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Impressum

Großstadtballaden

Erster Abschnitt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Zweiter Abschnitt

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

Dritter Abschnitt

XX

XXI

XXII

XXIII

Vierter Abschnitt

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

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Weitere Großstadtballaden

Impressum

Buchreihe: Großstadtballaden

Titel: Nirgendsmann

© 2021 Markus Szaszka

Autor: Markus Szaszka

Herausgeber: Gefahrgut Edition

Lektorat: Selfpublishingo

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Großstadtballaden

Seit ein paar Jahren schon reise ich von Stadt zu Stadt, wo ich jeweils ein paar Monate, manchmal auch ein Jahr bleibe.

In dieser Zeit schreibe ich einen Roman, eine Geschichte, die an dem Ort spielt, an dem ich gerade eben bin.

In meinen Büchern beschäftige ich mich am liebsten mit gesellschaftlich relevanten Themen, aber auch die Liebe und das Alltägliche kommen nicht zu kurz.

Und wenn ich mit einem Manuskript fertig bin, dann ziehe ich weiter und das Abenteuer beginnt von vorne, in einer neuen Großstadt.

Wenn du mehr über mich und mein Schreibkonzept erfahren möchtest, dann schau doch gerne auf grossstadtballaden.com vorbei.

Dort gibt es alle Informationen zu meinen bisherigen Bänden und du kannst dich für einen Newsletter anmelden, in dem ich exklusive Kurzgeschichten, Essays uvm. teile.

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Lieben Gruß, dein Markus „Nirgendsmann“ Szaszka

Erster Abschnitt

Zwischen Ghostwriting,

Bars und

Spaziergängen

I

Ich lehnte über dem Fensterbrett in meiner Küche, inhalierte den todbringenden Qualm meiner treuen Lucky und sah zur anderen Straßenseite rüber. Mit meinen Fingern strich ich langsam über die Furchen auf meiner Stirn, die nur dann auftauchten, wenn ich mich sorgte. Das lange Verharren in dieser Haltung ließ meine Ellbogen schmerzen, doch derart in meinen Gedanken gefangen, merkte ich nicht viel davon. Ich bewegte mich noch weniger, als ein bekifftes Faultier es an diesem warmen Spätsommerabend getan hätte. Nur die kaum wahrnehmbaren Bewegungen meiner Finger, Handgelenke, Augenlider und Lippen hätten einem vorbeigehenden und zufällig hochsehenden Passanten Anhaltspunkte geliefert, dass es sich bei mir um einen Menschen und nicht um eine Schaufensterpuppe handelte, was in dieser bis zum Anschlag hippen Stadt nichts Ungewöhnliches gewesen wäre.

Das gegenüberliegende Fensterbrett erforderte meine ganze Aufmerksamkeit und ließ nicht zu, dass ich mich abwandte. Es war bereits die dritte Zigarette, die ich rauchte, obwohl es nur eine kurze Pause werden sollte und ich zurück an die Arbeit wollte. Das Fensterbrett, eines von vielen, gehörte zu einem riesigen, verlassenen Fabrikgebäude, dessen volle Größe ich von meiner Wohnung aus bestaunen konnte. Wozu das Gebäude einst gedient hatte, wusste ich nicht. Es hatte ein beeindruckend großes, massives Eingangstor aus grün lackiertem Holz, vier Stockwerke und ein burgunderrotes Schindeldach. Der graue Putz war größtenteils abgeblättert und offenbarte deutlich ansehnlichere Backsteinziegel. Manche der leicht zerbrechlichen, hohen und undurchsichtigen Industriefenster waren zerbrochen und gaben den Blick auf Teile des Holzbodens und Maschinen im Inneren des Gebäudes frei. Von meiner Position aus ähnelte dieser Anblick einem Puzzle. Die Fenster waren von innen verstaubt und von außen schmutzig vom Straßendreck. Viele von ihnen reflektierten dennoch ein goldenes, leuchtendes M, das auf meiner Straßenseite über den Köpfen der Berliner Gesellschaft in die Höhe ragte. Auch das Fenster gegenüber von mir, das mit dem Fensterbrett, auf das ich starrte, war mit neongelber Farbe gefüllt.

