Krieg.

»Boa noite«, grüßte ich blind vor Dunkelheit und streckte ein halbes Stangenbrot und die Schüssel mit dem Rest lauwarmer Makkaroni vorsichtshalber weit von mir. Die fremden Augen waren besser an die Finsternis gewöhnt. Zielsicher aber nicht hastig griffen zwei eiskalte Hände danach.

»Bon apetite!« sagte ich, diesmal betont freundlich. Die Gestalt eines besonders jungen Burschen erschien für einen Moment im faden Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos. Er trug die Kalaschnikow vor dem Körper und sein Drillich schlappte um den schmächtigen Körper herum. Aus der Dunkelheit klang die helle Stimme: »Obrigado Senhora! Obrigado!«

Ich spürte geradezu, wie er buckelte. Nur schemenhaft konnte ich sehen, wie seine Augen glänzten, wie die Zähne blitzten. Die schwarze Haut seines Gesichtes verlor sich im Nichts.

Rekrutieren die jetzt auch schon Kinder? Ich ärgerte mich. Bei Tageslicht hatte ich den Jungen keines Blickes gewürdigt. Man lief vorbei, man nahm nicht wahr, was man nicht wahrhaben wollte. Weltweit wurde Rebellenführer Jonathan Savimbi wegen der Kinder in seiner Armee angeprangert, die den längsten und mörderischsten Konflikt auf dem Kontinent am Zündeln hielt. Einst brillanter Akademiker mit Doktortitel, war er nun in seinem Streben nach dem Präsidentensessel zum psychopathischen Egomanen mutiert. Seine Rebellen verübten Terror und Grausamkeiten, wüteten in Dörfern und Städten, erzwangen sich Proviant und Rekruten. Da hatte es dieser Bursche in der Staatsarmee vermutlich leichter.

»Quantos anos tem?«, fragte ich nach seinem Alter, ein Wort deutlich an das andere reihend.

»Dezassete«, flüsterte er und trat für einen Moment aus der stockdunklen Vorhalle näher an die stets offene Haustür. Ja, er war noch jung. Sehr jung.

»Aha, siebzehn«, übersetzte ich, wieder sehr betont, als müsse er es auf Deutsch wiederholen, wenn er unser Beschützer sein wollte.

Ich spürte meine sprachliche Ohnmacht und lächelte, und er lächelte zurück; Carlos heiße er und stamme aus der Gegend von Tundavala.

Mit viel zu vielen falschen Worten und in viel zu hohen Tönen schwärmte ich, welch ein Glück er habe, so nah bei dieser gigantischen fenda zu wohnen. Ich sagte es so, als wäre eine atemberaubende Schlucht gleichsam in der Lage, einen hungrigen Bauch zu stopfen und einen frierenden Leib zu wärmen. Uns verwöhnten Europäern fehlten hier zwar die kleinen Ikonen der zivilisierten Welt, aber Hunger und Kälte quälten uns nie.

Solange ich hier stehe, wird er nicht essen, überlegte ich, ohne zu wissen, was zu tun war. Auf der Straße fielen Schüsse. Hier ballerte man von früh bis spät. Keiner von uns kam dahinter, was das sollte oder wem die Schüsse galten. Der Krieg tobte in dieser Zeit in den entfernteren Provinzen Cuando Cubango, Huambo, Moxico und, wie man erzählte, auch im Nordosten bei den Diamantenminen. Carlos zuckte nicht einmal. Ich aber schimpfte in die Dunkelheit: »Diese Idioten! Dieses Imponiergehabe!«

Berechenbar waren die Waffenträger in der Tat nicht. Der Junge aber blieb ungerührt stehen und ich fragte ihn so nebenbei, wie oft die Mumuila mit ihren Waren in dieses Haus kämen.

»Mais o menos«, sagte er und seine Stimme versetzte mich nicht zum ersten Mal in Staunen. Nur vier Silben, aber sie klangen melodiös wie ein Lied. Es war zu dunkel, um sein Gesicht genau zu sehen. Nur der Luftzug, der mir seinen Geruch in die Nase trieb, kündete vom Fuchteln seiner Arme. Es schien, als bete auch er — wie Ngula zuvor — und er sagte etwas, wovon ich nur ein Wort im Wörterbuch wiederfand: Mahamba. Die Götter der Ahnen.

Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass im Glauben der Naturvölker die Götter der Ahnen einen nahen Tod voraussagten. Dennoch gefiel mir zum ersten Mal die Dunkelheit. Sie verschluckte mein Lächeln, nicht jenes über den Glauben, wohl aber jenes über die Freude, die ich mir selbst bereitet hatte. Carlos stieß seinen hitzigen Atem von sich, setzte sich endlich auf den schmutzigen Beton der Vorhalle und grub seine bloßen Hände hastig in die Schüssel. Das nutzlose Ding, meinen Löffel, legte er auf den Mauersims.

