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Umschlagbild: Ein Bündner Landjägerwachtmeister und ein Postkondukteur, zwischen 1855 und 1860. Von beiden Personen ist der Name nicht überliefert.

Beim Polizeibeamten handelt es sich wohl um Peter Kessler von Buchen im Prättigau.


Inhalt

Vorwort

Einleitung

Historischer Kontext

Polizeigeschichte im Spannungsfeld soziologischer Theoriebegriffe

Kultur

System

Macht

Zwischenfazit

Untersuchungsmaterial und Methodik

Quellenanalyse

Aufbau

Die Polizei als formales Organisationssystem

Institutionsstrukturen

1 Handlungsfelder

2 Organisatorische Bestimmungen

2.1 Hierarchieverhältnisse

2.2 Ausrüstung

2.3 Postenzuteilung und Unterkunft

2.4 Mobilität

2.5 Der polizeiliche Raumdiskurs

2.6 Zeit

2.7 Finanzen

2.8 Kommunikation im Dienst des Monitorings

Das formal-normative Landjägerprofil

1 Auswahlverfahren

2 Explizite Anforderungen

3 Korpsinterne und implizit formulierte Bestimmungen

3.1 Sprache als Kompetenzfaktor

3.2 Herkunft, Sprache und Konfession als Repräsentativitätsfaktoren

3.3 Bildung

3.4 Private Verhältnisse

3.5 Physische Konstitution

3.6 Auftreten und Verhalten

4 Zwischenfazit: Die diskursive Formierung eines Beamtensoldaten?

Das Polizeisystem als Resultat polizeilicher Alltagspraktiken

Körper und Gesundheit

1 Der Dienst als Peiniger

1.1 Topografie und Klima als Einflussfaktoren

1.2 Unvorhersehbarkeit als permanentes Verletzungsrisiko

1.3 Der Tod als Extremfall

2 Gesundheitsbewusstsein und Körperpflege

Der Umgang mit dienstfreier Zeit

Finanzhaushalt

Die soziale Interaktion

1 Familien- und Privatverbindungen

1.1 Die Familienbeziehungen auf der Probe

1.2 Familiengründung in der Fremde

2 Korpsinterne Umgangsformen

2.1 Die horizontale Ebene: Zwischen esprit de corps und Individualismus

2.2 Die vertikale Ebene

3 Die Interaktion mit der Gesellschaft

3.1 Die externe Rezeption als Ausgangssituation

3.2 Vorgezeichnete Verhaltensschemata?

3.3 Zwischen Problemschlichtung und Problementfachung

3.4 Die Wurzeln der Beamtenbeleidigung

3.5 Landjäger und ihr Fang

Innenwelten – die Psychologie des Landjägers

Selbstwahrnehmung

1 Massstäbe der Selbstbeurteilung

2 Das Verhältnis zur Definitionsmacht

Ideologie

Gemütszustände

Schlusswort

Anhang

Bildnachweis

Abkürzungen

Quellen

Literatur

Ortsregister

Personenregister

Vorwort

Was bedeutete es, in einem werdenden modernen Staat des 19. Jahrhunderts Polizist zu sein? Wie sah sein Alltag, der permanent zwischen Dienstzeit und Pikettbereitschaft pendelte und auf einem fremden Posten zu versehen war, aus? Wie bewältigte der Polizeibeamte in diesem werdenden Staatswesen seinen Alltag und die ihm auferlegten Pflichten? Und vor allem: Wie fühlte er sich dabei?

In der folgenden Untersuchung zur Alltagsund Sozialgeschichte des Polizeiwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiere ich mich in erster Linie für die Stimme der damaligen Landjäger. Anhand eines Korpus von mehreren tausend Rapporten, die in Form und Umfang einzigartig sind, habe ich versucht, ihren Alltag und mit ihm verbundene Themenfelder möglichst vielschichtig zu rekonstruieren. Dazu gehören Anzeigen über private und berufliche Auseinandersetzungen mit Interaktionspartnern, Fragen der Verköstigung von Fahrenden (den abzuschiebenden und unerwünschten Fremden), der Umgang mit der Macht (gegenüber denselben), gegen Landjäger gerichtete oder von ihnen verübte Misshandlungen, Berichte über Arzt- und Kurbesuche, konfessionelle Spannungen, Sprachfragen, subsistenzwirtschaftliche Aktivitäten, Ernährungsfragen, Unterkunfts- und Mietfragen, Verschuldungen, Berichte von Hausschäden oder Naturkatastrophen, Alkoholprobleme, Fälle von Vergewaltigungen, Paternitätsfälle, Depressionen, Spuren von Gewissensbissen oder Ängsten, Todesfälle, Beerdigungen von Dienstkameraden und zahlreiche andere Aspekte.

Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, dass es mir gelingt, Sie mit auf diese Reise zu nehmen und mit Ihnen in die aus diesen unterschiedlichsten Themenfeldern rekonstruierte Welt der Landjäger einzutauchen.

Für die Realisierung dieser Untersuchung, welche gleichzeitig eine leicht überarbeitete Version meiner im Wintersemester 2013/14 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich eingereichten Dissertation ist, wurde ich von mehreren Personen und Institutionen unterstützt. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken. Besonderer Dank gilt Carlo Moos, welcher diese Arbeit betreut hat und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. Clà Riatsch danke ich für die vielen geistreichen und interessanten Gespräche während der gesamten Studienzeit. Weiter möchte ich mich ganz besonders bei allen Mitarbeitenden des Staatsarchivs Graubünden bedanken, insbesondere bei Ursus Brunold, der mir mit seinem Wissen und seinen Ratschlägen immer wieder spannende Einblicke ins Archivleben gewährt hat und mit dem ich viele interessante Unterhaltungen führen durfte. Meinem guten Freund und ehemaligen Studienkollegen Fabian Baumgartner gilt ein ganz herzlicher Dank für die wertvollen Rückmeldungen während meines Schreibprozesses. Nicht zuletzt und ganz besonders möchte ich meiner Freundin Marion, meinen Eltern und meinen Schwestern danken, welche mich immer mit grossem Herzen und viel Geduld unterstützt und bei Bedarf zurückgeholt haben aus dem imaginären Büro des Verhörrichters, bei dem alle Rapporte der Landjäger ein- und ausliefen.

Für das Gelingen dieser Publikation möchte ich mich besonders herzlich bei meinem Arbeitgeber, der Pädagogischen Hochschule Graubünden, bedanken. Sie hat mir bereits während des Schreibens hervorragende Bedingungen gewährt und war mir eine wichtige Stütze. Für die Buchproduktion bedanke ich mich ganz herzlich beim Verlag Hier und Jetzt und im Besonderen bei Madlaina Bundi, Simone Farner und Urs Hofmann. Sie alle haben durch ihre lösungsorientierte Art und Weise einen sehr guten Austausch ermöglicht. Marius Risi vom Institut für Kulturforschung Graubünden danke ich für die wertvollen Ratschläge und für seine Anstrengungen im Hinblick auf das Endprodukt. Für die Bildbearbeitung sei meinem guten Freund Donat Caduff, für die grosse Hilfe bei der Bildbeschaffung im Besonderen Arno Caluori vom Rätischen Museum, für die Hilfe bei der Reproduktion der ausgewählten Quellen den Mitarbeitenden des Staatsarchivs Graubünden ganz herzlich gedankt.

Rofels, stad 2015

Martín Camenisch


1 Der Canton Graubünden verbessert und vermehrt, 1821. Gezeichnet von H. Keller, graviert von M. Scheumann.

Einleitung

«[Ich] Ersuche Sie Freündschaftlich, wan ich könti mein Weib, und Kinder, nach Zernetz zu mir nemmen, bis künfigtij Frujahr, und dan werde ich in Gottes nammen den Landjäger Dienst quiteren, und nach Hause gehen.»1