Es war schon der zweite Abend, an dem etwas nicht stimmte und mich der Anblick des schmalen Blechteils vor mir beunruhigte. Für gewöhnlich flatterte in etwa zu dieser Zeit ein Taubenpärchen herbei, um sich auf dem unappetitlich zugekoteten Sims, ihrem angestammten Heim, zur Nachtruhe niederzulassen. So war es jeden Abend gegen siebzehn Uhr gewesen, zumindest während der paar Wochen, in denen ich nun in der Torstraße wohnte. Ich mochte es, die beiden dabei zu beobachten, wie sie nebeneinander schliefen, wie sie ihre Hinterteile oder ihre ausladenden Brustkörbe aneinander kuschelten, wie das Weibchen dem Männchen in den Schnabel pickte, als ob sie ihn küsste, oder wie das größere Männchen dem kleineren Weibchen einen Flügel über den Rücken legte, als ob er sie zu wärmen versuchte.

Mir gefielen sie sehr gut. Sie waren romantisch, viel romantischer, als ich es seit langem mit irgendwem gewesen war, und bei Gott romantischer, besser gesagt bei Zufall romantischer, als diese ganze Stadt es war. Sie gefielen mir, weil sie anders waren als ich, anders als alle in Berlin, die einzig wahren Hipster; zwei zerrockte Taubenseelen, nicht schön anzusehen, mit zerzaustem Gefieder, vom harten Straßenleben gezeichnet, doch wahrlich ineinander verliebt, treu, füreinander da, komme, was wolle.

Ich hatte mir die Regel aufgestellt, nicht in der Wohnung zu rauchen, auch wenn ich allein war und es niemanden gestört hätte. Mein angestammtes Raucherfenster war das in der Küche. Meine Nikotinsucht band mich also an diese beiden Vögel und somit auch an deren Schicksal. Ihr Anblick machte mich glücklich und erweichte mein Herz, was es dringend nötig hatte, da es in den letzten paar Jahren meines damals zweiunddreißigjährigen Lebens stetig härter geworden war, eine Hornhaut bekommen hatte. Im Nachhinein kann ich sagen, dass es noch immer das eines kleinen verletzbaren Jungen war, aber versteckt, hinter einer schwer zu durchdringenden, krustigen Schicht aus Alkohol, Cannabisstaub und den Resten der Begegnungen mit Menschen, die schon vor mir abgehärtet worden waren, durch Umstände, von denen ich nichts wusste.

An diesem Abend war der Tauberich allein, so wie schon am Abend zuvor. Vierundzwanzig Stunden lang hatte er auf seine Frau gewartet, die seit gestern nicht von ihrer täglichen Futtersuche zurückgekehrt war. Normalerweise waren die beiden tagsüber unterwegs, doch an diesem Donnerstag hatte der Tauberich keinen Rundflug unternommen, hatte nicht nach Futter Ausschau gehalten und war an Ort und Stelle sitzen geblieben, um verwirrt und unruhig herumzuschauen, es zu suchen, das Weibchen, mit dem er wer weiß wie viele Jahre gemeinsam verbracht hatte. Noch ahnte er es nicht, und auch ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch Hoffnung, aber sie kam nicht wieder. Vielleicht war die Vermisste Opfer einer Frontschürze oder eines gefräßigen Katers geworden, auch das wusste ich nicht, aber ich wusste, dass mich der Anblick des vereinsamten Tauberichs mitnahm.

Ich versuchte, mich möglichst tief in dieses bedrängende Gefühl hineinzuversetzen, es auszukosten, so intensiv und so lange es ging. Es machte mir Spaß, traurig zu sein. Zu selten waren solche Momente in meinem Leben geworden, also galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen. Ich versuchte, von jeder kleinen Bewegung des Vogels auf dem gegenüberliegenden Fensterbrett Notiz zu nehmen. Die im kühler werdenden Wind hin und her wogenden Federn, die an der Hausmauer kauernde Sitzposition des Tieres und sein verlorener Blick blieben mir besonders gut im Gedächtnis. Als ein Pfarrer in einer der Nachbarstraßen die Kirchenglocke zur vollen Stunde zu läuten begann, verlieh ihr Klang dem traurigen Bild eine weitere melancholische Facette, und es wurde zunehmend schwer, traurig zu bleiben, weil die akustische Untermalung, die der liebe Zufall geschickt haben musste, derart passend geraten war. Die Schwermut schwand, doch das Glück, nach langer Zeit wieder eine profunde Empfindung gekostet zu haben, blieb.

