Читать книгу: «Wenn Gedanken Flügel hätten»

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Copyright © 2014 by Verlag WILD media Andreas Martin Wild, Apolda www.wild-media.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes das in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat / Redaktion: Elisabeth Ladiges, Mainz Umschlaggestaltung: leography, Apolda Umschlagabbildungen: Guido Werner, Weimar-Berlin eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
Für Sara, Martin und Tim

Vorwort

In seinen Liedern bringt Matthias Gehler auf sehr persönliche Weise zum Ausdruck, was viele Menschen zu DDR-Zeiten bewegte, ohne es offen anzusprechen. Die Texte und Erläuterungen bieten dazu eine kleine Zeitreise in den ostdeutschen Alltag bis zum Tag der Maueröffnung. Wer fragt, wie es in der DDR war, findet in diesem Buch poetische Antworten zu den hässlichen Seiten des SED-Systems wie auch zu den unverfänglichen Augenblicken unseres Lebens damals.

Matthias Gehler und mich verbindet eine kurze, aber intensive Zeit der Zusammenarbeit im Jahr der Deutschen Einheit. Matthias Gehler war Regierungssprecher der ersten demokratisch gewählten und zugleich letzten Regierung der DDR von Ministerpräsident Lothar de Maizière. Ich war seine Stellvertreterin.

Eine nach westlichen Maßstäben funktionierende Pressestelle haben wir nicht vorgefunden, als es losging. Wir haben viel improvisiert und noch mehr gearbeitet. Die Zeit von der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 bis zum 3. Oktober 1990, der Wiedervereinigung Deutschlands, waren sechs herausfordernde Monate.

Mittlerweile ist dieses halbe Jahr ein Stück Zeitgeschichte. 2015 feiern wir den 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Es ist gut, dass wir dazu auf Lieder und Gedichte wie die hier abgedruckten zurückgreifen können.

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, September 2014

Prolog

Willi Wild und ich sind auf dem Rückweg von Hamburg nach Erfurt. Die Stimmung ist gut an diesem 06. September 2013. Schließlich gehörten wir gestern Abend zu den Nominierten für den Deutschen Radiopreis. In der Kategorie „Beste Aktion“ sind wir unter die letzten drei gekommen. Das beflügelt. Beseelt davon, über die Bildschirme Deutschlands geflimmert zu sein, tauschen wir begeistert unsere Eindrücke aus. Den roten Teppich hatten wir medienwirksam gleich mehrfach betreten. Nach der After-Show-Party sind wir in einer Luxuslimousine ins Raddison Blu chauffiert worden.

Nun sitzen wir in unserem Dienstwagen und hängen der Welt der Stars und Sternchen nach. Unser Gespräch wird philosophisch. Scherzend zitiere ich: „Mein Publikum klatschte und lachte, die einen laut und die anderen sachte.“ Willi darauf: „Ach ja, du warst ja auch Liedermacher.“ Und weil das alles so nicht mehr in mein Leben passt, entgegne ich etwas barsch und endgültig: „Diese Zeiten sind vorbei.“

Mein Beifahrer lässt nicht locker: „Wann bist du eigentlich das letzte Mal vor größerem Publikum aufgetreten?“ Im Auto gibt es kein Entrinnen. „Ich glaube, es war bei der Eröffnung des Schleswig-Holstein Musik Festivals im Juni 1990.“