Als der in Zernez stationierte Landjäger Jakob Guler (1793–1841) im Herbst des Jahres 1830 diese Mitteilung an seinen Vorgesetzten in Chur, Verhörrichter Heinrich de Mont (1788–1856)2, sandte, war das Polizeiwesen bereits seit mehr als fünf Jahren ein zentraler Bestandteil seines Alltags geworden.3 Im Verlauf dieser Zeit hatte er sich als Polizist zahlreichen Normen und Rahmenbedingungen beugen müssen, hatte jedoch im jungen und mit einem relativ personalarmen Polizeikorps ausgestatteten Kanton Graubünden auch seinen Teil zur Konstituierung des sich entwickelnden Polizeisystems beigetragen. Dies, indem er entweder mit einem richtlinienkonformen Verhalten zu einer Verdichtung geltender Rahmenbedingungen beigetragen oder aber bei der Bewältigung des Alltags einen eigenen, neuen Interpretations- oder Vorgehensweg eingeschlagen hatte, welcher von der Polizeileitung entweder akzeptiert, nicht entdeckt oder im schlimmsten Fall als deviant erklärt und sanktioniert wurde. Aus der Retrospektive ist das Verhältnis, in dem Landjäger Guler am Tag des zitierten Rapports zu diesem System stand, nur zu vermuten. Erfahrbar gemacht werden in seinem Bericht dagegen die arbeitsbedingte Trennung von der Familie und ein sich in seiner Anfrage widerspiegelndes Untertanenverhältnis. Die angesprochene Kündigungsabsicht lässt den Hauch einer gewissen Wehmut anklingen, was Zwänge und Nöte, in denen sich der Landjäger befand, erahnen lässt. Landjäger Jakob Guler hing offenbar durchaus an der Beamtenstelle. Jedoch weiss man nicht, ob er sich mit derselben auch innerlich identifizieren konnte oder ob dafür in einer von Armut geprägten Zeit eher finanzielle Gründe ausschlaggebend waren. Hier konzentrieren sich einerseits die sich wechselseitig beeinflussenden Fragen des Soll- und des Ist-Zustands, andererseits auch diejenigen nach der Zufriedenheit und der Identifikation mit dem System. Um die Beantwortung dieser Fragen soll es in der folgenden Untersuchung gehen. Das Interesse gilt insofern einem Bereich der Bündner (und Schweizer) Alltagsgeschichte, welcher bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist.


2 Reglement für ein aufzustellendes Piquet Landjäger, Mai 1804.

Begonnen wird dieser Einleitungsteil zuerst mit einem kurzen Abriss zum historischen Kontext des sich konstituierenden Polizeikorps. Danach wird mit dem theoretischen Rahmen weitergefahren, in welchem auch die gegenwärtige polizeigeschichtliche Forschungslage zur Sprache kommt. Im dritten Kapitel dieses Einleitungsteils folgen die Angaben zum methodischen Vorgehen, das sich aus einer kritischen Betrachtung des herangezogenen Quellenmaterials und den inhaltlichen Bemerkungen zum Aufbau der vorliegenden Untersuchung zusammensetzt.

