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Markus Saxer

SCHICKSALSPARTITUR

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei

erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto »attractive lady on the piano«

© Grischa Georgiew (FOTOLIA)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Alte Sünden werfen lange Schatten

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

1. Kapitel

Dass es dann doch noch ein so langer Abend werden würde, hätte Matthias Rentz nicht gedacht. Auch nicht, dass sich in dieser Vollmondnacht etwas ereignen sollte, das sein Leben in ein Vorher und ein Nachher spalten würde, und dass hernach nichts je wieder so sein würde wie bisher.

Der heutige Tag in der Rehaklinik war purer Stress gewesen, er hatte sogar auf seine Mittagspause verzichten müssen. Wie hatte es ihn nur in die Schweiz verschlagen können? Klar, das Geld, man verdiente hier einfach besser als in Deutschland. Er hatte nicht sehr weit hinter der Grenze in Weinfelden Arbeit als Krankenpfleger gefunden und war jetzt seit knapp zwei Jahren hier. Von der Reha Samaria aus, die am Südhang des 680 Meter hohen Ottenbergs erbaut worden war, hatte man freie Sicht auf den idyllisch gelegenen Bodensee, es war nicht weit entfernt von der Heimat und doch so fern. Er kam hier nur mühsam zurecht, legten die Schweizer deutschen Einwanderern gegenüber doch ein eher reserviertes Verhalten an den Tag. Erst gestern hatte ihn seine ortsansässige Kollegin Anna Meier ziemlich herablassend behandelt. Mit ihrer dünnen hohen Kommandostimme, die sich immer so anhörte, als würde sie jeden Moment bersten und wie eine geplatzte Glühbirne in tausend Scherben zerspringen, hatte sie etwas auf Schweizerdeutsch gesagt, und als Matthias nicht gleich verstand, hatte sie das Gesicht mit den gepiercten Lippen und Nasenflügeln verzogen, ungehalten reagiert und eine abschätzige Bemerkung gemacht … Zudem lag ihm die morgige Teambesprechung mit dem Chefarzt Dr. Berger, einem Choleriker vor dem Herrn, schwer im Magen. Egal, er musste durchhalten, wenngleich es alles andere als einfach war.

Als ihn sein Kollege Eric heute gefragt hatte, ob er Lust habe, mit ihm und zwei jungen deutschen Krankenschwestern aus der Orthopädie nach Feierabend noch ins Bridge, eine Kneipe unweit der Klinik, zu gehen, hatte er eingewilligt, obwohl er eigentlich sterbensmüde war. Eine Stunde ist noch drin, hatte er sich gesagt. Mit Eric war er inzwischen dick befreundet, beide hatten vor einem Jahr am selben Ort ihren Job angetreten; Eric war ebenfalls Krankenpfleger und kam aus Berlin, Matthias aus Hamburg.

Sie setzten sich an einen gemütlichen Vierertisch, die beiden Frauen den Männern gegenüber, bestellten ihre Drinks und machten Small Talk. Nach etwa einer halben Stunde tuschelten die Frauen einen Moment lang, lächelten ihre Begleiter danach liebreizend an und verzogen sich mit ihren knallbunten Handtaschen ans stille Örtchen, und als sie wiederkamen, nahm jeder der Männer eine von ihnen in Beschlag, wie sie es soeben abgesprochen hatten.

Und dann war es plötzlich fast Mitternacht. Eine der beiden Krankenschwestern, Julia, war ganz offensichtlich in Eric verliebt, denn sie wich ihm nicht von der Seite und ihr Blick und ihre leuchtenden Augen sprachen Bände. Sie wirkte ziemlich aufgebrezelt (rotes Schlauchkleid, grelle Gesichtsschminke und ein Paar nadelspitze hochhackige Schuhe) und schien sich für alles, was er sagte, zu interessieren, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und ihr Gesicht mit den Händen umrahmt, während sie gebannt an seinen Lippen hing. Eric schien dies durchaus zu genießen und spielte ihr gegenüber seinen ganzen Charme aus. Einmal zwinkerte er Matthias kurz zu und zeigte dabei sein typisches Draufgängergrinsen. Er war im Umgarnungsmodus und damit in seinem Element, der Schürzenjäger.