Justus Frantz hatte mich gebeten, einige Lieder zu singen. Der Einladung des Festival-Intendanten war allerlei Bonner Politprominenz gefolgt und hatte sich auf Schloss Wotersen versammelt. Auch Politiker wurden ins Programm integriert. Arbeitsminister Norbert Blüm las beim „Karneval der Tiere“ von ihm satirisch gestaltete Zwischentexte. Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg bekam einen Taktstock in die Hand gedrückt und wurde vor das Stabsmusikkorps der Nationalen Volksarmee aus Rostock gestellt. Es spielte zusammen mit dem Musikkorps der Bundeswehr aus Bonn den Präsentiermarsch „Großer Kurfürst“. In der „Welt am Sonntag“ war anschließend zu lesen: „Lothar de Maizière schickte … seinen Regierungssprecher Matthias Gehler. Gehler sang mit sanfter Stimme zur Gitarre.“ Dieser Kommentar traf zumindest die prickelnde Stimmung. Nach dem Konzert hatten viele aus dem Westen Tränen in den Augen. Sie konnten vielleicht nicht immer die Anspielungen auf die ostdeutsche Realität in den Liedern verstehen, aber den Sinn hatten sie begriffen. Ich sehe die Gesichter und Mienen heute noch lebendig vor mir – eine emotionale Antwort in gesamtdeutscher Dimension.

Nach der Geschichte vom Schleswig-Holstein Musik Festival bedrängt mich mein Beifahrer weiter: „Und dann hast du deine Gitarre an den Nagel gehängt?“

Ich überlege: „Stimmt nicht ganz. Es gab noch ein Konzert im Ost-Berliner Pressezentrum in der Mohrenstraße. Es fand in jenem Saal statt, in dem Günter Schabowski seinen Zettel vorgelesen hatte, der zur Öffnung der Mauer führte und in dem wir als erste frei gewählte DDR Regierung ebenfalls unsere Pressekonferenzen abhielten. Der Saal existiert nicht mehr. Das Pressepult steht im Museum. Moderiert wurde das Konzert damals von der Stellvertretenden Regierungssprecherin Angela Merkel. Wir beide wollten eine Ära abschließen, die als Wende oder friedliche Revolution 1990 noch nachwirkte, und ich wollte mich am Ende meiner Regierungssprecherzeit mit diesem Abend von den Kolleginnen und Kollegen der Presse aus Deutschland und der ganzen Welt verabschieden. Nach dem 03. Oktober sollte der Blick vor allem nach vorn gerichtet sein. Ab diesem Zeitpunkt stellte ich meine Gitarre ins Abseits.“

Willi Wild: „Wie bist du denn überhaupt zur Musik gekommen?“

„Ich habe Gitarre spielen gelernt und das dann später in der Zeit des Studiums kultiviert.“

„Du hast Theologie, Kommunikationswissenschaften und Psychologie studiert?“

„Zunächst fünf Jahre Theologie und Musik mit Formenlehre, Chorleitung, Gesang und Klavierunterricht. Letzterer war eine Plage. Obwohl ich Klaviermusik mag, habe ich mich mit den schwarzen und weißen Tasten herumgequält und kaum Fortschritte erzielt. Während andere an die Orgel wechselten, blieb ich in „Peters Schaukel“ hängen. Mein Instrument ist die Gitarre.“

„Und was ist davon nach 25 Jahren übrig geblieben?“

„Unsicherheit.“

„Warum denn das?“

„Die Zeit des Gauklers ist vorbei.“

„Hast du nicht trotzdem Lust, wieder einmal zu spielen?“

Ich wehre ab, denke aber an Franka Günther, die Organisatorin des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“. Sie hatte mich erst vor kurzem nach einer Veranstaltung in Jena angesprochen. Dort war mir der Satz rausgerutscht, dass hier ein Konzert von mir zu DDR-Zeiten verboten worden war. Nun meinte sie, ich solle unbedingt nach 25 Jahren wieder vor Publikum auftreten – die Zeit sei reif.

Weil ich Willi Wild im Auto nicht ausweichen kann, starre ich auf die Fahrbahn und beantworte geduldig seine Fragen. Ich zitiere Liedstrophen, Gedichte und Textfragmente und erzähle so viele Geschichten, wie zwischen Hamburg und Erfurt passen. So berichte ich vom Berliner Vorausscheid für das Chanson-Festival in Frankfurt/Oder, von Marcus, den die Polizei auf dem Alexanderplatz in die Mangel genommen hat, vom Maler Fink auf Hiddensee, von der Warnung vor dem Lied „Grau“, von der Messe der Meister von Morgen, dem Spatz als Symbolfigur und von dem Drucker, der mutig nicht genehmigte Plakate durch die Maschine laufen ließ.