Historischer Kontext

Die Geburtsstunde des modernen Polizeiwesens geht in Graubünden mehr oder weniger mit der Entstehung des Kantons selbst einher: Mit der Publikation vom 30. Mai 18044 richtete der junge Kanton Graubünden in Anlehnung an die Tagsatzungsverfügung vom 12. September 18035 erstmals ein zentralisiertes Polizeikorps ein. Zwar hatten die Gemeinen Drei Bünde bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts einige Versuche unternommen, ein permanentes fremdenpolizeiliches Korps zu installieren, jedoch waren sämtliche Ansätze an den politischen Strukturen und am mangelnden Interesse der Gerichtsgemeinden gescheitert. Diese waren nicht bereit, die für eine polizei(ähn)liche Institution benötigte Geldsumme aufzubringen.6 Dementsprechend hatten die im Mai 1804 aus dem Bockenkrieg zurückkehrenden acht Milizsoldaten, welche das erste kantonale Korps bildeten, keinerlei Erfahrungen mit der polizeilichen Alltagspraxis. Die Bündner Protopolizisten präsentierten sich diesbezüglich jedoch keineswegs als Aussenseiter, war die Entstehung modern-staatlicher Polizeikorps doch eine relativ neue Entwicklung, insbesondere im jungen eidgenössischen Staatenbund der Mediationsphase. Welche Amtsverrichtungen diesem neuen Beruf des Polizisten denn eigentlich zufallen sollten und wie das Tätigkeitsprofil eines solchen kantonalen Sicherheitsbeamten genau aussehen sollte, darüber waren nur vage Vorstellungen vorhanden. Die im Lauf der Jahre einsetzende Professionalisierung, welche sich im jungen Kanton Graubünden nicht zuletzt durch den 1818 antretenden Landjägerkorpsleiter Heinrich de Mont bemerkbar machte, sollte schliesslich ein immer konkreteres und eindeutigeres Bild von Auswahl- und Ausschlusskriterien bei der Selektion der erwünschten Mitglieder ermöglichen. Insofern ist bei der Ausmarchung des Landjägerprofils nie von einem einheitlichen, sondern vielmehr von einem sich stets wandelnden Berufsbild auszugehen. Die Systemtheorie würde – um bereits einen theoretischen Ansatz der im folgenden Kapitel diskutierten möglichen Herangehensweisen an das Quellenmaterial anzusprechen – aus organisationssystematischer Betrachtungsweise von einem sich autopoietisch erhaltenden und gleichsam evolutiv fortentwickelnden System sprechen. Als Resultat unzähliger Kommunikationen und Entscheidungen jedenfalls sollte dieses Landjägerprofil im Verlauf der hier untersuchten dreissigjährigen Zeitspanne – sie umfasst die volle Amtszeit des ersten Polizeichefs Heinrich de Mont, das heisst die Jahre von 1818 bis 1848 – zahlreiche Veränderungen erfahren. Ob und in welchem Ausmass dieser permanente Prozess entweder durch Rückmeldungen und Signale von aussen oder aber eher durch einen Erkenntnisgewinn von innen vonstattenging, gilt es in den folgenden Kapiteln aufzuzeigen.

Eine Gegenthese zum positivistisch konnotierten Begriff der Entwicklung und Professionalisierung ist die Behauptung, dass sich das Landjägerprofil von 1848 hinsichtlich der definierenden Faktoren wie Fähigkeit, Disziplin, Effizienz oder Handlungsmaximen von demjenigen des ersten Jahrzehnts nach Einrichtung des kantonalen Polizeikorps weder qualitativ noch habituell unterschied. Ein solcher Eindruck etwa könnte bei der Lektüre kritischer Stellungnahmen zum Landjägerkorps um die Jahrhundertmitte gewonnen werden. So urteilte beispielsweise Peter Conradin von Planta (1815–1902) im Jahr 1843 in seinem Aufruf zur Gründung des Reformvereins in strengen Worten:

«Wir sind an einem Punkte angelangt, wo wir uns sagen müssen: Es geht so nicht mehr. Der krankhafte Zustand, an dem wir leiden, liegt am Tage. Wer daran zweifelt, der werfe einen Blick in die unteren Regionen des Verwaltungs-, Polizei- und Justizwesens. Man könnte ein Buch schreiben über die Folgen dieses politischen Krebsübels, das kein öffentliches Leben, keine Teilnahme an den höheren Angelegenheiten, keinen industriellen, keinen ökonomischen Aufschwung, keinen lebenden Puls sittlicher und geistiger Kräfte und in unseren sozialen Verhältnissen kein behagliches Wohlbefinden aufkommen lässt.»7

Diese und ähnlich lautende Expertisen lassen sich hervorragend in die liberale Verharrungsthese einordnen, gemäss welcher sich der in Hochgerichte und Gerichtsgemeinden zersplitterte Kanton Graubünden substanziell kaum vom vorhelvetischen Staatsgebilde des Ancien Régime unterschied. Gerade im Justiz- und Polizeiwesen erblickten diese dezidierten Kritiker und gleichzeitigen Wegbereiter der Kantonsverfassung von 1854, welche ihrerseits die Auflösung des gerichtsgemeindlichen Staatssystems zur Folge hatte, die grössten Defizite. Erst deren Reorganisation mit der Aufhebung der 48 Gerichtsgemeinden und die gleichzeitige Einteilung des Kantonsgebiets in Kreise und Gemeinden ermöglichten den Weg in die Moderne und in eine effizientere Verwaltung zugunsten einer grösseren Prosperität dieses als rückständig erachteten Landesteils.8