Der Bann der Fensterbrett-Story ließ mich langsam los. Morgen würde ich noch einmal nach dem armen Kerl schauen, beschloss ich, richtete mich auf, drückte den seit mehreren Minuten bis auf den Filter abgebrannten Zigarettenstummel im Deckel eines Einmachglases aus, der mir auf meinem Fensterbrett gute Dienste leistete, und rieb mir die Ellbogen, die vom langen Abstützen wund geworden waren.

Ohne einen bestimmten Grund warf ich noch einen Blick auf die Straße, wo die eigentliche Show stattfand. Ich sah die Zukunft, wie sie in Science-Fiction-Filmen des späten zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt worden war, allerdings weit weniger perfekt, als die Menschen sie sich vorgestellt hatten. Ich sah den abendlichen Berufsverkehr und ein paar Passanten, die mit hochleistungsfähigen Smartphones in ihren Händen und verstaubten Gesinnungen in ihren Köpfen herumliefen, unfähig, irgendetwas davon vernünftig zu nutzen. Ich sah, dass kaum einer etwas unternahm, um diese sterbende Welt besser zu machen, obwohl die meisten alle Möglichkeiten dazu gehabt hätten. Ich sah, dass sich diese lauten Winzlinge stattdessen lieber darstellten und versuchten, so gut es ging mit brillantem Einfallsreichtum der Wirklichkeit zu entfliehen. Bequemlichkeit ging vor, Tugenden waren fast vergessen, sich selbst zu belügen, war zum Volkssport geworden.

Ich sah mich selbst dort unten.

Alles war beim Alten, 2018, in Berlin, auf der Torstraße.

II

Das Fenster blieb geöffnet und die frisch aufgerissene Packung Lucky Strike, in der nunmehr siebzehn Stück lagen, wanderte zurück in meine Hosentasche. Die Geräusche von draußen, von Straßenbahnen, Autos und Menschen, begleiteten mich zurück an meinen Laptop, der auf dem Esstisch im Wohnzimmer stand.

Bevor ich mich setzte, blieb ich für wenige Augenblicke neben dem Stuhl stehen und betrachtete ihn wie ein Debiler. Die Welt war anders, als wir alle zu wissen glaubten, mit unseren Nasen über den Endgeräten, hin und her wischend, tippend, Seite um Seite ladend, um die vorherige wieder zu vergessen. Die Welt war anders, das Leben war anders. Es war langsamer. Und wir bekamen nichts davon mit.

Ich setzte mich, klappte die alte Kiste auf, tippte ein viel zu leicht zu knackendes Passwort ein, öffnete den Browser, um später schneller an Informationen gelangen zu können, griff nebenbei auf meinen Cloudspeicher zu und öffnete die Textdatei mit dem Titel CRM.

Zehn bis zwanzig Minuten musste ich noch an der Arbeit schreiben, die ich an diesem Morgen angefangen hatte. Es war eine wissenschaftliche Hausarbeit über Kundenbeziehungsmanagement, ein vergleichsweise einfaches, dafür maßlos langweiliges Thema. Eine Lebensmittelvergiftung wäre lustiger gewesen, als sich mit diesem Stumpfsinn zu beschäftigen.

Zwölf Seiten waren es, also fast nichts. Um kurz nach zehn hatte ich mit der Themenfindung und der Gliederung begonnen, bis dreizehn Uhr hatte ich geschrieben, Teile zumindest, andere wiederum aus früher verfassten Arbeiten über ähnliche Themen kopiert. Dann ging es in die Badewanne und danach raus, einen Cheeseburger zu Mittag essen. Von vierzehn bis siebzehn Uhr hatte ich weitergeschrieben. Nur noch die Seitenzahlen waren einzufügen, das Literaturverzeichnis fertigzustellen sowie der Text in verschiedenen Formaten zu speichern. Fertig.