Die andere, Petra, eine kleine Elfe mit Bobfrisur, erwies sich als recht schüchtern und sprach zunächst nur wenig. Matthias und sie tauschten die eine oder andere Patientenanekdote aus, dann erzählte er ihr von seinem letzten Besuch in Hamburg, von der Elbphilharmonie, die gerade eröffnet worden war, schwärmte von der kühnen Extravaganz der Gebäudearchitektur, die ihn und seine Schwester Eva stark beeindruckt hatte. Zu seiner Überraschung entpuppte sich Petra als echter Klassikfan, vor allem Bartók liebe sie, auch spiele sie Klavier, seit ihrer Kindheit schon. Ob sie ihm einmal etwas vorspielen könne, fragte er sie, und sie nickte verlegen und berührte mit den Fingerspitzen ihr Haar, lächelte aber. Ihre Augen sahen aus wie zwei große bernsteinfarbene Puppenaugen.

In der Restaurantküche klapperten Besteck und Geschirr, wenig später fiel klirrend ein Serviertablett mit Gläsern zu Boden.

Als sie schließlich alle miteinander aufbrachen, merkte Matthias, dass er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Was hatte er an diesem Abend alles getrunken? Egal, er war zu müde, um weiter darüber nachzudenken, es war auch müßig. Tatsache war, dass es ein bisschen zu viel gewesen war, jedenfalls zu viel, um sich jetzt noch ins Auto zu setzen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, der letzte Bus war längst abgefahren.

Sie verabschiedeten sich mit Wangenküsschen voneinander (»Mach’s gut, Petra, ich freu mich auf dein Klavierkonzert!«), und als Matthias in seinem alten VW Golf saß, den Zündschlüssel drehte, zum Abschied noch einmal kurz hupte und dann die Scheibe ein wenig herunterließ, weil ihm die frische Luft guttat und ihn wachhielt, wusste er noch nicht, dass ihm eine Fahrt bevorstand, die er niemals vergessen sollte.

Gähnend schaltete er das Radio ein und gab Gas. Ein knackiger Rocksong von Linkin Park dröhnte blechern aus den Lautsprechern in den Vordertüren. Nach ein paar Kilometern Fahrt begriff er, dass er zu weit links fuhr. Ein Auto kam ihm entgegen, der Fahrer blendete auf und hupte laut. Im letzten Augenblick wich Matthias nach rechts aus und bremste ab.

O Mist! Ich muss besser aufpassen …

Er versuchte sich zusammenzureißen, weil dieser Streckenabschnitt besonders kurvenreich war. Aber dann fielen ihm irgendwann fast die Augen zu vor Müdigkeit, und als ihm in einer unübersichtlichen Kurve urplötzlich eine Mercedes-Limousine mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenkam und ihn blendete, geriet er mit seinem Wagen auf die Gegenfahrbahn. Nur noch wenige Meter trennten die beiden Fahrzeuge, Matthias riss im letzten Moment das Steuer nach rechts – zu spät für den anderen Verkehrsteilnehmer. Ein Quietschen, ein Bremsen, dann ein gewaltiges Aufschlaggeräusch, das sich wie ein Eispickel in Matthias’ Ohr bohrte. Er sah gerade noch so aus dem Augenwinkel im Rückspiegel, wie der Mercedes gegen einen Baum prallte.

Plötzlich war er stocknüchtern, hatte seinen Wagen zum Glück aber wieder voll unter Kontrolle. Geschockt fuhr er an den Straßenrand und bremste. Er schmeckte Blut, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte. Im Rekordtempo schnallte er den Sicherheitsgurt ab, stieg aus und eilte zu der in kurzer Entfernung stehenden schwarzen Limousine, die sichtlich am Baum klebte.

