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Faber

Von Matthias Schröder

Metalog I – eine Ewigkeit um 1914 herum

Dunkel:

Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern,

Wenn wir getrennt, um Inventur zu halten.

Es reitet jeder dann den eig’nen Stern,

Wenn wir ganz dialogisch walten.

Denn nur durch lebendiger Rede Macht

Darf’s sein, dass wir dem Menschen singen

Und das beschau’n, was wir in Gang gebracht

Und es im Logos auf die Erde bringen,

Licht:

Weil nur in diesem dialektischen Element

Wir zu dem Unterschied gelangen,

Ohne den der Mensch uns nicht erkennt.

Mit purer Einheit, ungetrennt

Kann er nun einmal nichts anfangen.

So deutet er uns’ren Pluralis gar

Als majestätisch hohen Thron.

Er nimmt sich selbst eher niedrig wahr,

Als Untertan oder als Narr

Und kniet vor uns für himmlisch‘ Lohn.

Wir sind nicht Majestät, nicht Gott!

Wir sind das Eine in allen Wesen,

Wir sind der Welt und Menschen Lot,

Sind weder lebend, weder tot.

Man kann uns halt nur als Vielheit lesen.

Dunkel:

Und somit wandern wir geschieden,

Dann, wenn man über uns sinnt und denkt

Und unser Tun durch Zweifel lenkt

Und ein Verstand auf Erden hienieden

Uns sinnierend in Worthülsen senkt.

Dann erscheinen wir als Vieles:

Mal als Schöpfer und Vernichter,

Als A und O des großen Spieles,

Mal als angeklagt und Richter,

Vielleicht als Leser und als Dichter,

Als Gut und Böse, also schlichter,

Licht:

Als Gott und Teufel manchmal auch,

Als Plan und Bruch des großen Zieles

Und was uns noch der komödiantische Brauch

Im Dienste eines großen Stiles

Deutend wird aufs Antlitz beten:

Wichtig ist, wir sind begriffen

Und können nun ins Leben treten.

Wir sollten runter vom Kometen,

Sonst werden wir noch ausgepfiffen.

Dunkel:

Dem stimm‘ ich zu, wir sollten gehen,

Denn metaphysisch Langeweile

Möchte hier kein Mensch gern sehen.

So wart auf mich! Ich komme! Eile!

Prolog – im Himmel über dem Jahre 1914

Gott: Was treibt dich in meine Gefilde? Läuft dir die Welt wieder einmal zu glatt, zu geschmeidig?

Teufel: Ich komme nur um zu schauen, wie jemand seine Zeit rumbringt, der die Welt so perfekt haben will, dass sie in Sinnlosigkeit zu versinken droht. Hier ein Rädchen gestellt, da ein Gelenk geölt und das war’s. Ist es wirklich das, was du von deiner Schöpfung willst? Dass sie laufe wie die Räder einer Fabrik? Findet diese arme Welt einen merklichen Widerhall in deiner großen Seele?

Gott: Du verkennst das Wesentliche. Du als Störer siehst natürlich nur das, was bereits gebaut ist. Du siehst das Fertige, den Apfel, der vom Baum fallen darf. Du siehst das Haus, in das der Blitz reinfahren soll. Du siehst die Familie, deren Eintracht zu erhalten dir nicht Wert erscheint. Du siehst den stabilen Frieden als das nächste Ziel eines Angriffes. Du kannst nicht mit den Augen des Erbauers schauen. Noch bevor ich sie dir geben konnte, wendetest du dich von mir ab. Du bliebst ein Fragender, der nur in Frage stellen kann; ein störrisches Kind, das seine Lust an der Auflehnung entdeckt hat und sie nicht mehr ablegen will. Was bei anderen noch im Werden ist, ist vor dir zum Zustand geronnen, zum vermeintlichen Ziel. Darum muss dir der Stolz verborgen bleiben, von dem der Erbauer erfüllt ist. Die Schönheit des Werdens bleibt dir auf ewig fremd; der Zauber, der eine sich gestaltende und sich in ihrer Form vervielfältigende reine Idee umgibt. Und ist es bei den Menschen und den Göttern so, dass eine solche Rede in der Seele schmerzen müsste, bin ich bei dir gewiss, dass ich noch bis an das Ende aller Zeiten Reden halten kann. Sie erreichen dich nicht. Sie lassen dich unbewegt. Du hörst ohne Anstand.