Die Fokussierung auf den Alltag unter Berücksichtigung eines gewissen geschichtlichen oder eben auch evolutiven Prozesses beinhaltet einige Punkte, die noch zu diskutieren sind. Dabei gilt es festzuhalten, dass mit Alltagsgeschichte keineswegs eine Momentaufnahme gemeint ist. Vielmehr wird der Fokus auf sozialgeschichtliche Alltagsprozesse, -handlungen und -denkweisen gerichtet, welche traditionell-ereignisgeschichtliche Forschungsansätze oftmals vernachlässigten. Bevor indes die Alltagspraktiken genauer untersucht werden, bietet es sich an, nach geeigneten theoretischen Herangehensweisen zu fragen und die Möglichkeiten und Grenzen in Bezug auf den gewählten thematischen Untersuchungsgegenstand zu erörtern.

Polizeigeschichte im Spannungsfeld soziologischer Theoriebegriffe

In ihren Abhandlungen zu soziologischen und strukturgenetischen Fragen der Polizeigeschichte haben zahlreiche Autoren als Ansatz- und Ausgangspunkt für deren Skizzierung das bürokratische Herrschaftsmodell Max Webers herangezogen. In ihrer Argumentation wiesen sie darauf hin, dass nachrevolutionäre Polizeikorps westlicher Staaten geradezu prädestiniert seien und auch Weber als Vorbild für dieses Modell gedient hätten. Ausschlaggebend ist laut Behr in diesem Zusammenhang die «bürokratische Organisation der Polizei», welche im Weber’schen Verständnis auf die «Typologie legitimer staatlicher Herrschaft» gründe.9 Es handle sich um die «reine Form» dieser Gewaltausübung, erkennbar als «legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab». Kennzeichnend in diesem Zusammenhang sei, dass sich die Beamten weniger auf eine «personale Autorität» fixieren würden, sondern «sachlichen Zwecken» unterstellt seien. Es handle sich insofern um ein «Verhältnis zur politischen Führung», welches durch «Loyalität» (gehorcht werde «einer Regel: dem ‹Gesetz› oder ‹Reglement›, einer formal abstrakten Norm»10) und durch «Fachwissen» definiert werde. Als Kritikpunkt am Ansatz Webers nun hat Behr berechtigterweise die mangelnde Berücksichtigung «informeller Beziehungen» innerhalb dieses Polizeikorps angebracht und dabei insbesondere auf die «zahlreichen nicht-bürokratieförmigen Einstellungen und Rollen» verwiesen, ohne die ein solcher Beamtenapparat «überhaupt nicht funktionieren würde».11 Der entscheidendste Kritikpunkt am Weber’schen Herrschaftsmodell liege in der ungenügenden Berücksichtigung einer «Dysfunktionalität verschiedener konkurrierender Strukturelemente einer Organisation», wobei Behr als offensichtliche Disparitäten antagonistische Begriffspaare wie Theorie/Praxis, Bildung/Erfahrung oder Dienstrang/Fachwissen unterstrich. Auch Brodeur kam zum Schluss, dass die Polizeiforschung noch zu stark auf Webers Theorie fokussiere. Der deutsche Soziologe habe sein Augenmerk in erster Linie auf die Gewaltabsicht des Staats zur Ausübung des Monopols gerichtet und dabei die Ziele vernachlässigt, «die er für nicht definiert hielt und daher als unspezifisch ansah».12 Es kann als Schicksal eines jeden Modells bezeichnet werden, dass es vergleichsweise komplexe Organisationsmechanismen nur in Ansätzen zu umschreiben vermag. Insofern sind Modelle bereits a priori zum Scheitern verurteilt. Nichtsdestotrotz kann dem Weber’schen Herrschaftsmodell durch dessen grobe Umschreibung eines weitreichenden Sachverhalts ein gewisser Nutzen abgewonnen werden.13 Seine Theorie ist jedoch nicht imstande, die Morphologie eines komplexen Organisationsgeflechts möglichst genau zu umschreiben (ein entsprechender Versuch soll nicht zuletzt auch Intention dieser Arbeit sein).14 Dafür müssen die feinen Strukturen, die organisatorischen sowie zwischenmenschlichen Verhältnisse, welche sich in den jeweiligen Interaktionsformen ausdrücken, ferner auch die zahlreichen äusseren und inneren Faktoren, berücksichtigt und genauer untersucht werden. Diese gilt es herauszuschälen, bezüglich ihres Einwirkungspotenzials zu befragen und einander gegenüberzustellen.