Aus der Nähe erfasste Matthias das ganze Ausmaß des Desasters. Bestürzt sah er den angehobenen Motorblock, verbogenes Blech und zersplittertes Glas. Der Wagen hatte nur noch Schrottwert. Es stank nach auslaufendem Benzin. Zitternd spähte er durch die offen stehende Beifahrertür und gewahrte den Fahrer im dunklen Anzug, der zwischen Fahrersitz und nach hinten verschobenem Lenkrad vornübergebeugt eingeklemmt war. Sein zu einem letzten Schrei geöffneter Mund blieb stumm und verhieß nichts Gutes. Überall war Blut, und selbst der Airbag, der als bloßer Fetzen herabhing und seinen Zweck ganz offensichtlich nicht erfüllt hatte, war damit vollgespritzt. Dieser grausige Anblick und die gespenstische Stille verursachten Matthias ein Schaudern.

Hastig wischte er mit dem Ärmel die Glasscherben vom Beifahrersitz, auf dem auch ein Handy lag, kniete sich auf das Polster und erfühlte den Puls des verunfallten Mannes an dessen Handgelenk. Nichts … Der Fahrer war tot!

»Scheiße, verdammte. Scheiße!«, entfuhr es ihm, während sich seine Augen in Panik weiteten. Der Schock saß tief. Verzweifelt raufte er sich die Haare. Tausend Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Matthias kroch aus dem Wagen, weil ihm zum Kotzen übel wurde. Er sah an sich herunter und bemerkte an seiner Hose Blutflecken, selbst seine Hände waren voller Blut. Ein kurzer Blick zurück in den Wagen, dann übergab er sich am Straßenrand. Er kniete im Dreck und ihm lief der Angstschweiß über den Rücken, der allerdings nicht nur dem toten Fahrer im Auto geschuldet war, sondern auch der Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte. Er nestelte nach seinem Handy, fand es aber nicht in seinen Taschen. Wahrscheinlich lag es in seinem Wagen. Aber wen sollte er überhaupt anrufen? Die Ambulanz brauchte hier niemand, und die Bullen würden ihn nur …

Ganz allmählich begann Mattias wieder klarer zu denken, sein Herz schlug nicht mehr so heftig wie noch vor einigen Minuten und der Promillewert in seinen Adern schien nach diesem Ereignis auf null gesunken zu sein. So beschloss er, sich in dem Auto gründlicher umzusehen, vielleicht fand er ja einen Hinweis auf die Herkunft des Fahrers. Aber dazu kam es nicht. Seine rechte Hand berührte plötzlich Stoff – den glatten plastikartigen Stoff einer prall gefüllten Sporttasche auf dem Boden des Beifahrersitzes. Er stieg aus dem Wagen, blickte sich um, und mit einer gewissen Erleichterung bemerkte er, dass es keine Zeugen gab. Die Landstraße war zu dieser Nachtzeit öde und verlassen.

Mit einer gewissen Vorahnung hob er die Tasche auf den Sitz und öffnete den Reißverschluss, und als er den Stoff auseinanderschob, fiel sein Blick auf weiß schimmernde Banknoten. Er nahm die Sporttasche aus dem Wagen und untersuchte ihren Inhalt genauer. Tatsächlich war sie vollgestopft mit dicken Banknotenbündeln. Hatte sein Herz schon vorher wie verrückt geklopft, so raste es nun geradezu. Eine riesige Geldsumme befand sich in dieser Tasche, und er konnte kaum glauben, was er sah, fast vergaß er zu atmen. Als er über sich ein leises Rauschen vernahm, hob er den Blick zu den Baumkronen, die von der dünnen Milch des Mondes übergossen waren, und sein Gesicht nahm eine papierblasse Farbe an. Der Wind strich durch die Blätter und brachte das Laubwerk zum Rascheln. In der Ferne bellte ein Hund.