Teufel: Wie selbstgefällig du redest. Du lehrtest die Menschen anderes.

Gott: Es ist nicht die Selbstgefälligkeit, die aus mir spricht, nicht der Stolz, mit dem der Sünder sich selbst erhöht. Was den Schaffenden erfüllt, ist das Wissen um die Einzigartigkeit dessen, was er erbaut hat. Ihm erscheint jedes als etwas Neuartiges, weil er die Bekanntschaft mit dem machen konnte, was es bisher noch nicht gab. So geht es dem Zimmermann, so geht es dem Künstler, so geht es der Mutter und sogar dem Kunstfälscher. Stolz ist keiner, der nur wiederholt. Wahrhaft stolz ist der Schöpfende, der Neues vollbringt oder zumindest Bewährtes erneuert und erhält; der optimiert und dessen Kraft in Werden und Entstehen fließt.

Teufel: Und doch fühlen sich die Menschen dieser Welt gebunden in ihrer ewigen und ängstlichen Suche nach dem Gewohnten, der Sicherheit. Ich glaube, du bist nicht aufrichtig zu ihnen. Du setzt sie in eine Welt, von der du alleine zu wissen glaubst, dass sie jeden Tag Neues bietet. Doch vernebelst du ihnen den Blick mit dem Unmut zu Ungewohntem, mit der Furcht, die jeden Ausdruck von Freiheit begleitet. Du lässt sie nur schauen, was sie bereits kennen. Du lässt sie suchen, was dem Erkannten ähnlich ist. Du lässt sie sich nur dort sicher fühlen, wo sie in gewohnheitsmäßigem Trott dahinleben, bis sie, diesem Leben überdrüssig, das Weite suchen; wenn’s übel läuft, im Alkohol, im Abenteuer jenseits von Frau und Kind, im Kaufrausch, in der Spielsucht, in der Macht oder schlimmer: in der Unterhaltung, in der Ablenkung, in der Zerstreuung und im Zeitvertreib.

Gott: Was soll ich von einem Teufel halten, der sich derart mitfühlend gebart? Ich habe nie gesagt, dass die Menschen, wenn sie das Richtige suchen, auch das Richtige finden. Ein wenig mühevolle Suche muss sein. Keiner, der etwas erreicht, würde sich an dem Erreichten freuen und dessen Wert schätzen können, wenn es zu leicht ginge. Aber sag einmal! Was ist eigentlich heute mit dir los? So pessimistisch habe ich den Teufel selbst noch nie erlebt. Gibt es nicht genug Schönes in dieser Welt, das du ins Chaos stürzen kannst?

Teufel: Eben das ist es ja. Ich habe das Gefühl, dass auf diese Welt ein Angreifen sich nicht lohnt. Sie ordnet sich zu Tode. Sie zerfließt und vergeht in Gleichförmigkeit. Ihre Perfektion ist ein schlimmerer Zustand als das übelste Chaos, das ich mir erdenken könnte. Die Menschen sind so weit, dass sie sich selbst Regeln auferlegen, bei denen sogar das Chaos in Verwirrung gerät. Wusstest du, dass es einen Erlass gibt, der regelt, welche Tinte für welche Art von Dokument hergestellt und verwendet werden soll? Oder ein internationales Kriegsvölkerrecht, das regelt, auf welche Weise man den Feind im Falle eines bewaffneten Konfliktes angreifen darf und wie nicht? Wie soll ich da wissen, was der Zerstörung wert ist? Dein gleichförmiges Funktionieren, die Regelmäßigkeit in allem, das Verlässliche. Ist es nicht beides zugleich; Ordnung und Unordnung, Perfektion und Verwesung, Übersichtlichkeit und Labyrinth? Entstehen und Niedergang? Wie soll sich der Teufel da orientieren, wenn die Ordnung selbst sich in das Chaos mischt und ihm ihren Anstrich gibt?

Gott: Glaub mir, die Menschen suchen zwar die Enge. Aber ohne diese hat es noch nie das Kreative gegeben. Und ich weiß, wovon ich dabei spreche. Sie suchen diese nur um sich zu entlasten, um frei für das Kommende und bisweilen Überraschende zu sein. Jede Seele will das Neue. Sie braucht es sogar dort, wo du ihr vorwirfst, sie entdecke nur das Gewohnte. Wie soll sie denn das Gewohnte entdecken, wenn sie es nicht in der Vielfalt sucht? Die Welt bleibt den Menschen stets offen und lebenswert.