Mir wird klar, dass das Tingeln durch Theater, Kirchen und Klubs mit etwa fünfzig Konzerten im Jahr bleibende Spuren hinterlassen hat und hinter fast jedem Lied eine Geschichte steckt. So ergibt sich im Nachhinein eine persönliche Sicht auf ein ganz spezielles Leben in der Subkultur der DDR. Mein Beifahrer ist nicht im Osten groß geworden. Er findet, dass viele der Lieder und Verse aktueller denn je sind. Schließlich sagt Willi: „Du schreibst das auf. Ich kümmere mich um das Organisatorische. Ich verlege das Buch. Außerdem wäre es gut, wir hätten noch Musik dazu.“

Wir erreichen Erfurt. Es war eine Fahrt in die Vergangenheit. Ich habe über Willis Argumente nachgedacht und mich mit seiner Idee angefreundet. Dann habe ich meinen alten Koffer wieder aus dem Keller geholt, meine Zulassung als Liedermacher gefunden, Noten, Texte und Gedichte sortiert, habe recherchiert und Geschichten aufgeschrieben.

Schließlich bin ich oft bis nach Mitternacht in einem Tonstudio in Friedrichroda gewesen und habe elf Lieder eingesungen. Vielen Dank an Eric Jeitner und Daniel Sütterlin für die Geduld, die vielen Ideen, die musikalische Begleitung und das Arrangement. Wir sind in die Vergangenheit gesprungen und landeten in der Gegenwart.

Die Warnung
Berliner Kiez

Ich wohne in Berlin Friedrichshain. Das Haus in der Schreinerstraße muss früher Balkone gehabt haben. Jetzt tritt man beim Öffnen der maroden Balkontür ins Leere. Überall bröckelt der Putz von der Fassade. Die Gründerzeitverzierungen sind an manchen Häusern nur noch zu ahnen. Oft klaffen Wunden im Gestein, Einschusslöcher aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es dominiert die Farbe grau. Im Parterre betreiben junge Leute einen kleinen Zeitungs- und Zigarettenladen. Sie haben in Eigeninitiative dem Erdgeschoss einen abweichenden Anstrich gegeben. Das Bunte hebt sich ab und passt nicht recht zu dem, was die Augen gewöhnt sind.

Ich liebe diesen Kiez. Im Sommer, wenn alle ihre Fenster und Pseudobalkontüren auch nachts geöffnet haben, fühlt man sich durch Kindergeschrei, Luststöhnen geliebter Frauen oder Wutausbrüche besoffener Ehemänner wie eine große Familie. Da der Weg zur Arbeit immer derselbe ist, trifft man auch immer dieselben Leute. Wir warten dann am U-Bahnhof Samariterstraße auf den gelben Lindwurm, der sich unter Berlin hindurchgegraben hat und der uns, nachdem er uns alle mit einem Mal verschlungen hat, täglich an unterschiedlichen Stellen in der Stadt wieder ausspuckt. Dieser graue Alltag passt zu den Häusern. Die Lethargie verbindet und befriedet. Es entsteht eine Vertrautheit, auch mit denen, die diese Gleichmacherei inzwischen schon als Vision für die gesamte Menschheit proklamieren. Ich denke darüber nach, ob hier im entferntesten Sinne eine ganze Gesellschaft dem sogenannten Stockholm-Syndrom zum Opfer gefallen ist, bei dem die Geiseln ein positives Verhältnis zu ihren Geiselnehmern entwickeln. Es entsteht eine Weltfremdheit, eine Subkultur, in der alle Sinne jede Abweichung umso schärfer aufnehmen, je gleicher sie geschaltet sind. Diese natürliche Gegenreaktion wird uns die Freiheit bringen.