Und dann hatte Matthias eine Idee, eine teuflische, und die Muskeln um seinen Mund spannten sich an …

Sollte er das Geld einfach an sich nehmen? Dem Fahrer würde es ohnehin nichts mehr nützen, er war ja eh tot. Ihm kam in den Sinn, dass er mit der Wohnungsmiete im Rückstand war, weshalb ihn die Immobilienverwaltung erst neulich schriftlich abgemahnt hatte. Ganz zu schweigen von seinen Steuerschulden …

Weshalb kurvte dieser Kerl überhaupt mitten in der Nacht mit einem solch immensen Vermögen in der Gegend herum? Wahrscheinlich war er ein Krimineller. Ein Drogendealer oder ein Bankräuber. Oder möglicherweise ein Geldwäscher.

Vielleicht hatte Matthias der Gesellschaft sogar einen Gefallen getan, indem er ihn …

Nein, so etwas durfte er nicht mal denken, das stand ihm aus Respekt gegenüber dem Toten nicht zu, er wusste ja gar nichts über ihn. Inzwischen war er, die Tasche unter dem Arm, mit mechanischen Bewegungen zu seinem Wagen zurückgekehrt. Sein Rücken war schweißnass und in seinem Kopf hämmerte es. Er deponierte das Geld im Kofferraum, startete den Wagen, legte krachend den Gang ein, und mit der Schuld, die er auf sich geladen hatte, und seiner Beute hinter sich fuhr er so rasant nach Hause, als säßen ihm die Furien im Nacken.

Um zwei Uhr morgens parkte er den Golf auf dem angemieteten Parkplatz in der Tiefgarage.

In seiner Küche machte er sich einen doppelten Espresso und ging dann ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und zog sein verschwitztes Hemd aus, das er achtlos auf den hässlichen, mit kinetischen Wirbeln in Rot und Senfgelb gemusterten Linoleumboden fallen ließ. Zitternd vor Müdigkeit und betäubt von seinem traumatischen Erlebnis leerte er den Inhalt der Sporttasche auf sein Bett, übersäte es mit Dutzenden Bündeln zu fünfzig Fünfhundert-Franken-Scheinen. Erschöpft legte er sich in Embryohaltung neben das Geld und starrte es gedankenverloren an, bis ihm die Augen zufielen.

Nach ein paar Stunden Schlaf stellte Matthias Rentz ungläubig fest, dass er die Nacht mit 1,5 Millionen Franken verbracht hatte.

Verdammte Axt, ich bin Millionär!

Aber er konnte sich über dieses Geld nicht so recht freuen. Erstens gehörte es einem anderen, und zweitens hatte er mit dem Unfall, seiner Fahrerflucht und dem Diebstahl dieses Geldes zu viel Schuld auf sich geladen.

2. Kapitel

Matthias war nicht zur Arbeit gegangen, er hatte angerufen und sich bei der Sekretärin krankgemeldet. Ängstlich fieberte er der Tagesschau am Mittag entgegen, kratzte sich nervös das Kinn mit dem Bartschatten. Für eine Meldung war vermutlich seit dem Unfall zu wenig Zeit verstrichen, und tatsächlich: Der Nachrichtensprecher erwähnte das Ereignis mit keiner Silbe. Nicht dass Matthias dies wesentlich beruhigt hätte, denn es war ja ohnehin bloß eine Frage der Zeit, bis die Medien darüber berichten würden.

Zuerst erwog er, das Geld in einem Schließfach zu deponieren, aber nach reiflicher Überlegung scheute er sich doch davor, mit dieser horrenden Summe das Haus wieder zu verlassen und unterwegs oder am Bahnhof, wo es Überwachungskameras gab, gesehen oder gar gefilmt zu werden.

Nachdem er die sechzig Geldbündel im Wäscheschrank versteckt hatte, ging er unter die Dusche.

Seinem Kater rückte er mit Unmengen von Kaffee und Mineralwasser zu Leibe. Danach verließ er die Wohnung, um Einkäufe zu machen und die Sporttasche, die er in einen grauen Abfallsack gesteckt hatte, zu entsorgen.