Teufel: Du bittest mich, dir zu glauben? Nein, keine Seele vermag ihrer Enge zu entkommen; und hätte sie alle Zeit der Welt. Sie würde noch in tausend Jahren ihre Schuhe auf die gewohnte Art binden und ihr Lieblingsessen so zubereitet wissen wollen, wie es die Mutter einst zubereitet hat. Es sind doch allesamt Seelen, die du nach eben dem Prinzip geschaffen hast, nach dem du auch die Welt ordnetest: die Wiederholung des Immergleichen, Regelmäßigen, Zyklischen, Berechenbaren. Für den Reichtum, von dem du redest, sind die Menschen blind. Du hast den Bauplan der Welt in die Menschen kopiert und ihnen ein Leben nach Gleichmaß beschert. Und obendrauf hast du den Menschen noch die Mathematik gegeben, die ihnen die Regelmäßigkeit mehr als bewusst macht; sie drängt sie ihm geradezu auf. Wie soll die Seele etwas anderes wollen, als eben die langweilig das scheinlebendige Tote gebärende Welt, in der sie sich selbst voll Bewunderung wiederzufinden sucht?

Gott: Lass uns eine offene Probe wagen. Ein Mensch allein wird reichen, um dir den Gegenbeweis zu erbringen.

Teufel: Du schlägst vor, ich solle mich an einer Seele vergreifen und sie in die Versuchung der Unsterblichkeit stürzen? Ist es nicht normalerweise an mir, derartig unerhörte Vorschläge zu unterbreiten?

Gott: Wer von uns führt hier die hochmütige Rede? Ich habe großes Vertrauen in das Entstehen. Kein Mensch wird einen Zustand nur aus Gewohnheit so schön finden, dass er in ihm verweilen möchte. Kein Mensch wird immer wieder nur das in seinem Ich beschlossene Gleiche zu verwirklichen suchen, wenn die Welt sich ändert.

Teufel: Wann habe ich die Wette gewonnen?

Gott: Wenn du mir einen beliebigen Menschen zeigst, der sich in mindestens drei Leben nicht wirklich ändert.

Teufel: Wen soll ich nehmen? – Kennst du den Faber?

Gott: Den Professor?

Teufel: Meinen Knecht!

Gott: Der dient dir wirklich auf besondere Weise. Soweit ich weiß, ist der Mann vollkommen dahin; die Ehe und die Gesundheit am Ende; er ist schwerer Alkoholiker und klammert sich im Grunde nur noch ans Leben, indem er in Nischen forscht, in denen keiner sonst arbeiten will. Er ist einer der modernen Alchemisten, die die Schöpfung nicht in Gold, sondern in Tod verwandeln. Und wenn ich mich recht entsinne, war er einer der ersten, die der Frage nachgegangen sind, wie man den Tod den Menschen durch die Luft bringen kann.

Teufel: Und er war erfolgreich damit.

Gott: Zumindest in der Entwicklung! Über den Erfolg beim Nutzen lässt sich trefflich streiten! Warum willst du gerade ihn? Weil er schon am Ende ist?

Teufel: Er ist eine Herausforderung und ein eindeutiger Fall. Er hat nicht mehr lange. Er weiß das und wird daher empfänglich für jedes überirdische Angebot sein. Er hat sich schon immer leicht verführen lassen und gerade meine Gegenwart wird ihm Hoffnung geben, weil er sicher sein kann, dass er vor mir keine Buße wird tun müssen. Eine verlorene Seele, die eine neue Chance gebrauchen kann, und eine gebildete Seele dazu!

Gott: Und leider auch eine schon sehr alte Seele, die ihre Routinen hat.

Teufel: Also bitte! Zu leicht sollst du es nicht haben! Soll ich mir ein Kind nehmen, das sich noch in alle Himmelsrichtungen formen und führen lässt? Das kann für uns kaum zweckmäßig sein. Außerdem ...

Gott: Ich gebe dir Recht ... außerdem muss es sich um eine eigenständige Seele handeln, die von alleine läuft. Wir dürfen nicht mehr als bloße Zuschauer sein. Womit sich eine weitere wichtige Frage ergibt!

Teufel: Genau! Wie weit dürfen wir einwirken? Du hast den Lauf der Welt in der Hand und hast Einfluss auf die Geister. Ich kann die Seele dirigieren und durch Versuchung wie Unheil auf sie einwirken. Mit alledem müssen wir uns in diesem Fall zurückhalten.