Von oben her dröhnten Schritte über den blanken Beton vom Treppenhaus. Wegen des politischen Umbruches 1975 war das Haus nie vollendet worden, der Fahrstuhl nie eingebaut. Laureano, der portugiesische Bauherr, musste ebenso überstürzt das Land verlassen haben, wie es die meisten Kolonialisten vorgezogen hatten zu tun. Man weiß nicht, ob ihm etwas geschehen wäre. Es war eine Revolution, da gehen die Temperamente eines rechtlosen, ausgebeuteten Volkes schon mal durch. Den wenigen Portugiesen, die hier geblieben waren, war kein Haar gekrümmt worden, wie man hörte. Sofern sie nicht große Schuld auf sich geladen hatten.

Solange Carlos aß, huschte ich nach draußen, wohl wissend, dass ich so erst recht gegen die strengen Vorschriften verstieß. Wir DDR-Bürger durften allein nirgendwohin gehen. Ich hatte mich offiziell nicht abgemeldet, also hatte ich das Haus nicht zu verlassen. Außerdem wusste nicht einmal Arne, wo ich war. Der Posten hielt mich auch nicht zurück, wie es seine Pflicht wäre. Gierig verschlang er die wahrscheinlich einzige Mahlzeit an diesem Tage.

Ich lief neben der Straße ein Stück stadtauswärts. Hoch oben auf dem Tafelberg hob sich Christo-Rei wie ein weißes Kreuz vom tiefschwarzen Himmel ab und breitete die Arme aus, als wolle er alle Menschen unter seine Fittiche nehmen. War es ein Zufall oder hatte diese Stadt in den Jahren der Kolonialzeit einen besonderen Rang? Immerhin hatte der Schöpfer der Götterstatuen von Rio de Janeiro und Lissabon das Probestück auf dieses, jetzt gottverlassene Stückchen Erde gestellt. Inzwischen schien die schneeweiße Statue der einzige Luxus der Stadt zu sein, den die Sieger der Revolution noch nicht zweckentfremdet hatten.

Mit unsicherem Tritt stolperte ich auf dem staubigen Weg ein paar Schritte weiter in jene Richtung, die ich damals noch als Süden ansah, weil da die Sonne am Mittag stand. Wir waren jedoch südlich vom Äquator!

Je weiter ich mich entfernte, desto dunkler schien die Welt. Ich konnte die Hand vor meinen Augen nicht sehen. Laternen gab es kaum, Strom noch weniger. Beklommen blieb ich an einer Hauswand stehen. Aus dem Bairro drang monoton das Rasseln von Ketten oder Perlen in trockenen Kalebassen zu den Schlägen einer batuque. Dazwischen ein hilfloses Wimmern. Zu dieser Zeit und noch lange danach, war die afrikanische Kultur für mich unverständlich. Auswüchse nannte ich, was mich erschreckte. Gerade hatte ich über Beschneidungen gelesen: Ein Mädchen, das ihre sexuellen Gefühle noch gar nicht kennt, wird des Verlangens schon beraubt! Diese brutale Verstümmelung würde jährlich an zwei Millionen Opfern weltweit vollzogen, in vielen Kulturen. Mir schnürte es die Kehle zu. Stimmengewirr übertönte nun das Jammern. Ich war wütend, so machtlos zu sein. Zugleich war mir etwas klarer: Was bedeutet das Herzweh meines Kindes zu Hause, das in einer friedlichen Welt behütet lebt, gegen dieses Leid, dieses blutige Ritual einer patriarchalischen Welt. In meiner Kehle sammelten sich die Worte: Lasst das Kind in Ruhe. Doch ich schrie sie nicht. Ich lauschte nur wütend in die Dunkelheit. Die rhythmischen Klänge beherrschten die Nacht. Kein einziger klagender Ton war mehr zu hören. Und wenn es so ist? Ich bin hier Gast. Ich habe diese Kultur zu respektieren. Irgendwie sind wir doch alle verstümmelt, beschnitten in der Freiheit, beschnitten in unseren Gedanken über diese Welt. Spüren wir es als Leid?

Jäh rissen mich nahe Schüsse aus meiner Lethargie und stellten in meinem Kopf den Schalter der Vernunft wieder an. Die Schüsse galten mir nicht, das wusste ich. Daran gewöhnen wollte ich mich nicht. Zurück im Schutz des Hauses fühlte ich, wie mein Herz aus dem Hals zu springen drohte. Ich schnappte nach Luft, doch Carlos stand in der Tür und lächelte satt und vergnügt. Vom Betonboden hob er die säuberlich ausgeleckte Schüssel und buckelte abermals: »Obrigado.«

»De nada«, winkte ich ab und ich meinte es auch so. Seine Demut machte mich wütend, nahm mir die winzige Genugtuung, die mein unbemerktes Aufbegehren gegen die übertriebene Vorschrift bringen konnte.