Kurz vor 19:30 Uhr hockte er angespannt vor dem Fernseher. Er hatte den Sender SRF 1 eingestellt und trank eine Cola, während er auf die Hauptausgabe der Tagesschau wartete. Und dann war es so weit: Eröffnungssignet und Nachrichtenüberblick. Der erste Beitrag zeigte den orangegesichtigen Donald Trump, der kämpferisch, mit Sturmfrisur und über der Schulter liegenden roten Krawatte in seiner Hybris die Faust höchst unpräsidial in die Kamera reckte, über Obama lästerte, über die Fake-News der Medien schimpfte und der Welt seine alternativen Fakten verkündete.

Zurück im Studio: Die Moderatorin guckte für einen kurzen Moment in die falsche Richtung (das Schweizer Fernsehen ist berüchtigt für seine kleinen Pannen und Patzer), ehe sie ihr attraktives Gesicht mit einem Nachsicht heischenden Lächeln den Zuschauern zuwandte und ihren Oberkörper in der hellblauen gestärkten Bluse reckte, um den nächsten Beitrag anzukündigen.

Matthias rauschte das Blut in den Ohren, als er im nachfolgenden Film das Fahrzeugwrack des verunfallten Mercedes erblickte; der Off-Kommentar – eine sonore, sachliche Männerstimme – drang ihm dabei wie ein Schwert in die Seele: »Bei dem Verunglückten handelt es sich um den Firmenunternehmer Maximilian Steiner, dessen sechzehnjährige Tochter Nicole vor einer Woche entführt wurde. Laut Angaben der Polizei und der Staatsanwaltschaft beabsichtigte Maximilian Steiner vergangene Nacht als Kurierfahrer das Lösegeld für seine Tochter zu überbringen, als er mit dem Wagen aus bisher noch ungeklärten Gründen von der Straße abkam und in einen Baum prallte. Dabei zog er sich tödliche Verletzungen zu.«

Von dem Geld fehle jede Spur, die Entführer des Mädchens hätten sich seither nicht mehr gemeldet, das Schicksal von Nicole Steiner sei immer noch ungewiss. Die Polizei ermittle nach wie vor in alle Richtungen und bitte die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise.

Das nun eingeblendete Bild der Entführten zeigte einen hübschen Teenager mit schulterlangem, rot schimmerndem Haar, hohen Wangenknochen, smaragdgrünen Augen und einer Stupsnase.

Fassungslos starrte Matthias auf den Fernsehschirm und blinzelte. Die ausgestrahlten Bilder ließen ihn einen Kloß im Hals spüren. Entsetzen breitete sich in ihm aus. Er hielt seinen Magen, als ob ihn seine inneren Organe quälten, sein Gesicht war schweißnass. Von Übelkeit und Verzweiflung erfasst, schleppte er sich in die Küche und trank gierig und zitternd ein Glas Wasser, als das Glas seiner Hand entglitt, auf dem Boden aufschlug und zerbrach. Er blickte auf die Scherben und sah plötzlich vor seinem geistigen Auge die zerbrochenen Autoscheiben, den toten Fahrer, das Blut im Wagen des Verunglückten und die vielen Glasscherben auf dem Beifahrersitz. Zurück im Flur lief er gehetzt auf und ab, immer an der offenen Wohnzimmertür vorbei, und kam der Fernseher in sein Blickfeld, blieb er kurz stehen und starrte auf den Bildschirm, obwohl der Beitrag längst beendet war. Erst nach einer langen Weile ging er, etwas ruhiger geworden, ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf die Couch.

Er drückte auf den Stand-by-Knopf der Fernbedienung und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Mein Gott, was habe ich da nur angerichtet«, flüsterte er in sich versunken. Lange, sehr lange saß er da wie versteinert und war zu keinem klaren Gedanken fähig, bis ihn das Klingeln seines Handys aus der Erstarrung riss. Er sog Luft ein. Beklommen nahm er den Anruf entgegen: »Hallo?«

»Sei gegrüßt, Kumpel. Wie geht es dir?« Das war Eric.