Gott: So sei es, dass wir dem Geist nur Möglichkeiten und Wahlfreiheiten bieten, damit er zeigen kann, welchen Pfad er einschlägt: Folgt er dem Neuen oder geht er immer in dieselbe gewohnte Richtung. Pass auf, dass du dabei nicht wieder zu sehr als Versucher erscheinst …

Teufel: … und du nicht als einer dieser überpersönlichen Zwänge mit Namen wie Gewohnheit, Sitte, Tradition, Wahrheit oder gar Religion! So sei es! Die Wette ...

Gott: ...gilt!

Teufel: Wie gut doch meine Ideen in seine und seine in meine greifen. Von Zeit zu Zeit seh ich den alten Gott gerne. Er gibt mir so ein angenehmes Gefühl von Weite, von Ferne.

Vorspiel - anbrechender Frühling im Jahre 1914

Faber hatte seit langem eine immer klarer werdende Vorstellung vom Ende des Lebens, denn er bewegte sich ohne Unterlass darauf zu. Es war nicht der Tod, den er dabei immer klarer vor Augen sah. Es war das wachsende Nichts, das umso deutlichere Konturen bekam, je undeutlicher die noch beschreitbaren Wege des eigenen Daseins wurden. Dieses Nichts hat viele Namen. Manche nennen es das Aus, manche bezeichnen es als Hoffnungslosigkeit, manche als Sackgasse, manche als das Unten. Er hatte seine ganz eigene Vorstellung davon. Für ihn war es das fortdauernde Überschreiten einer Grenze, hinter der es kein Zurück mehr gab. Eine Grenze, die er jeden Tag ein bisschen mehr überschritt; eine Grenze, hinter der er sich selber einschloss, indem er immer mehr Türen hinter sich zufallen ließ und bei denen er sich kaum noch erinnern konnte, was sie eigentlich bargen. Es war die Grenze, hinter der sich das Leben auf die Erhaltung von Vitalfunktionen und einem Rest-Ich trotz immer widerwärtiger werdender Zwänge und Gewohnheiten reduzierte.

Einige Türen waren bereits für immer verschlossen. Seine Ehe war Geschichte. Er wusste nicht mehr, ob es der Alkohol war, der die Ehe zerstört hatte oder ob es der Alkohol war, mit dessen Hilfe er seine gescheiterte Ehe und damit einen Teil seines eigenen Unvermögens hinnehmen und ertragen wollte. Eine Tatsache war aber ihr Ende, das sich vor Langem schon als ein beharrlich ausbreitendes Schweigen andeutete und die unverrückbaren Regularien sichtbar werden ließ, von denen die Ehe seit langem bestimmt wurde. Er hatte nie die Kraft gehabt, gegen die Schatten zu kämpfen, die auf dem Alltag lagen, und die Ehe zu retten. Er hatte es geschehen lassen, dass seine Frau und später auch seine zwei Kinder sich immer weiter von ihm entfernten, bis die Ferne zuerst eine emotionale, später dann auch eine räumliche wurde. Er hatte nichts unternommen, als er ahnte, wie es um seine Familie stand, weil er es nicht wirklich wollte. Der Weg seiner Profession war einfacher, gradliniger, erhebender. Erfüllen konnte ihn nur seine Berufung, die er in der Wissenschaft fand; dies glaubte er jedenfalls eine Zeit lang, bis er merkte, dass auch sein Berufsleben unter der Last der neuentstandenen Leere zu leiden begann. Zwar verlor er nicht auch den Blick für sein berufliches Dasein gänzlich, aber mehr und mehr sein Ansehen unter den Kollegen, denen sein erlöschender Ehrgeiz und sein vermindertes Berufsethos nicht verborgen blieben. Zwar übernahm er noch Aufgaben und Forschungsaufträge, aber es waren mehr und mehr solche, die auch seine Studenten hätten bewältigen können. Stabilität hatte seine Karriere noch, aber sie war einem Schwung zu verdanken, der aus einer Zeit höherer Reputation entstammte. Immer weiter begab er sich selbst in Spezialbereiche, von denen er wusste, dass er in ihnen nicht brillieren musste, um erfolgreich zu sein, sondern in denen er aufgrund ihrer geringen Popularität zu den wenigen Sonderlingen und geduldeten Geringgeachteten gehörte. Damit trug er noch den Titel Ehemann und Professor der Chemie, aber diese fanden in der Wirklichkeit seines Daseins nur noch spärlichste Entsprechungen. Und so saß er also eines Tages wieder einmal in einem zwischenzeitlich zu seiner Stammkneipe gewordenen Gasthaus und vertrank sein nicht geringes Einkommen in einer Starre der Unfähigkeit, sich gegen die Türen zu stemmen, die sich hinter ihm schlossen und in einem undeutlichen Bewusstsein davon, dass ihm nicht mehr viel blieb, das er zu verlieren hatte.