Ich gab meine über dem Laptop gebückte Haltung auf und merkte, während ich mich zurücklehnte, dass mir der Nacken wehtat. Meine Halswirbel litten zusehends und ich unternahm nicht genug dagegen. Einfache Übungen zur Stabilisierung meiner Nackenmuskulatur halfen zumindest ein bisschen gegen die Verspannung. Wie lange hatte ich schon geplant eine Maus und eine externe Tastatur zu kaufen, um sie an den Laptop anzuschließen, diesen wiederum auf einem Bücherstapel zu platzieren und so wenigstens etwas ergonomischer sitzen zu können? Doch es hatte sich nie ergeben. Wenn ich daran dachte, war nie ein Elektronikladen in der Nähe, und wenn ich an einem vorbeiging, dachte ich an andere Dinge. Jedes Mal. Online zu bestellen, darauf kam ich dummerweise nicht. Es war verflixt und meine Halswirbel verloren.

Das war's.

Für diesen Tag war ich fertig, konnte aufatmen und musste keine weitere Sekunde mehr mit dieser Tätigkeit verbringen, die mir über die Jahre so verhasst geworden war. Früher, als ich mit ihr begonnen hatte, war es noch interessant für mich gewesen, alle paar Tage in ein neues Thema einzutauchen, zu lernen, anderen einen Dienst zu erweisen und Geld mit der Hilfestellung für angehende Wissenschaftler zu verdienen.

Mittlerweile dachte ich anders über meinen Job, den ich ausübte, weil ich schließlich irgendwo schlafen und etwas essen musste. Was genau mich daran störte, vergaß ich aber jedes Mal, wenn ich auf Senden klickte und die vorgefertigte E-Mail mit der Arbeit im Anhang in Richtung Kunde davonflog.


Drauf geschissen, dachte ich, und klappte den Laptop unsanft zu.

III

2011, ich war jung, unreif, abenteuerlustig und noch nicht so abgezockt und schlitzohrig wie später, hatte ich begonnen, mit akademischen Arbeiten mein Geld zu verdienen. Damals waren hoffnungsvolle Tagediebe aus der ganzen Welt in das vermeintliche Mekka Berlin gezogen, um Erfahrungen zu sammeln, sich zu finden oder durchzustarten. Aus späterer Sicht war es eine relativ ruhige Zeit. Das Wort Hipster wurde noch nicht derart einfallslos durch alle Münder gezerrt, ebenso wenig wie der Flüchtling. Die AfD gab es noch nicht und der Bürgermeister der Bundeshauptstadt war schwul; und all das war gut so. Obgleich sich schon zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends sowohl der gemeine Hipster als auch das antiquierte Denken der 1930er Jahre in gleichem Maße unangenehm abzeichnete.

Wie viele andere auch kam ich nach Berlin, weil ich mehr vom Leben wollte – was auch immer das bedeuten mochte. Davon überzeugt, dass ich dieses Mehr zu Hause, in meinem kleinen Kaff an der Ostsee, nicht haben konnte, floh ich. In Wahrheit flüchtete ich aber aus einem anderen Grund, und zwar vor den zwischenmenschlichen Beziehungen, die während des Erwachsenwerdens in die Brüche gegangen waren und darauf warteten, wieder zusammengeflickt zu werden. Ein niederer Grund sich zu verpissen, aber ich musste einfach raus, weg von den 3.600 Seelen meiner Ortschaft, in der es unmöglich war, den anderen aus dem Weg zu gehen. Es war wie bei den zufallsverdammten Simpsons; immer die gleichen Figuren auf der Straße.

Dass ich nicht genau wusste, weshalb ich überhaupt ging, schob ich später meinem damaligen Alter in die Schuhe. Es war ein Alter, das verzweifelt darum rang, Identität zu finden, was bedeutete, dass alles Sonstige um einen herum vergessen wurde.

Wieso Berlin? Ganz einfach; bei uns im Fischerdorf gingen die wildesten und somit für Mittzwanzigjährige reizvolle Geschichten über die Hauptstädter herum, und wie ich herausfinden sollte, waren sie alle wahr. Es war von Clubs die Rede, in denen man problemlos alle möglichen Drogen kaufen könne und die mehrere Tage hintereinander geöffnet hätten, von besetzten Häusern, in denen man kostenlos übernachten könne, wenn man keinen Schlafplatz fand, und darüber, dass man jeden Tag in der Woche feiern könne, die ganze Nacht lang, an unzähligen Plätzen, und dass man Fremde auf der Straße ansprechen und sich an Ort und Stelle mit ihnen verbrüdern könne.