Kultur

Im deutschsprachigen Raum wurde für die Untersuchung des Polizeiwesens in jüngster Zeit insbesondere die dichotomisierende Betrachtungsweise, welche die beiden Hauptkategorien Polizei- und Polizistenkultur unterscheidet, herangezogen. «Diese Perspektive», so Behr, der als einer der Verfechter dieses Ansatzes gilt, «beinhalt[et] auch die Annahme, dass die Organisationen selbst Kulturproduzenten sind und nicht nur Kultur haben.»15 Trotz Behrs unzureichender Erörterung des Kulturbegriffs16 ist dieser Ansatz bedeutsam. Er richtet den Blick nicht nur implizit, sondern in Form variierender Etikettierung auch explizit auf die Unterschiede zwischen hauptsächlich von oben geprägter formaler Organisation und den im Praxisalltag unten handelnden Polizeibeamten. Allerdings gilt es zu betonen, dass Behrs Ansatz nicht völlig neu ist. Dem Alltag der Polizeibeamten (sogenannte street cops) haben sich vor ihm zahlreiche Polizeiwissenschaftler gewidmet. Insbesondere angloamerikanische Forschungsprojekte waren dabei federführend. Diese Forschungsarbeiten haben die unterschiedlichsten Fragestellungen bezüglich alltäglicher Praktiken der in der Polizeihierarchie zuunterst operierenden Polizeibeamten zu beantworten versucht. Dabei bildete die Frage des Umgangs sowohl mit erfahrener als auch mit selbst ausgeübter Gewalt eines der zentralen Interessengebiete der Pionierarbeiten. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Arbeit Whytes, welcher in seiner 1943 veröffentlichten Studie zur Sozialstruktur in einem Italienerviertel von Boston durch partizipative Beobachtung unter anderem die Rolle der Polizeibeamten als Akteure herausarbeitete.17 Eine weitere Pionierarbeit war beispielsweise auch die Untersuchung Goldmans, welcher der Frage des selektiven Vorgehens von Polizeibeamten gegenüber Jugendlichen nachging.18 In seiner viel beachteten Arbeit zur Gewaltbereitschaft von Polizeibeamten im Durchschnittsamerika schliesslich versuchte Westley 1970 ein möglichst umfassendes Bild von der Lage, in welcher sich Polizeibeamte in einer anonymisierten (aber ebenso repräsentativen nordamerikanischen) Stadt in ihrem Alltag wiederfanden, zu vermitteln. Westley stellte die These auf, dass die Handlungsweisen und Umgangsformen der Polizei als Berufsgruppe zu einer Verzerrung des Gesetzesrechtes führen würden, wodurch das schliesslich geltende Recht (so wie es die Gesellschaft beeinträchtigen würde) in Teilen auch durch ebendieselben polizeibezogenen Umgangsformen konstituiert würde.19 Damit unterstrich er die determinierende Rolle der Alltagspraktiken rangniedriger Polizeibeamter20 für die Rezeption des Polizeiwesens als Organisation. Ein Verweis auf eine polizeieigene Kultur fehlte bei ihm jedoch gänzlich. Ganz anders war dies beispielsweise in der drei Jahrzehnte später erschienenen, thematisch ähnlich ausgerichteten Aufsatzsammlung «Violence and Police Culture»21. Allein dieser Titel zeigt den Wandel im Verständnis des Polizeiwesens; der Begriff Police Culture hatte sich innerhalb der Polizeisoziologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewissermassen verselbständigt. Zwar war der Vergleich des Polizeiwesens mit einer partikulären Kultur schon in den 1960er-Jahren durch Skolnick postuliert worden22, erfuhr jedoch erst in den 1990er-Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts eine Diffusion. Die Verwendung des Begriffs Kultur für gewaltbezogene Zusammenhänge war dabei nicht zufällig. Shanahan etwa verwies 2000 in seinem Vortrag zu «Police Culture and the Learning Organisation» auf die Tatsache, dass der polizeibezogene Kulturbegriff meist negativ konnotiert sei und zudem sehr unterschiedlich ausgelegt werde.23 Publikationen wie diejenige Cranks («Understanding Police Culture») sind Belege dafür, dass sich hierin bereits eine gewisse Verschiebung abzeichnete.24 Eine eigentliche Diskussion über die Angebrachtheit des Kulturbegriffs an sich ist jedoch kaum festzustellen. Während Behr sich in Anlehnung an Reuss-Iannis 1983 erschienene Studie25 im Wesentlichen auf eine Dichotomisierung von zwei institutionsinternen Kulturen festlegte, hielt die angloamerikanische Forschung weitgehend an der monodimensionalen Etikettierung einer Police Culture fest. Unter diesem Sammelbegriff subsumierte sie jedoch sowohl Aspekte der Behr’schen Polizei- als auch der Polizistenkultur. Der meist sozialstrukturelle Schwerpunkt der Forschungsarbeiten war ausschlaggebend dafür, dass zunehmend die Alltagspraktiken der Polizisten statt die ihnen auferlegten Regelwerke und Instruktionen im Zentrum standen. Zu erwähnen sind hier neben dem Werk Cranks beispielsweise die Arbeiten von Reiner26 und Caldero27.