Es waren nur noch wenige Tage, bis er hier seinen Stammplatz verlieren sollte. Er fiel nicht dadurch auf, dass er laut oder gar körperlich bedrohlich wurde, wie man das von vielen notorischen Trinkern kannte. Aber das Leben, das ihm mehr und mehr aus der Hand glitt, begann seine Spuren zu hinterlassen. Er trank immer größere Mengen und verlor immer häufiger die Beherrschung dabei; sei es, dass er nur sein Bewusstsein verlor, sei es, dass er sich übergab oder sich einnässte. Bisweilen sprach er auch andere Gäste auf eine Weise an, die diesen unangenehm war. Nicht, weil sie sich belästigt fühlten, sondern weil er ihnen leidtat und bei manchem das von einem Anflug schlechten Gewissens begleitete Gefühl weckte, dass man ihm eigentlich hätte helfen müssen. Häufiger vergaß er sein Geld und blieb die Rechnung schuldig. All dies wurde durch den Eindruck verstärkt, den seine nachlässiger werdende Hygiene hervorrief. Er wusch sich mit wenig Sorgfalt für die wenigen Momente, in denen er Menschenkontakte beruflicher Natur nicht vermeiden konnte. Er benutzte bisweilen auch seine mit Urinspuren kontaminierte Kleidung und roch oft ein wenig nach einer Mischung aus Schweiß, Urin, Fusel und Zigarettenrauch. In ein paar Tagen würde mit dem Hausverbot, das er hier erhalten sollte, einer der wenigen öffentlichen Orte verlorengehen, an denen er sich noch aufhalten konnte, an denen er eine Existenz hatte.

Als Chemiker wusste er, was er sich antat. Der Alkohol und sein Stoffwechsel, dessen Wechselwirkung mit allem, was am klaren Denken beteiligt war. Die Bakterien auf seiner Haut und deren übelriechende Stoffwechselprodukte. Seine mangelhafte Ernährung und deren Wirkung auf Vitalität und allgemeine Klarheit. Er wusste über all dies Bescheid, doch war es ihm eher Beruhigung, solange es ihm das dumpfe Gefühl gab, noch irgendetwas unter Kontrolle zu haben; auch wenn er hier Kenntnis und Kontrolle gründlich miteinander verwechselte.

Seine fortschreitende Übersättigung mit Alkohol, die manches Mal bereits am frühen Nachmittag begann, erfüllte ihn mit einem beständigen Gefühl von Ekel, das ihn isolierte. War es anfangs noch eine Abneigung, die aus dem Bewusstsein resultierte, dass man ihn mehr und mehr mied, war der Ekel ein Endresultat, das dieses Bewusstsein durch das Bedürfnis nach Einsamkeit ersetzte und durch eine diffus empfundene Abscheu vor dem Rest der Welt, die nur durch den Genuss von noch mehr Alkohol erträglich wurde. An den Vormittagen geistiger Klarheit waren es seine zunehmende Isolation und die Art, wie man ihn behandelte, die ihm das Gefühl vermittelten, dass er immer weniger ein Teil dieser Welt war. Die Menschen machten ihm nur durch ihre zunehmende Reserviertheit deutlich, dass seine Gesellschaft nicht erwünscht war, geschweige denn genossen wurde. Und so zog er sich weitgehend zurück und sehnte sich auf eine merkwürdig ambivalente Weise nach dem häufig schon am frühen Nachmittag beginnenden Vollrausch.