Bedachte man, dass ich ein erlebnishungriger Jungspund war, in dessen Dorf sich nachts bestenfalls Nachbars Lumpi bemerkbar machte, war es kein Wunder, dass mich die Hauptstadt zunehmend lauter lockte.

IV

Ich stieg mit meiner schwarzen Sporttasche in der einen Hand und einem Stadtplan in der anderen aus dem Zug. Mehr als ein paar Klamotten und ein paar Andenken, ohne die ich anscheinend nicht konnte, hatte ich nicht dabei. Das waren Fotos, ein kitschiger Aschenbecher aus Lissabon, den ich von meiner ersten Freundin geschenkt bekommen hatte, wenige Lieblings-CDs und ähnliches Zeug. Finanziell sah es nicht gerade rosig aus, und da ich keinen Abschluss vorweisen konnte, musste ich mich ranhalten, sonst wäre ich gefickt gewesen, wie man in der Weltstadt mit Herz und Schnauze zu sagen pflegte.


Es war Anfang Oktober, abends, ein bisschen kühl und es fiel Nieselregen. Schuldgefühle machten auf sich aufmerksam und krabbelten mir auf den Schultern herum, weil ich keiner Menschenseele gesagt hatte, dass ich ging und wohin. Aber dafür hatte ich keine Zeit, also ließ ich die entfesselte Ekstase in mir den unerwünschten Schuldgefühl-Wurm schlucken, was mühelos gelang; nur ein Happs und weg war er – fürs Erste zumindest.

Vom Bahngleis, von dem aus das in die Höhe ragende Wahrzeichen Berlins, der Ost-Funkturm, wunderbar zu bestaunen war, ging es hinunter in die Eingangshalle, in der die zahlreichen Geschäfte nicht über mangelnde Kundschaft klagen konnten. Als ich einen Zeitungsstand passierte, erregte die Titelseite einer Tageszeitung mein Aufsehen. Steve Jobs war am gestrigen Tag verstorben. Der Tod dieses Mannes berührte mich nicht sonderlich, trotzdem blieb ich einen Moment lang stehen, um mir durchzulesen, was genau mit ihm passiert war. Ich vermutete, dass ich nur deshalb stehenblieb, weil der Name berühmt und die Schlagzeile derart fett abgedruckt worden war. Ich verschwendete also meine Zeit, aber davon hatte ich zum Glück genug.

Obwohl ich zur U-Bahn musste, die sich noch eine Etage weiter unten befand, ging ich auf den Alexanderplatz, der mich trotz seiner nicht vorhandenen Schönheit anzog. Man hörte so oft von ihm in den Nachrichten sowie in Geschichten von Freunden und Bekannten, und in der Schule hatten wir sogar ein Buch mit gleichnamigem Titel lesen müssen, also musste etwas an ihm dran sein, dachte ich. Es war aber nicht so. Ich sah graue Gebäude auf grauem Beton, es stank nach Urin, und es schien, als ob es in Berlin Fashion gewesen wäre, wie ein Penner herumzulaufen. Diese Vermutung sollte sich bestätigen.

Ich ging zurück in Richtung U-Bahn und wurde unterwegs gute vier- oder fünfmal angerempelt. Eine Entschuldigung? Fehlanzeige. Und dennoch, obwohl mich diese ersten Eindrücke meiner neuen Stadt vielleicht hätten vergraulen sollen, gefiel sie mir auf Anhieb. Mir gefiel diese Rohheit, und wie so oft in meinem Leben hatte ich keine Ahnung, wieso, aber ich wusste: Hier war ich richtig.

Ich nahm die U8 zum Moritzplatz, einer wenig einladenden Ecke von Kreuzberg, aber nah an den spannenden Straßen, in denen sich all die berüchtigten Kneipen befanden. Dort sollte ich Jörg treffen, meinen ersten Vermieter, den ich einige Tage zuvor im Internet, auf irgendeiner der vielen gleich aussehenden Seiten für Wohnungen, kennengelernt hatte.