Westfernsehen am Abend, doppeldeutige Sätze, der unvergleichliche Geruch der Waren im Intershop, bunte Farbkleckse dort, wo sie nicht erwartet werden und Kreativität, die aus Mangel Überfluss macht, bedienen unsere inzwischen höchstgradig sensiblen Sensoren. Als ich 1984 das erste Mal ins „nichtsozialistische“ Ausland durfte und auf einem Westberliner S-Bahnhof stand, war ich überfordert von so vielen bunten Schildern, von denen mir nicht wirklich eines den Weg wies. Später hatte ich mir bei meiner Rückkehr in die DDR geschworen, das Bunte zumindest im Ansatz zu leben. Aber nach zwei oder drei Tagen war ich wieder integriert im grauen Trott – allerdings auch sofort wieder sensibel für jede Abstufung dieser Farbe.

Es gibt trotzdem Abwechslung in der grauen Welt. Da ist die tragische Geschichte von der Silvestergesellschaft, die mit ihrem baupolizeilich gesperrten Balkon in die Tiefe gestürzt war. Schon am darauffolgenden Neujahrstag kannte sie fast jeder Friedrichshainer. Abwechslung bieten auch kleinere Kultur-Events, Besuche von Freunden oder alternative Kirchenveranstaltungen. Ansonsten verschwindet der DDR-Bürger am Abend in seinen vier Wänden, die er sich bei bestehendem Wohnungsmangel irgendwie erobert hat. Die Wohnung in der Schreinerstraße hatten wir besetzt, bevor wir sie übernommen haben. Wir hatten uns als Untermieter ausgegeben, sofort nachdem die Vormieterin, eine alte Frau, gestorben war. Die Möbel, die die Erben nicht wollten, haben wir entsorgt. Das war der Deal. Die Wohnung hat kein Bad, aber eine Toilette. Wir haben Glück, andere müssen eine halbe Treppe tiefer steigen und sich das stille Örtchen mit den Mietern in der unteren Etage teilen.

In unserer Nähe sind zwei Kirchen. Die Samariterkirche und die Galiläakirche. In der Samariterkirche und dem Pfarrhaus bin ich mit Stephan Krawczyk, Karl-Heinz Bomberg und anderen Liedermachern aufgetreten. Während der Pfarrer der Samariterkirche, Rainer Eppelmann, eher draufgängerischer Natur ist, erkenne ich in Pfarrer Cyrus in der Galiläakirche den sanftmütigen Hirten seiner Gemeinde. Zu Eppelmanns Veranstaltungen kommt alle Welt und ein Überblick über das Publikum ist kaum möglich. Dagegen kann Gerhard Cyrus sofort ausmachen, wer in der Kirche sitzt. Er lädt hauptsächlich innerhalb seiner Gemeinde ein und macht Konzerte nicht unbedingt öffentlich bekannt. Auch bei meinem Auftritt ist die Kirche nicht ganz voll. Schon vor dem Beginn macht mich der Pfarrer auf ein Paar aufmerksam, das er nicht kennt und das seiner Ansicht nach von der Stasi sein könnte. Die beiden sitzen etwas seitlich und wirken wie Fremde. Sie sind mittleren Alters. Er trägt einen kleinen Schnauzbart, ist sportlich gebaut und sitzt kerzengerade in der Kirchenbank. Sie wirkt unscheinbar und hat ihm gegenüber etwas Untergebenes.

Ich singe passend für die Gegend, für den Abend, für die Gemeinde und alle andächtig lauschenden Zuhörer auch das Lied „Grau“. Es geht letztlich darum, was diese Farbe aus uns macht, um Gleichgültigkeit und um Kompromisse. Es sind kaum Jugendliche im Publikum. In den Gesichtern erkenne ich viel Nachdenklichkeit. Nach dem Konzert spreche ich noch mit einigen Zuhörern und bekomme die Vermutung bestätigt, dass es sich bei ihnen überwiegend um Christen handelt. Die Kirche hat sich geleert. Ich stehe mit dem Pfarrer allein vorn im Altarraum, da entdecken wir, dass das fremde Paar noch nicht gegangen ist. Sie warten im Halbdunkel neben ihrer Reihe. Ich werfe dem Pfarrer einen Blick zu. Er versteht und räumt allein weiter auf. Ich gehe zu den beiden Gästen und reiche ihnen die Hand. Sie geben mir zu verstehen, dass ihnen das Konzert sehr gefallen habe und dass sie tief bewegt seien. Sie sagen das in einer Ehrlichkeit, die in mir keinen Zweifel aufkommen lässt. Auch dann nicht, als sie erklären, dass sie geschickt worden seien und kein Paar wären, sondern Kollegen. Sie kämen nicht von der Stasi, aber von der Polizei. Dann wendet er sich mit den Worten an mich: „Wir haben eine Bitte an Sie, singen Sie in Bad Elster nicht das Lied ‚Grau‘.“ Dann verabschieden sie sich und gehen.