Langsam stapfte ich Stufe für Stufe die vier Stockwerke wieder hinauf. Von weiter oben hörte ich es nun besser. In einer der Hütten im Schilfland östlich vom Laureano feierte man eine komba, eine Totenfeier, wie beinahe allabendlich. Das Sterben nahm kein Ende. Es begleitete die Menschen auf ihrem hoffnungslosen Weg, wie die unbarmherzige Sonne in der Hitze des Tages. Wie die eisigen Nächte, in denen sich Mensch und Tier aneinander kuschelten, um zu überleben. Wie der unendliche Kampf um Nahrung, um sauberes Wasser, um ein bisschen Brennholz. Der einst stolze Bestand an Wald hatte längst den Weg von den Hängen der Berge hinunter in den hitzigen Kessel der Stadt genommen, um Tausende kleine Kessel zu heizen, in denen nur einmal am Tag der Hirsebrei brodelte. Holz, das nicht zum Kochen Verwendung fand, wurde für Särge gebraucht. Viele Särge. Nur der Tod schien an diesem Elend seine Freude zu haben.

Nach kurzer Stille begann der auf- und abschwellende Gesang der Trauergemeinde. Die Nacht trug ihn sehr weit und jagte einem Fremdling wie mir den kalten Schauer unter die Haut.

Amadé Njava, einer unserer angolanischen Freunde, hatte einmal erzählt, früher hätten die batuques stets Kriege angekündigt. Wohl deshalb würden sie mich so erschrecken. Ja, sie erschreckten mich, den Gesängen zu lauschen aber konnte ich mich nicht entziehen. Man fühlte sich auf dem Weg in eine andere Welt, hob ab in Trance, in trauriger Hoffnung. Doch wenn man jäh auf die Erde zurückfiel und die Augen wieder öffnete, hatte das Elend noch längst kein Ende.

So bedrückend das Ritual immer war, an diesem Tag berührte es mich auf eine andere, eine nie gekannte Weise.

Hatte Ngulas »Mondschaukel« Recht? Hatten die Götter der Ahnen ihren Tribut gefordert?

Wie ferngesteuert legte ich eine Hand auf meine Brust und schaute in den südlichen Sternenhimmel, dessen unbeschreibliche Pracht aus dieser tiefen Dunkelheit geboren wurde. Ein faszinierendes Firmament wölbte sich über den schäbigen Hütten, als wäre der ganze Reichtum dieses Volkes in den Himmel geflüchtet und zeigte den armseligen Kreaturen den Weg aus ihrem jämmerlich irdischen Dasein. Aber wo wiegt sich jetzt der Halbmond? Ich sah ihn nicht mehr.

»Die Mondschaukel«. Noch begriff ich nicht, dass meine Sinne an jenem Tage auf rätselhafte Weise infiziert waren. Der Tod war hier alltäglich zu Gast, warum hatte ich plötzlich so viel Ehrfurcht vor einem Zufall? Nur weil ein paar Zurückgebliebene ihn als Weisung einer höheren Macht verstanden? Ich hatte mir nie ernsthafte Gedanken gemacht, ob höhere Mächte existierten. Ich hasste die Verwirrung, die solche Gedanken anrichteten. Jetzt aber schien mir sogar meine Traurigkeit zu gefallen. Noch immer lauschte ich mit unbekanntem Gefühl in meiner Brust und wusste, sie würden die ganze Nacht mit den Klageweibern singen. Froh, keiner Beschneidung gelauscht zu haben, sah ich im Geiste die Bilder vor mir, die Zeremonie vom nächsten Morgen, die zu dieser Zeit in diese Stadt gehörten wie Sonne, Mond und Sterne an das Firmament:

Ein offener LKW. In einer Holzkiste die sterblichen Überreste des Verstorbenen. Die Trauergäste umringen die Kiste, nur die Witwe darf darauf sitzen. Hier gibt es frische Blumen allein für den Tod. Zum Zeichen der Trauer reckt jemand zwei zum Kreuz geschlagene Hölzer über das Fahrerhaus. Die Tradition verbietet dann allen Fahrzeugen das Überholen. Sie reihen sich ehrfürchtig aneinander und ich hoffte selbstvergessen, es möge zu einer Zeit stattfinden, wo keine Unwissenden, keine respektlosen Ignoranten unterwegs seien. Es würde wieder einen endlos langen, schleichenden Trauerzug geben.

Vorsichtig legte sich ein Arm um meinen Körper.

»Arne!« Ich schmiegte mich an ihn. Sein Atem vibrierte, aber sein T-Shirt fühlte sich so eisig an, wie es die Nacht zu werden versprach. Er hatte mich schon bei den Nachbarn gesucht.

»Mach das nie wieder Maxi!« keuchte er. Für mich klang seine Stimme vorwurfsvoll, aber ich spürte zugleich Erleichterung darin.

Gemeinsam stiegen wir die dunklen Stufen bis zu unserer Wohnung hinauf. In der dritten Etage bei Don Acevedo wurde lautstark und fröhlich gefeiert.

286,32 ₽
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9783754184400
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