Es war ein günstiger Schlafplatz, ein Altbauzimmer, um genau zu sein, das ich wöchentlich bezahlen durfte, mit nichts darin außer einer an einem Kabel von der Decke hängenden Glühbirne, mehr als genug Staub und einer abgeranzten Matratze. Jörg, das war ein Ketamin-Junkie-Typ, der für einen Mittdreißiger zu verbraucht aussah, den rechtzeitigen Absprung in seinen Zwanzigern nicht geschafft hatte und noch immer in der Experimentierphase festhing. Mit seinem kahlgeschorenen Kopf, seiner olivgrünen Bomberjacke, seinen grauen enganliegenden Jeans und den schwarzen Springerstiefeln sah er aus wie ein Nazi, war aber keiner, sondern mochte nur das Outfit, soweit ich das beurteilen konnte. Aus irgendeinem Grund besaß er eine ziemlich hübsche Wohnung, und man konnte gut mit ihm zusammenleben, da er meist entweder feiern war oder zu Hause in seinem selbstgebastelten Koma lag. Wir ließen uns so gut es ging in Ruhe. Er wollte nur mein Geld, und ich war noch viel zu wenig kaputt, um gerne mit ihm abhängen zu wollen.

Ohne viele Worte zu verlieren, knüpfte mir mein neuer Mitbewohner an diesem Abend 70 Euro für die erste Woche ab, gab mir zwei lose Schlüssel, einen für oben, einen für unten, zeigte mir, wo mein Zimmer, das Bad und die Küche waren und verschwand für eine Weile, um sich zu holen, was er später im halbe-Stunden-Takt sniefen würde.

Währenddessen richtete ich mich provisorisch ein, stellte die mitgebrachten Andenken an einer Wand entlang auf, stapelte meine Klamotten auf der leeren schwarzen Sporttasche, stellte meinen Laptop aufs Fensterbrett, rollte die Matratze zusammen, um eine Sitzgelegenheit zu haben und stellte eine Verbindung mit dem Internet her.

Vom Späti holte ich mir eine kleine Flasche Jack Daniels, huschte wieder ins Haus und konnte es kaum erwarten, wieder in mein verstaubtes Berlin-Zimmer zu kommen, sodass ich mit jedem Sprung drei oder vier Stufen auf einmal nahm. Ich machte es mir gemütlich, stellte ein paar Teelichter, die ich in der Küche gefunden hatte, im Zimmer auf, trank den Jackie, rauchte ein paar Luckys, klickte mich auf der Suche nach gutem Blues durch YouTube, überblickte vom dritten Stock aus einen Teil der Oranienstraße und befand meine Situation für nicht weniger als perfekt.

Berlin bedeutete eine neue Spielwiese. Ich kannte niemanden, hatte aber trotzdem scheinbar unbegrenzt viele neue Mitspieler. Ein konkretes Ziel hatte ich nicht, aber viel Energie, um das Leben bei den Hörnern zu packen. Es war genauso, wie ich es gewollt und gebraucht hatte, und ich wusste, in dieser Stadt würde ich ein Weilchen bleiben.

Es gab aber eine Sache, die mir die ganze Tour vermiesen konnte. Eine Bedingung musste erfüllt werden, damit ich überhaupt mitspielen durfte. Zaster musste her; schöne, frisch gesendete Zahlen, herrlich geruchlose, virtuelle Euro, die selten als Schein oder Münze das Tageslicht erblickten und lieber formlos blieben.

*

Am nächsten Morgen, ich hatte lange geschlafen, stand Jörg über mir und starrte mich an. Der Typ machte mich wacher als jeder Espresso. Nicht, dass er etwas Böses mit mir anstellte, aber wie er es tat, das ließ mich an seiner mentalen Stabilität zweifeln. In Boxershorts und Bademantel hatte er über mich gebeugt gewartet, mich beobachtet, nur um mir zu sagen, dass er auch für mich einen Kaffee mitgekocht habe. Dann ging er wieder.