Ich bleibe betroffen zurück und weiß nicht, was ich tun soll. Tatsächlich werde ich am übernächsten Wochenende im Vogtland, in Bad Elster, in der Kirche singen. Die Playlist liegt noch nicht fest. Ich stehe also unter Beobachtung. Ich werde über das Gespräch mit den Polizisten mit niemandem reden, um sie nicht zu gefährden. Die Begegnung lässt mich am Abend nicht einschlafen. Es bleiben Zweifel.

Frühling in Bad Elster

Die Kirche von Bad Elster ist brechend voll. Es sind auch Kurgäste gekommen. Jugendliche sitzen im Mittelgang auf dem Fußboden. Trotz der vielen Menschen könnte man eine Stecknadel fallen hören. Ich habe mich entschieden. Ich singe das Lied „Grau“ nicht. Bin ich feige, gebe ich nach an der falschen Stelle? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Es ist meine Geschichte und meine Entscheidung. Noch am Abend des Erlebnisses in der Galiläakirche hatte ich den Einfall, ein Ersatzlied zu schreiben. Bevor ich das neue Lied in Bad Elster singe, wird es von mir angekündigt: „Und jetzt ein Lied für unsere Gäste.“ Fast alle klatschen. Einige nicht und fallen dadurch auf. Dann singe ich im Frühjahr 1989 ein eigens für dieses Konzert getextetes Frühlingslied: „Wer hinter allem, was er nicht selber spricht, das Böse sieht, begreift am Ende nicht manch Frühlingslied.“

Nach dem Wendeherbst

Den Polizisten, der mich gewarnt hat, konnte ich später ausfindig machen. Wir sind inzwischen befreundet.

Grau

Ich hab eine neue Tönung Grau entdeckt,

Ein Grau, in dem das Grau ganz grausam steckt.

Es ist nicht aus Schwarz oder Weiß geborn.

Es hat seine Herrschaft sich selbst erkorn.

Es schleicht an den Fassaden der Häuser entlang

Und macht auch unsere Hirne mit krank.

Es taucht bis tief in die Seele hinab,

Verwischt die Grenzen, doch baut sie nicht ab.

Ich hab eine neue Tönung Grau entdeckt,

Ein Grau, in dem das Grau ganz grausam steckt.

Es ist nicht aus Schwarz oder Weiß geborn.

Es hat seine Herrschaft sich selbst erkorn.

Es lähmt auch unsre Entscheidungsgewalt,

Verbraucht unsre Kraft, macht uns frühzeitig alt.

Beim Schaffen, was uns zu schaffen erlaubt,

Bleibt ein Grau, das uns das Möglichste raubt.

Ich hab eine neue Tönung Grau entdeckt,

Ein Grau, in dem das Grau ganz grausam steckt.

Es ist nicht aus Schwarz oder Weiß geborn.

Es hat seine Herrschaft sich selbst erkorn.

Oktober 1988

Frühlingslied

Wer hinter allem,

Was er nicht selber spricht,

Das Böse sieht,

Begreift am Ende nicht

Manch Frühlingslied.

Und mag es draußen

Längst warm schon sein,

Heizt er noch immer ein.

Begreift am Ende nicht

Den, der durch Blumen spricht.

Ich sing auch für Leute, die hören wollen,

Weil sie hören sollen,

Was sie nicht hören wollen.