So dumpf wie den Ekel fühlte er die wenigen Anwesenden in seiner Kneipe. Seit Langem schon öffnete ihn der Alkohol nicht mehr, indem er ihn gesprächig, lustig vielleicht oder gar interessant machte. Die Wirkung des Alkohols hatte sich seiner Nähe zum Ende angepasst. Er machte ihn träge. Kaum einen von ihnen nahm er klar unterschieden wahr. Gesichtslos. Sie drangen durch zum ihm in ihren Stimmen, die sich wie eine rasselnde Kette von menschlichen, aber nicht artikulierten Lauten, durch sein Bewusstsein zogen. Unterschiedslos. Er nahm eine Reihe von Stimmungen wahr. Überhaupt schien das das Einzige zu sein, das noch bewusst zu ihm vordrang: Eindrücke, die für etwas standen. Doch zuordnungslos. Die Stimmen schienen ihm hell und heiter, wie auch die glänzenden heiteren Tupfen ihrer Gesichter, die sein Gesichtsfeld erfüllten und damit für den Gegensatz zu seiner dunklen Dumpfheit standen. Sie waren der Hintergrund, auf dem er sich abzeichnete; in seiner gesichtslosen Leerheit, als hohles Rauschen.

Lediglich einer schien sich etwas von den anderen zu unterscheiden. Er unterhielt sich nicht und war ebenso wie er alleine. Unauffällig. Das alleine war es aber nicht, wodurch er auffiel, denn er fühlte sich schon seit Längerem nicht einmal mehr den anderen Einsamen verbunden. Es war die Dunkelheit, die diesen Anderen umgab. Eine Dunkelheit, die sich auszubreiten schien und die in der Lage war, sich und den Anderen zu umschließen. Sie war wie ein Raum, in den jemand beide auf eine merkwürdige Weise einschloss. Ihm war es nicht unangenehm, denn dadurch verschwanden auch die anderen Menschen aus seinem Gesichtsfeld und er musste ihnen gegenüber keinen Ekel mehr empfinden. Das Wort „Tod“ kam ihm in den Sinn. Von drückender Angst angegangen, aber auch erleichtert betrachtete er es. Denn auf einmal konnte er etwas sehen, dass er schon lange nicht mehr betrachtet hatte. Er wurde seiner selbst bewusst. Ein Tod schien zu ihm alleine zu sprechen. Zu lange standen die anderen Mitmenschen schon am Rande seiner Existenz und bildeten den Rahmen seines Endes, in dem er nur sehen konnte, was sie ihn sehen machten. Jetzt, wo ihn Dunkelheit umschloss, sah er sich alleine an und ein alter und fast vergessener Vers, den er in seiner Schulzeit hatte auswendig lernen müssen, trat in sein Bewusstsein:

Der Menschen müde Scharen verlassen Feld und Werk. Wo Tier und Vögel waren, trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Doch gleichsam, als würde er sich selbst antworten, kam ihm wie zugeworfen ein anderer Vers in den Sinn und setzte sich vor das Vorige.

Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen!

Fast unwillkürlich musste er sich zu dem dunklen Anderen umwenden. Der sprach mit unerwartet lebhafter Stimme: „Möchtest du das?“

„Wer bist du?“, fragte er träge in die Ecke hinein, aus der sich nun noch mehr Dunkelheit auszubreiten schien, als müsste er die Worte mühsam von sich wegstoßen.

„Wer ich bin, ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist doch, wer du bist und warum ich bin.“ Nach einer Pause, in der die Worte langsam Halt in dem alkoholisierten Verstand fanden, fuhr der Andere auf eine unerwartet offene Weise fort: „Ich sehe dich dort, wo du angekommen bist. Dein Leben scheint rum. Man kann es riechen. Merklich zerfällst du. Und weil sich dein Verfall nun auch körperlich manifestiert, scheint er unumkehrbar. Darum hast du dich auch in dein Schicksal gefunden und folgst ihm, indem du loslässt. Ich mag das. Ich komme von Zeit zu Zeit zu Menschen, denen es ähnlich geht. Das Bestehende lässt mich kalt. Ich habe kein Interesse an den Menschen, bei denen alles wie von selbst läuft. Aber die, die ihren Zenit überschritten haben und sich der Talfahrt übergeben, das sind die Existenzen, für die es sich zu leben lohnt.“

Der Alkohol musste ihm stark zugesetzt haben. Wie sonst wäre eine solch gegenwärtige Wahnvorstellung möglich?