»Ging schon mal besser.«

»Hm. Kommst du noch auf ein Bier vorbei?«

»Nein, danke.« Matthias hörte im Hintergrund eine Frau lachen und nach Eric rufen.

»Julia ist bei mir. Sie ist verdammt scharf auf mich.« Eric lachte leise, seine Stimme klang gedämpft, wahrscheinlich schirmte er das Handy mit der Hand ab.

»Schön für dich.«

»Du klingst deprimiert.«

Matthias schwieg.

»Komme gleich, Julia! Was hast du gesagt, Matthias?«

»Nichts.«

»Sehen wir uns morgen bei der Arbeit?«

»Eher nicht.«

»Also dann, gute Besserung.«

»Danke. Tschüss.«

»Tschüss, bis bald.«

Matthias schaltete das Handy auf stumm, warf es auf die Couch, vergrub sein Gesicht in den Händen und stöhnte. Das Schicksal hatte ihm letzte Nacht ganz schlechte Karten in die Hand gedrückt und ihm den moralischen Boden entzogen, aber er musste es ja unbedingt herausfordern, sein Schicksal, indem er sich angetrunken ans Steuer setzte, verdammter Idiot, der er war. Sobald er einmal die Augen schloss, entstand in seinem Hirn das Bild des Autowracks am Baum. Wie mit einem Brandeisen war es seinem Gedächtnis eingeprägt worden.

Was würden die Entführer nun mit dem Mädchen anstellen? Es töten? Oder hatten sie sich ihrer gar schon vor der geplanten Lösegeldübergabe entledigt, wie das in anderen Entführungsfällen oftmals der Fall war?

Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort wusste – ja, nicht wissen konnte. In seinem Hirn purzelten die Konsequenzen durcheinander …

Er glaubte nicht, dass dieser Nicole unmittelbar geholfen wäre, wenn er sich der Polizei stellen und das Geld zurückgeben würde. Die Lösegeldübergabe war gescheitert, das war nun mal Fakt, weshalb also sollten die Kidnapper einen zweiten Deal versuchen? Jetzt, wo der Vater des Mädchens tot war, hatten sie wohl ohnehin kalte Füße gekriegt und würden vorsichtiger agieren als zuvor, mutmaßte Matthias.

Er stand auf und tigerte in seiner armseligen engen Zweizimmerbude mit den überlaufenden Eimern umher, unschlüssig, wie er sich weiter verhalten sollte. Klar, der Unfall tat ihm extrem leid, keine Frage, aber es steckte keine böse Absicht dahinter. Nichtsdestotrotz hatte er sich in eine ausweglose Situation, in eine Sackgasse manövriert, an deren Ende im schlimmsten Fall zwei Tote und sehr viel schlechtes Karma auf ihn warteten.

Sich die Haare raufend überlegte er, wie er fortan mit dieser Schuld leben sollte und wie den Alltag meistern, und dabei so zu tun, als sei überhaupt nichts passiert. Es ging jetzt darum, sich irgendwie über Wasser zu halten, obwohl es besser gewesen wäre zu ertrinken.

Ein fast voller Mond, gewölbt wie ein aufgeblähter Bauch, warf sein fahles Licht durch die Fenster auf den grauen Teppichboden. Matthias blickte in die Nacht hinaus. Die Dächer der Häuser gegenüber flimmerten in schwärzlichem Weiß, und es lag ein trauriger Friede im harten Licht des Mondes.

Er schnappte sich die Lederjacke und entschloss sich zu einem Abendspaziergang, um an der frischen Luft seinen Kopf klarzukriegen und danach noch irgendwo einzukehren und einen Kaffee zu trinken.

Das Café Rex war gegen 23 Uhr fast leer. Der Kellner, ein schmächtiger Typ mit buschigem Schnurrbart und Vollglatze, stellte Matthias den doppelten Espresso zusammen mit einem Glas Wasser auf den Tisch und kassierte gleich. Wie beiläufig blickte er auf seine Uhr, dabei hingen seine Mundwinkel leicht nach unten.