Wer wegen allem,

Was er nicht selber baut,

Verdacht erregt,

Der schimpft am Ende laut,

Wenn er alleine steht.

Und mag es draußen

Längst warm schon sein,

Heizt er noch immer ein.

Begreift am Ende nicht

Den, der durch die Blumen spricht.

Ich sing auch für Leute, die hören wollen,

Weil sie hören sollen,

Was sie nicht hören wollen.

Wer hinter allem,

Was nur ein Fehler ist,

Gefahr anfügt,

Begreift am Ende nicht,

Dass er sich selbst belügt.

Und mag es draußen

Längst warm schon sein,

Heizt er noch immer ein.

Begreift am Ende nicht

Den, der durch Blumen spricht.

04.03.1989

Die Jury
Frühjahr 1989

Die Deutsche Demokratische Republik kümmert sich um ihre Künstler. Das ist gesetzlich festgelegt in der „Anordnung über Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten“ vom 25. Mai 1971.

Ich bin Besitzer einer Klappkarte mit Siegel und Unterschrift von Herrn Gießner, Stadtbezirksrat für Kultur in Berlin-Friedrichshain, die mich zum anerkannten Solisten macht. Die sogenannte Pappe muss alle drei Jahre erneuert werden. Diesmal findet neben der obligatorischen Einstufungsüberprüfung auch ein Auswahlverfahren der Stadt Berlin für das Chanson-Festival Frankfurt/Oder statt. Ich gehöre zu den fünf Solisten, die dafür in die engere Wahl gekommen sind. Die Prüfung ist öffentlich. Sie findet in einem langen Saal über dem Kino „International“ statt. Der Raum ist abgedunkelt. Ein Seitengang führt hinunter zu einer kleinen intimen Bühne. Während seitlich des Gangs alle Plätze voll belegt sind mit Theater- und Jugendklubleitern, sitzen ganz vorn in den ersten beiden Reihen die Mitglieder der Jury. Sie sind fast alle über 40 und tragen blaue FDJ-Hemden. Es handelt sich um Kulturfunktionäre.

Mir wird ein Platz an der Seite im Gang zugewiesen. Die Dame, die mich begrüßt und die Organisationsleiterin des Sängerwettstreites ist, reicht mir die Hand und sagt, dass ich gleich am Anfang dran wäre. Außerdem freue sie sich schon auf meinen Auftritt. Mir wird etwas mulmig. Wahrscheinlich kennt sie nur das Programm, das ich vor drei Jahren eingereicht und vorgesungen habe. Es heißt „Wenn Gedanken Flügel hätten“ und ist vor allem humanistisch geprägt. Inzwischen sind zwei weitere Programme gefolgt. Im Frühjahr 1989 singt man nicht mehr nur Humanistisches, sondern legt mehr Wert auf politische Aussagen. Angesichts der Blauhemden habe ich allerdings keine Zweifel, dass ich kritischere Lieder singen werde – egal was geschieht. Aber die freundliche Dame, die an mich glaubt, macht mir Sorgen. Ich kann nicht zurück. Ich setze mich und nehme meine Gitarre aus der Hülle. Die Aufregung steigt. Werden mir die Finger gehorchen?

Nach einer Vorrede heißt es „Bühne frei“. Ich nehme mein Instrument, steige die Stufen nach oben und setze mich auf den bereitstehenden Hocker vor das Mikrofon. Geblendet durch das Scheinwerferlicht erkenne ich kaum Gesichter. Mein Mut kehrt zurück. Ich sage nichts, stimme kurz noch die D-Saite nach und fange an zu singen: „Wie alt war ich wirklich, als ich 15 war? War ich vielleicht zu jung für mich in diesem Jahr?“

Das folgende Lied ist direkter. Darin lache ich einen Polizisten an, dem meine Freundlichkeit suspekt ist. Während des Auftritts herrscht Ruhe und knisternde Spannung im Saal. Mir scheint, als warten einige im hinteren Zuschauerraum auf ein Duell mit den Blauhemden. Nach dem ersten Lied gibt es nur gedämpften Applaus. Am Schluss meines Vortrags ist der Applaus laut und lang – besonders aus den hinteren Reihen.