„Ist dir schon mal aufgefallen, wie paradox der Eindruck ist, dass man seinem Schicksal freien Lauf lassen könnte?“, setzte der dunkle Andere seine Rede fort. „Das Loslassen selbst ist doch eine mehr als deutliche Entscheidung für eine Wegänderung, der man sich bewusst ist. Der Mensch, der seinem Schicksal also freien Lauf lässt, hat es eigentlich noch mehr in der Hand als der brave Fabrikarbeiter, der jeden Tag gehorsam seine Schichten schiebt, oder als der Lehrer, der jeden Tag seinen Stundenplan abarbeitet an Schülern, die dies ebenso folgsam über sich ergehen lassen. Leute wie du sind die eigentlich interessanten. Sie haben ein Ruder in der Hand und vollziehen existenziell bedeutsame Wendemanöver. Sie entscheiden sich gegen den sicheren Anlegeplatz und für die Stromschnellen, auch wenn diese auf einen Wasserfall zulaufen.“

Er spürte die Worte. Hypnotisch waren sie. Er vernahm sie, erfasste nicht aber in jeder Einzelheit ihren Sinn. Doch er fühlte, was sie in ihm auslösten und dies wohl auch tun sollten. Sie rüttelten in ihm ein Gefühl wach, das wie eine Mischung aus Bedeutung und Hoffnung zugleich war. Es weitete ihn von innen, lähmte ihn aber auch zugleich, weil dieses Gefühl bedeutete, dass es seine Größe nur bewahren konnte, wenn er dort blieb, wo er gerade war: am Ende. Er spürte, wie sich das Gefühl in ihm ausbreitete wie ein sanftes Betäubungsmittel. Taubheit breitete sich von seinem Zentrum her aus, so dass er sich aufzulösen begann. Er zerfloss zuerst innerlich und wurde so schwarz wie der Raum um ihn herum. Er durchfloss dessen Wände und tauchte ein in das Stimmengeplätscher der Leute, das ihn eine Weile trug, bis er in kleinen Wirbeln mit den hellen Tupfen der Gesichter pulsierte. Warm und taub fühlte sich das alles an. Man hätte nicht sagen können, wie lange dieser sanfte und freundliche Schwindel andauerte, der ihn solange trug, bis er seinen haltlos gewordenen Kopf auf die Tischplatte schlagen fühlte. Ein zeitloses Schwarz umschloss ihn jäh, ein anderes als das erste, und gab ihn erst am frühen Nachmittag des nächsten Tages wieder frei.

***

So schlimm war es noch nie! Er war froh, dass er sich nur selten an etwas erinnern konnte. Es reichte ihm, dass er mit einem gewissen Maß an Sicherheit ahnte, wo er gewesen war und wie der Abend abgelaufen sein musste. Er konnte sich weder an die getrunkene Menge, noch an die Auswahl der Spirituosen, noch an Uhrzeiten, geschweige denn an den Heimweg erinnern. Er lag angezogen auf dem Teppich im Flur. Sein Gesicht in einer Lache kalten Speichels, der übel roch. Sein Kopf und sein Körper taten überirdisch weh. Sein Arm, auf dem er wohl gelegen haben musste, war taub und bewegungsunfähig. Seine Augen brannten, als er sie öffnete. Ihm war übel und schwindelig. Sein Körper lag merkwürdig verrenkt. An Aufstehen war so nicht zu denken. Langsam, mühevoll und unter Schmerzen drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

Vor seinen Augen tanzten wilde, nervöse Punkte umeinander. Jetzt vielleicht wäre normalerweise die Zeit gewesen, in denen er Studenten in seiner Sprechstunde empfing, Hausarbeiten, Klausurergebnisse, Prüfungsvorhaben, Forschungsvorhaben und Ähnliches mit ihnen zu besprechen hatte. Jetzt saßen wahrscheinlich einige von ihnen vor seinem Zimmer und wunderten sich über seine Abwesenheit; vielleicht taten sie das aber auch nicht, sich wundern. Bei Tag war alles so klar für ihn. Die Welt bestand im Wesentlichen aus Materie und Energie. Daneben gab es für ihn nichts. Einigen Studenten machte er das immer wieder deutlich, aber sie begriffen es nicht. Die schickte er weg. Mit Studenten – und auch Kollegen –, die die einfachen Grundlagen nicht anerkannten, gab er sich nicht ab.