Wie Lefzen, dachte Matthias, trank einen Schluck Wasser und beobachtete das halbwüchsige Pärchen, das an einem entfernten Tisch saß. Die beiden sprachen recht laut über belanglose Dinge. Der Jüngling gab sich Mühe, abgebrüht zu klingen, das Mädchen versuchte sich in einem neckischen Ton und verwendete in jedem zweiten Satz das Wort »cool«, was sich auf Dauer ziemlich uncool anhörte.

Matthias beabsichtigte, morgen nochmals zu Hause zu bleiben, aber tags darauf wollte er wieder zur Arbeit fahren, musste er doch nun möglichst rasch zur Normalität zurückfinden, um nicht unnötig Verdacht zu erregen. Er nahm sein Smartphone zur Hand und bemerkte, dass seine jüngere freche Schwester Eva ihm über WhatsApp eine Nachricht übermittelt hatte: Er sei ein mieser Kerl, weil er sich fast nie melde. Wann er endlich mal wieder an einem Wochenende nach Hause käme, um mit ihr ins Kino und zum Essen zu gehen, wie er es ihr doch versprochen habe? Sie habe ihm viel Neues zu berichten und warte auf seine Nachricht. Ach übrigens, Istvan Javor sei vor einer Woche gestorben. Küsschen, Eva.

Matthias lächelte. Er liebte seine Schwester abgöttisch, sie hatten sich immer sehr nahegestanden. Er schrieb ihr sogleich ein paar nette versöhnliche Worte und versprach ihr hoch und heilig, sie bald zu besuchen. Wie würde sie reagieren, wenn er ihr sein Verfehlen beichten würde?

Im Gegensatz zu ihm war sie ein anständiger und ehrlicher Mensch, gewiss würde sie ihren Bruder für seine Untat verachten …

Die Todesnachricht bezüglich Javor überraschte ihn. Der alte Zauselbart mit Augenbrauen, die Matthias bisweilen an ein Raupenpaar erinnerten, war ungarischer Abstammung und hatte jahrelang im selben Haus in Hamburg direkt unter ihnen gewohnt. Seine Frau hatte sich stets bei den Nachbarn beklagt, dass ihr Mann zur Hypochondrie neige, obschon es ihm gesundheitlich eigentlich gut ginge. Den lieben langen Tag lang jammere Istvan ihr die Ohren voll, was ihm alles fehle, welche Gebresten ihn plagten. Da er zudem ein Geizhals sei, weigere er sich vehement, seinen Hausarzt aufzusuchen, wahrscheinlich bräuchte er sowieso eher einen Seelenklempner, denn seine vielen eingebildeten Leiden würden nur noch übertroffen von seiner panischen Angst vor dem Sterben. Frau Javor pflegte dann jeweils die Augen zu verdrehen und anzufügen, dass er sie mit seiner Art ganz gewiss bald ins Grab bringen würde, womit sie recht behalten sollte, denn nur wenige Wochen, ehe Matthias in die Schweiz übersiedelte, segnete die rechtschaffene alte Dame das Zeitliche.

Kurz danach klingelte Javor mehrfach zu Unzeiten bei der Familie Rentz, um sich vom Sohn und Pflegefachmann Matthias gesundheitliche Ratschläge einzuholen bezüglich seiner Rückenschmerzen und der chronischen Migräne, dem Tremor in der linken Hand und den Magenkrämpfen, der morgendlichen Übelkeit sowie der nächtlichen Unruhe …

Anfänglich spielte Matthias mit, hörte Javor geduldig zu, erteilte ihm Ratschläge, aber irgendwann wurde es ihm zu bunt.

Sobald seine Schwester Eva von einem Sprachaufenthalt aus Paris zurückkehrte, erzählte er ihr davon, und sie versprach ihm mit einem schelmischen Lächeln, sich fortan um den Alten zu kümmern. Sie hatte ihrem Bruder als Souvenir einen mit den Obstgärten von Versailles bemalten Porzellankrug mitgebracht, eine Trouvaille vom Flohmarkt mit den prächtigen alten Bäumen. Eva gefiel offenbar der Gedanke, dass Marie Antoinette vielleicht genau diese Bäume angeschaut hatte.