Der sehr vielschichtig verwendete Kulturbegriff indes erleichtert die Erfassung einer eigentlichen Police Culture nicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Praktikabilität soziologischer Studien zu Polizeiinstitutionen. Chans 1997 erschienenes Buch «Changing Police Culture. Policing in a Multicultural Society»28 liefert dafür einen ersten Hinweis. Chan unterstrich bereits vor Shanahan die Forderung, dass die Theorie einer Police Culture von der Existenz mehrerer Kulturen innerhalb eines Polizeiapparats sowie von der Verschiedenartigkeit derselben ausgehen sollte.29 Ihr Plädoyer für eine differenzierte Betrachtungsweise des Polizeiwesens machte jedoch wiederum explizit nicht den Kulturbegriff per se, sondern nur dessen Anwendungszugang in der polizeisoziologischen Forschung zum Thema. Mit einer eigentlichen definitorischen Abgrenzung des Polizeikulturbegriffs befasste sich (im Gegensatz zu mehreren der erwähnten Polizeisoziologinnen und -Soziologen und auf einer vergleichsweise konkreteren Ebene) erstmals der eingangs erwähnte Crank.30 Sich auf die Arbeiten Sackmanns (1992) und Halls/Neitz’ (1993) stützend, verwies er dabei auf fünf Elemente, welche die kollektive Sinnstiftung der Kultur konstituierten. Dazu zählte er (1) Konzepte beziehungsweise das Verständnis über Recht und Unrecht, (2) Verhaltensweisen, Werte und Rituale, (3) Programme und Hilfsmittel, (4) soziale und organisatorische Strukturen und (5) die aus diesen ersten vier Elementen entstehenden Produkte interaktionsbezogener Vorgehensweisen, welche ihrerseits als Stützen und Orientierungsmuster für nachfolgende Handlungen und Interaktionen wiederverwendet werden könnten.31 Es wirkt nun einleuchtend, dass die genannten Elemente für den hier gewählten Untersuchungsgegenstand von entscheidender Bedeutung sind. Gleichzeitig gilt es jedoch zu betonen, dass sie zwar sinnstiftend sind, jedoch nicht zwangsläufig eine Kollektivität hervorrufen müssen. Damit ist auch eine offensichtliche Problematik des Kulturbegriffs angesprochen. Sie wird vergleichsweise schnell fassbar, wenn an einen traditionellen Kulturbegriff erinnert wird, gemäss welchem Kultur als «Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen»32 definiert wird. Zwar wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch aufgezeigt, dass das Bündner Landjägerkorps in Teilen durchaus als Gemeinschaft zu bezeichnen ist. Jedoch verweist gerade der Aspekt des Gesamtheitlichen (die vermeintlich Kollektivität schaffende Sinnstiftungsdimension) auf das markante Defizit des Kulturbegriffs. Dieser klärt nicht, welchen Deckungsgrad die angesprochene Kultur innerhalb der betrachteten Gemeinschaft hat, und birgt eine ständig vorhandene Verallgemeinerungstendenz in sich. Sofern diese vermeintliche Polizistenkultur organisatorische Aspekte anspricht (etwa: «Betreffend Patrouillierung zeichnete sich die Polizistenkultur dadurch aus, dass die Landjäger es oftmals bevorzugten, gegen Abend zur Station zurückzukehren, um unnötige Kosten zu vermeiden»), ist dies unproblematisch. Wenn jedoch