Die Grundlagen, das war eine Welt voll einfacher Prinzipien. In dieser Welt des Unsichtbaren herrschten die Elemente nach unveränderlichen Gesetzen der Anziehung und Abstoßung, der Bewegung und Ordnung, der Reinheit und der Mischung. Sämtliche menschliche Regungen waren hier irrelevant. Im Gegenteil, diese Gesetze waren lange vorher da. Sie lagen lange vor der Schöpfung als Möglichkeiten des Universums vor und zwangen die entstandenen Elemente in ihre Choreographie. In dieser Choreographie der Elemente gab es keinen Zufall, kein Abweichen, nicht einmal ein Schicksal oder eine Entscheidung. Das Einzige, was es hier für den Menschen gab, waren die Möglichkeiten, die diese unsichtbare Welt bereitstellte. Sie zu entdecken und zu nutzen war seine Aufgabe. Und die Probleme, die der Mensch hatte, waren gemessen an dem Reichtum dieser Welt nur dann Probleme, wenn es hier eine Lösung und damit einen Weg gab, der beschritten werden musste. Vielleicht war es diese Gewissheit, die es ihm ermöglichte, vormittags klar zu bleiben. Vielleicht war sie es aber auch, die ihn später wieder zur Flasche greifen ließ. War sie doch auch eine dieser Möglichkeiten, die es ihm ermöglichte, sich der unerträglichen Kontingenz menschlichen Zusammenlebens mindestens teilweise zu entziehen, wenn auch nicht so effektiv, wie er sich das vielleicht manchmal wünschte.

Er nahm sich zusammen und sammelte sich. Er musste langsam auf die Beine kommen, um wenigstens einige seiner Geschäfte zu erledigen. Er setzte sich vorsichtig auf. Sterne tanzten wieder wie kleine Moleküle vor seinen Augen. Kristalline Formen und Muster tauchten auf. Geduldig wartete er, bis sie gingen und ihn so klar sehen ließen, dass er aufstehen und den Tag beginnen konnte. Als er vor das Tor trat, war es eine kühle Frühlingsluft, die ihm den letzten Nebel des vorigen Tages aus dem Bewusstsein riss und ihn ermutigte, den Weg zur Universität, den er normalerweise mit der Elektrischen zurückzulegen pflegte, zu Fuß zu gehen. Die Luft war klar und gab die Sonne frei, die sich mit auferweckender Kraft über die Stadt legte. Fast war er versucht, sich der frühlingshaften Stimmung hinzugeben, die er auch in den Menschen auf der Straße sah. Sie schienen sich über den matschigen Grasgrund zu freuen, den der letzte wegtauende Schnee mehr und mehr freigab; über jeden Lebensfunken, der sich in den Straßen düsterer Enge trotzig zu behaupten versuchte, um Anfänge zu versprechen. „Aufklärung“, kam ihm in den Sinn. „Auferstehung“, dachte er mit einem Anflug von Hochmut. „Aber nicht hier, Leute! Nicht hier und nicht heute, nicht an diesem Ort. Was versprecht ihr euch vom Stadtleben? Immer mehr von euch strömen hierher an einen im Grunde lebensfeindlichen Ort. Hier benebelt ihr euch mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein und auf der Höhe der Zeit zu leben. Hier wähnt ihr den Maßstab der Gegenwart. Ihr atmet Moderne. Hier tauscht ihr die einfachsten und Sicherheit gebenden Funktionen des Lebens gegen ein Bewusstsein von trügerischer Bedeutung ein. Wie ein Meer von Wassertropfen folgt ihr dem Strom, der euch morgens in die eine und abends in die andere Richtung zieht. Hier lasst ihr euch treiben ohne euch zu fragen, wer eigentlich für die Gezeiten sorgt. Ihr habt das Gefühl von Bedeutung und Wichtigkeit und seid euch eurer Lähmung nicht bewusst, der Lähmung, die euch die Stadt auferlegt, weil sie euch benötigt, weil sie sich aus euch baut und erhält. Ihr seid ihre Nahrung, ihre Atemluft. Sie saugt euch ein und saugt euch aus. Solange ihr noch Energie habt, seid ihr ihr von Nutzen. Hat sie euch verbraucht, scheidet sie euch aus und erst in diesem Moment werdet ihr vielleicht begreifen, dass euer Leben nie euer eigenes gewesen war und es deshalb hier niemals eine Auferstehung geben kann. Das Stadtleben ist kein Wert, nicht einmal ein Kompromiss. Es ist ein enteignetes Leben. Wenn ihr sterbt, werdet ihr es merken. Hier hat keiner mehr einen eigenen Tod. Nicht einmal mehr ein eigenes Altern. Tod und Alter sind hier genauso bedeutungslos wie das Leben selbst.“

399
488,22 ₽
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9783750218291
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