Ich denke darüber nach, ob die Jury meine Worte wirklich verstanden hat. Noch während meines Abgangs in Richtung Seitenplatz bezieht ein Jury-Mitglied erregt Position. Ein älterer Herr ist aufgestanden, hat sich dem Publikum und mir zugewandt und gibt zu verstehen, dass er den Inhalt des Liedes sehr wohl verstanden hat. „Doch warn wir wer, bevor wir was geworden sind“, wiederholt er meine Zeile, träfe für die DDR nicht zu. „Bei uns kann jeder sein, der er ist“, führt er aus. Der Sozialismus ermögliche die Entfaltung der Talente der Kulturschaffenden und jeden Bürgers, daran hätte er keinen Zweifel. Die Jury konzentriert sich in ihrer Beurteilung lange auf den Inhalt des ersten Liedes, obwohl ich eigentlich in den anderen viel direkter war. Sie sind vorbereitet. Der Text muss ihnen vorgelegen haben. „Wie alt war ich wirklich“ hatte ich schon im September 1987 geschrieben, jedoch bislang selten gesungen.

Als sie dann endlich auf den zweiten Titel zu sprechen kommen und auch da wieder nicht die Melodie und Dichtung kritisieren, sondern den Inhalt, stehe ich auf und entgegne, dass das Lied mit dem Polizisten auf einer wahren Begebenheit beruht. Das glaubt die Jury nicht. Wieder will ich etwas entgegnen, da spüre ich, wie mich mehrere Hände auf meinen Platz zurückziehen. Es sind Menschen, die mir besorgt zu verstehen geben, dass ich nichts mehr sagen soll. Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Intuitiv nehme ich meine Gitarre und stecke sie langsam in die Hülle. Jetzt redet keiner mehr, auch nicht die Jury. Zu hören ist der Reißverschluss der Hülle, der sich zeitlupenähnlich schließt. Ich nehme meine Gitarre, stehe auf und gehe den Gang nach oben in Richtung Ausgang.

Es regt sich in den Reihen, an denen ich vorbeigehe. Veranstalter und Leiter von Jugendklubs reichen mir im Halbdunkel des langgestreckten Saales Visitenkarten. Als sich die Tür hinter mir schließt, halte ich mehr als 30 Kärtchen und damit Auftrittsmöglichkeiten in meiner Hand.

Der Abend hat Konsequenzen. Die Teilnahme am Chanson-Festival in Frankfurt/Oder habe ich mir verscherzt. In meiner Pappe werde ich auf die Qualitätsstufe „gut II“ zurückgestuft. Ich darf lediglich 10 Mark bei selbstständigen Auftritten verlangen und nach Absprache hundert Prozent Konzertaufschlag. Von Theatern werden Auftritte, die schon geplant sind, abgesagt. Manche Veranstalter sind so offen und gestehen mir am Telefon, dass sie Anweisung haben, mich nicht singen zu lassen. Eine Ausnahme ist die Berliner Studiobühne in Friedrichshain, die sich mutig widersetzt und in der ich weiterhin auftreten darf.

Ich tingele jetzt von Jugendklub zu Jugendklub und genieße die publikumsnahe Atmosphäre. Da sitzen je nach Größe des Raumes fünfzig bis dreihundert Interessierte, die auf jedes Wort warten. Einige reisen sogar mit von Konzert zu Konzert. Jeder Abend hat ein eigenes Gepräge. Es entstehen neue Lieder, die dieser engen Beziehung zum Publikum entwachsen und entsprechen.

Während die Auftritte in den Theatern zurückgehen, füllen sich die Kirchen bis zum Bersten. Manchmal sitzen die Zuhörer nicht nur auf den Kirchenbänken, sondern auch noch auf dem Fußboden im Gang.

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22 декабря 2023
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107 стр. 12 иллюстраций
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9783981668414
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