Als der Witwer eines Abends erneut bei ihnen klingelte, öffnete Eva ihm die Tür. Javor fragte nach Matthias; Eva sagte, er sei nicht zu Hause. Sie habe von ihrem Bruder gehört, es ginge ihm, Javor, gesundheitlich nicht gut. Ob er ihr davon erzählen wolle? Sie stecke mitten in einem Medizinstudium und würde ihm gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen (tatsächlich arbeitete Eva als Sekretärin bei einem renommierten Treuhandunternehmen am Jungfernstieg in Hamburg).

Erfreut nahm er ihr Angebot an und folgte ihr ins Zimmer, wo er sich erwartungsvoll auf dem angebotenen Stuhl niederließ. Sie lächelte und ermunterte ihn, ihr von seinem Befinden zu erzählen.

»Tja, was soll ich sagen, wo soll ich anfangen, Frau Doktor? Da sind diese furchtbaren Kopfschmerzen, die mich heimsuchen, gefolgt von einem Zittern in der linken Hand und Juckreiz im rechten Fuß (…)«

Eva ließ den Redeschwall über sich ergehen, gab sich interessiert und nickte ernst. Als er verstummte und sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn trocknete, sagte sie: »Strecken Sie die Zunge raus.«

Javor tat es. Als Eva seine Zunge inspiziert hatte, kniff sie die Augen zusammen.

»Tja, nun, sieht es schlimm aus?« Der Alte zupfte sich am Bart und stierte sie an.

»Das synchrone Auftreten der geschilderten Symptome ist gewiss kein gutes Zeichen. Und Ihr Zungenbelag gefällt mir gar nicht.«

»Brauche ich Medikamente?«

»Allerdings. Warten Sie einen Moment.«

Sie ging aus dem Zimmer und kehrte wenig später mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück, und er schluckte die Medizin bereitwillig. Nun fühlte sie seinen Puls und blickte dabei auf ihre Armbanduhr. Danach sah sie ihm mit der Miene eines Leichenbestatters in die Augen.

»Ich muss doch noch nicht sterben, nicht wahr?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen alle sterben.«

»Gewiss, aber … noch nicht bald?«

»Sehen Sie, der Vater eines mir Bekannten hatte die gleichen Symptome wie Sie. Wenige Wochen später wurde er eingeäschert.«

»Um Gottes willen!« Javor wurde leichenblass und bekreuzigte sich. Erregt erhob er sich vom Stuhl, auf seinem Hals zeichneten sich rote Flecken ab.

»Ruhig Blut, Javor!« Eva war ebenfalls aufgestanden. Sie nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn behutsam zur Haustür, und ehe sie ihn hinauskomplimentierte, erteilte sie ihm noch gesundheitliche Ratschläge.

Als Eva die Tür abgeschlossen hatte und ins Zimmer zurückkehrte, wartete Matthias bereits auf sie. Er hatte im Nebenraum gelauscht und lehnte mit verschränkten Armen schmunzelnd am Türrahmen.

»Und, was sagst du?«, fragte sie.

Er fasste sie mit beiden Händen an der Schulter, berührte mit den Lippen ihren Scheitel und nuschelte ihr ins Haar, das nach Apfel roch: »Du bist eine elende Quacksalberin, Schwesterherz. Eine von der übelsten Sorte.«

»›Frau Doktor‹, wenn ich bitten darf!« Sie knuffte ihn gegen die Schulter.

Matthias grinste amüsiert. »Was hast du dem Armen für eine Pille gegeben?«

»Na ja, eigentlich wollte ich ihm eine Kopfschmerztablette verabreichen. Doch die waren alle.«

»Und dann?«

»Da habe ich ihm eine meiner Antibabypillen gegeben.«

Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich.

»Du verarschst mich doch.«

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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110 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783961451487
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