Wäre er nicht so ein Freak gewesen, hätte ich vielleicht nicht derart schnell nach Arbeit gesucht, um genug Geld für eine eigene kleine Bleibe zusammenkratzen zu können.

Ich putzte mir die Zähne, holte meinen Kaffee aus der Küche, hoffte, dass Jörg den Zucker nicht mit seinen privaten weißen Pülverchen vertauscht hatte und verzog mich wieder in mein staubiges Paradies.

In den Weiten des WWW machte ich mich auf die Jagd nach einem Job. Google stand für meine Wünsche bereit, und ich musste nur noch dahinterkommen, welche Stichwörter ich in die Suchleiste hämmern musste, um zu finden, wonach ich suchte. Einige nicht unerhebliche Fragen galt es aber noch zu klären: Was wollte ich mit meiner Zeit anfangen, jetzt, da für mich ein neues Leben begonnen hatte? Was konnte ich gut? Und wo würden sie mich überhaupt einstellen?

Körperlich anstrengende Jobs, die nur wenige Euro pro Stunde einbrachten, kannte ich nur zu gut aus meinem vorherigen Leben, doch die hatten mich nicht glücklich gemacht. Ich war ein zu empfindliches Wesen mit zu häufigen Kopfschmerzen und anderen Wehwehchen. Das konnte ich also streichen. Wenn ich so etwas täte, brächte das niemandem was.

Grips hatte ich, aber das zählte nicht, zumindest nicht in der Welt, in der ich lebte. Da hieß es, zeig mir dein Zeugnis oder verpiss' dich – sinngemäß. Das schränkte meine Möglichkeiten enorm ein. Aber es musste etwas geben, das ich gut konnte und das ich machen durfte. Ich kam nur noch nicht dahinter.

Ein weiterer Faktor, der mir meine Jobsuche erschwerte, war die Tatsache, dass ich anfing, allen Menschen gegenüber eine profunde Abneigung zu entwickeln, sobald sie sich nur ein bisschen danebenbenahmen. Ich hatte keine Geduld mit ihnen; nicht mit den Midlife-Typen, die sich auf dem Gehsteig aufregten, dass man ihnen im Weg stand, weil sie so fett waren, ebenso wenig mit den alten Schachteln, die einen ankeiften, wenn man im Einkaufszentrum zwischen ihnen, die in ihren Massagesesseln saßen, und dem Fernsehgerät im Schaufenster des Elektrogeschäftes stand, und auch nicht mit all den Gestalten, die mit ihren schmierigen Mündern ihre dummen zwei Cents zu allem dazugeben mussten, weil sie glaubten, es besser zu wissen, in Wahrheit aber einen Dreck wussten. Sie machten mich aggressiv, und ich wollte nicht aggressiv sein. Das passte nicht zu mir, beschloss ich.

Für mich kam nur eine Tätigkeit in Frage, und zwar eine, bei der ich mit niemandem außer meinem eigenen kranken Hirn interagieren musste. Das war schon anstrengend genug, und alles andere wäre Unsinn gewesen.

So kam das erste Wort aus dem Äther geflogen: Heimarbeit. Ich tippte es ins Suchfeld ein. Die wirkliche, unberechenbare Welt kam auch sehr gut ohne mich aus. Und ich ohne sie, zumindest dachte ich das.

Der Verdienst war mir schnuppe. Ich war dazu bereit, viel zu arbeiten, mich anzustrengen und dazuzulernen, unter der Voraussetzung, dass ich machen konnte, was ich gerne tat.

Doch was war das? Ich kam noch immer nicht drauf. Es konnte so vieles sein, solange es… das zweite Wort für die Suchleiste poppte vor meinem inneren Auge auf: Computerarbeit. Am besten etwas schreiben, zeichnen oder ähnliche Dinge, die ich gerne tat, bei denen ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass mir jemand Geld dafür geben würde.

Was soll's?, dachte ich. Fragen kostet nichts.

Mich überkam ein Moment der Hoffnung, des Übermuts und der weltfremden Risikobereitschaft. Ich ergänzte meine ersten beiden Wörter mit „schreiben“, denn das konnte ich zumindest ansatzweise, und es wäre ein Traum gewesen, von zu Hause aus mit dem Computer irgendwas für andere zu schreiben, egal was, Hauptsache, es gab Geld dafür.