Interaktionen und damit verbundene Vorgehensweisen ins Spiel kommen, ist deren Zusammenfassung zu mutmasslichen polizistenkulturellen Praktiken unbefriedigend.33 Für eine bedeutende Anzahl Polizeisoziologinnen und -soziologen waren diese Schwächen des Kulturbegriffs hinsichtlich soziologischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtung des Polizeiwesens ganz offensichtlich kein Kritikpunkt. Dabei ist nicht in Abrede zu stellen, dass der Kulturbegriff erstens allgemein Grenzen schafft (diese Kultur gegenüber anderen Kulturen). Zweitens, und hier umso bedeutender, konstruieren diese geschaffenen Grenzen in der dichotomisierenden und in noch weiter diversifizierenden Perspektiven auf das Polizeiwesen Trennungslinien und unbeabsichtigte Einschlussmechanismen, die der weit komplexeren Realität kaum entsprechen. Die infolge der Begriffsbildung resultierende definitorische Abgrenzung einer Gruppe gegen aussen mit der (ungewollten) Homogenisierung innerhalb der Institution ist wohl das zentrale Problem des kulturtheoretischen Ansatzes. Gerade die sogenannte Polizistenkultur ist ein überaus schwammiger Begriff, der als Vermengung beziehungsweise Anzeiger für den Durchschnittspolizisten für die vorliegende Untersuchung kaum von Nutzen ist. Dies gilt umso mehr, wenn an den hohen Stellenwert der Unvorhersehbarkeit im Polizeialltag erinnert wird.34 In Zusammenhang mit dieser Kritik an der Begrifflichkeit soll jedoch explizit darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht a priori gegen die Resultate erwähnter Studien im Allgemeinen richtet. Viele der darin gewonnenen Erkenntnisse werden für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand noch von Nutzen sein, und es muss anerkannt werden, dass die Idee hinter der angewandten Begrifflichkeit nachvollziehbare Aspekte in sich trägt. Gerade die dichotomisierende Betrachtung in ein von oben gerichtetes, eher theoretisches Verständnis des Polizeiwesens und ein unmittelbares, eher auf die alltägliche Praktik ausgerichtetes Bild des Polizeiwesens muss als wichtiges Leitmerkmal zur Skizzierung des Polizeikorps berücksichtigt werden. Dennoch taugt der Kulturbegriff als theoretischer Rahmen im vorliegenden Zusammenhang nicht. Zu diesem Verdikt ist auch Reckwitz in seiner Gegenüberstellung der Kulturtheorien mit der Systemtheorie Luhmanns gelangt. Der Soziologe verwies auf die Tatsache, dass es sich bei Kultur um einen Begriff handle, der «chronisch vieldeutig […] geblieben» sei.35 Reckwitz gelangte zum Fazit, dass die Kulturtheorien «nicht als ‹individualistisch›, sondern umgekehrt als Vertreter eines sozialen Regelholismus» erscheinen würden.36 Bezeichnenderweise verwies er darauf, dass der angebliche «Holismus» traditionellerweise eher eine Eigenschaft sei, die der Systemtheorie Luhmanns angelastet worden sei. Reckwitz’ Ausführungen, in welchen diese Auffassung infrage gestellt wird, deuten darauf hin, dass die Systemtheorie für die Auseinandersetzung mit dem Polizeialltag interessante Impulse bieten kann.

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