Anscheinend war ich zum richtigen Zeitpunkt ein weltfremder Träumer gewesen, und schon bald drauf ein Glückspilz auf Zeit.

An diesem Morgen fand ich die Internetseite www.ich-schreibe-deine-arbeit.de.

*

Da stand: Gegen gutes Geld wissenschaftliche Arbeiten schreiben. Bis dahin hatte ich nicht einmal gewusst, dass das möglich oder besser gesagt legal war. Ich klickte.

Ohne auch nur ansatzweise zu wissen, wie man wissenschaftlich schrieb, fing ich an, mich zu registrieren. Ich glaubte ohnehin nicht, dass sie mich nehmen würden, aber einen Versuch war es in meiner Situation wert, wie ich so dastand, mit dem Rücken zur kapitalistischen Wand, die mit dollargrünen Banknoten und markanten Unternehmensmarken tapeziert war.

Jörg zog gut hörbar eine guten Morgen-Line, draußen wanderten die ortsansässigen Asis zum Aldi, um ihr Mittagsbier zu kaufen, ein paar Nachtschwärmer torkelten von ihren Clubs nach Hause und ich fälschte Bewerbungsunterlagen.

Zuerst musste ich ein paar Angaben zu meiner Person machen – Name, Geburtsjahr, Adresse und ähnlichen Hokuspokus – und einen Reisepass-Scan hochladen. Kein Problem, diese Dinge hatte ich. Dann wurde es kniffliger, aber nicht schwierig. Man musste zwar keinen Uniabschluss vorweisen, aber wenigstens ein paar absolvierte Seminare an einer Hochschule bestätigen können. So eine Bestätigung war im Netz nicht einfach zu finden, deshalb lud ich mir eine Bachelor-Urkunde runter, von irgendeinem Hanswurst, der sie auf Facebook gepostet hatte, höchstwahrscheinlich, um vor seinen Freunden mit ihr anzugeben. Ich bearbeitete lediglich den Namen in Paint und war innerhalb weniger Sekunden, zumindest auf dem digitalen Papier, zu einem Bachelor of Arts geworden. Ich speicherte die Datei, lud sie hoch und war fertig, denn mehr wollten die bei www.ich-schreibe-deine-arbeit.de nicht. Da ich mich unmöglich auf eine Zusage seitens der Betreiber von ISDA verlassen konnte, suchte ich gleich nach weiteren Jobangeboten und verschickte weitere Mails an dutzende Unternehmen. Es dauerte in etwa zwei Stunden, ich war noch dabei, das Internet nach passenden Inseraten zu durchforsten und dachte gar nicht mehr daran, dass ich mich an diesem Morgen als Ghostwriter beworben hatte, als ich folgende Mail erhielt:


Da tritt mich doch ein Pferd.

Ab sofort konnte ich bei Auktionen für Haus-, Bachelor- oder Masterarbeiten mitbieten. Es lief nämlich so ab: Kunden schrieben in wenigen Sätzen, was für eine Arbeit sie brauchten. Sie beschrieben Thema und Studienfach, gaben Länge der Arbeit und manchmal auch die Formatierungsangaben oder notwendige Literatur an. Die Experten, wie die Ghostwriter bezeichnet wurden, konnten ein Honorar für die Bearbeitung des Auftrages bieten und ein paar Zeilen zur eigenen Person hinzufügen, um den Kunden von sich zu überzeugen. So unterboten sich die Ghostwriter gegenseitig, freie Marktwirtschaft par excellence. Natürlich wurden vor allem die günstigen Angebote genommen, auch wenn die kostspieligeren Anbieter bessere Arbeiten versprachen. Aber zu günstig durfte das Angebot auch nicht sein, denn Ramsch wollte keiner haben. Für das, was die fleißigen Schreiber bei ISDA leisteten, waren die gängigen Preise ohnehin bereits auf Ramschniveau, für die Kunden waren sie naturgemäß nach wie vor zu teuer, aber für mich genau richtig, da ich nicht viel brauchte und über jedes bisschen froh war – vorerst.

865,41 ₽
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237 стр. 13 иллюстраций
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9783754170984
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