Читать книгу: «Die Abenteuer von Tom Sawyer & Huckleberry Finn (Band 1 & 2) (Illustriert)», страница 5

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Kapitel 6: Wanzendressur und Liebeserklärungen


JE EIFRIGER TOM sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draussen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draussen kein lebendes Wesen zu erblicken, ausser einigen Kühen, welche schliefen.

Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens danach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick Wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

Toms Busenfreund saß neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmäßig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, dass sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuss an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

»Jetzt,« sagte er, »pass auf! Solang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich lass sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?«

»Schon gut, nur vorwärts,« trieb der ungeduldige Joe, – »kitzle sie ‘mal ein bisschen!«

Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des »Kitzelns« an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon sozusagen in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Gutes. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu groß. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

»Tom, lass das bleiben!«

»Ich will dir ja nur ein klein bisschen helfen, Joe.«

»Ach was, helfen! Brauch dich nicht, lass bleiben, sag ich.«

»Kuckuck noch einmal. Ich werd’ doch auch ein bisschen helfen, dürfen!«

»Lass bleiben, sag ich dir!«

»Ich will aber nicht.«

»Du musst – die Wanze ist auf meiner Seite.«

»Hör mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?«

»Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder –«

»Na, wettst du, dass ich’s tu’? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will – hol’ mich der und jener! Her damit, sag ich!«

Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fussspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

»Setz deinen Hut auf und tu’, als ob du heim wolltest. Wenn du an der Ecke bist, lass die andern laufen und komm durchs Heckengässchen zurück. Ich mach’s grad’ auch so.«

So ging also jedes der beiden mit einem andern Haufen Kinder ab, am Ende des Heckenpfades trafen sie einander, und als sie dann zusammen die Schule erreichten, hatten sie dieselbe ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander, nahmen eine Tafel vor und Tom führte Beckys mit dem Griffel bewaffnete Hand sorgsam mit der seinen und schuf ein neues erstaunliches Wunder von Haus. Als das Interesse an der Kunst etwas zu erlahmen begann, machten sich die zwei ans Plaudern. Tom schwamm in einem Meer von Wonne. Jetzt fragte er:

»Magst du Ratten?«

»Puh nein, ich kann sie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht – lebendige wenigstens. Aber tote, mein’ ich, die man an eine Schnur bindet und um seinen Kopf schwingt.«

»Nee, ich mach mir überhaupt nicht viel aus Ratten, so oder so. Was ich gern mag, ist Süßholz!«

»Das glaub’ ich. Wollt’, ich hätt’ ein Stück!«

»Wirklich? Ich hab eins. Da, du kannst ein bisschen dran kauen, musst mir’s aber dann wiedergeben, gelt?«

Das war nun eine wundervolle Beschäftigung. So kauten sie denn abwechselnd und baumelten dazu mit den Beinen gegen die Bank im Übermaß wonnigsten Behagens.

»Warst du schon einmal im Zirkus?« fragte Tom.

»Ja, und ich darf wieder hin, hat Papa versprochen, wenn ich sehr brav bin.«

»Ich war schon drei- oder viermal – nee noch viel, viel öfter dort. Die Kirche ist gar nichts dagegen! Im Zirkus ist immer was los. Wenn ich mal groß bin, werd’ ich Hanswurst!«

»Wahrhaftig? Das wird reizend! Die sind immer so wunderhübsch gefleckt, Hosen und Jacke und alles.«

»Das ist wahr. Und sie verdienen Haufen von Geld – beinahe ‘nen Dollar im Tag, meint Ben Rogers, Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?«

»Was ist denn das?«

»Na, verlobt – wenn man sich heiraten will.«

»Nein, nie.«

»Möchtest du’s gern?«

»Vielleicht, ich weiss nicht. Wie ist’s denn ungefähr?«

»Wie’s ist? Ja, wie gar nichts eigentlich. Du brauchst nur ‘nem Jungen zu sagen, du wolltest keinen andern haben als ihn, nie, nie und nimmer, dann gibst du ihm ‘nen Kuss und die Geschichte ist fertig. Das kann doch ein kleines Kind – nicht?«

»’nen Kuss? Warum denn den?«

»Ja, das muss man, weil, – kurz sie tun’s eben alle, das gehört dazu.«

»Alle tun’s?«

»Ja, alle die ineinander verliebt sind. Weisst du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?«

»J–ja.«

»Was denn?«

»Ich sag’s nicht.«

»Soll ich’s sagen?«

»J–ja – aber ein andermal.«

»Nein, jetzt.«

»Nein, nicht jetzt – morgen.«

»Ach nein, jetzt, bitte, bitte, Becky. Ich will’s auch nur ganz, ganz leise sagen. Soll ich?«

Da Becky zögerte, nahm Tom ihr Schweigen für Zustimmung, schlang den Arm um sie, legte den Mund dicht an ihr Ohr und flüsterte ihr leise, leise die uralte Zauberformel zu. Dann fuhr er ermunternd fort:

»Jetzt bist du dran. Nun musst du’s sagen – ganz dasselbe.«

Eine Weile widerstand sie und bat dann:

»Du musst dein Gesicht dorthin drehen, dass du mich nicht sehen kannst, dann sag ich’s. Du darfst’s aber keinem, keinem Menschen wiedersagen, gelt Tom, das versprichst du, gelt?«

»Nie im Leben, Becky, gewiss und wahrhaftig. Na – denn los!«

Er wandte den Kopf ab, sie beugte sich schüchtern zu ihm, bis ihr Atem seine Wange streifte und seine Locken bewegte und flüsterte: »Ich – liebe – dich.«

Dann sprang sie auf, rannte um Bänke und Tische, Tom immer hinterdrein, nahm zuletzt Zuflucht in einer Ecke des Zimmers und drückte ihr Gesichtchen fest in die weisse kleine Schürze, Tom schlang die Arme um ihren Hals und bat:

»Jetzt, Becky, ist’s ja beinahe vorbei – nur noch der Kuss. Du brauchst dich doch davor nicht zu fürchten, das ist ja gar nichts. Bitte, Becky.«

Und er versuchte Schürze und Hände vom kleinen Gesicht zu lösen.

Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Das Gesichtchen, ganz rot und erhitzt von der Anstrengung, kam zum Vorschein und unterwarf sich der Prozedur. Tom küsste die roten Lippen und sagte:

»So, jetzt ist’s geschehen, Becky. Und von jetzt an, weisst du, darfst du nur mich lieben und heiraten und gar, gar keinen andern, nie, niemals, in alle Ewigkeit nicht. Willst du?«

»Nein, ich will nie ‘nen andern lieben, Tom, und nie ‘nen andern heiraten als dich, aber du darfst’s auch nicht tun, Tom, darfst auch nie ‘ne andere heiraten wollen.«

»Gewiss! Natürlich, das gehört auch dazu. Und immer auf dem Weg zur Schule oder nach Hause musst du mit mir gehen, wenn’s niemand sieht, und bei Gesellschaften wähl ich dich und du mich zum Spiel, denn so macht man’s, wenn man verlobt ist.«

»Nein, wie hübsch! Davon hab ich noch gar nichts gewusst.«

»Ja, ‘s ist schrecklich lustig. Ei, ich und Anny Lorenz –«

Beckys große, erschreckte Augen verrieten Tom sofort seinen Missgriff. Verwirrt hielt er ein.

»O, Tom. Ich bin also nicht die erste, mit der du verlobt bist?«

Ihre Tränen flossen. Tom tröstete:

»Wein nicht, Becky. Ich mach mir gar nichts mehr aus der.«

»Doch, Tom, doch – du weisst selbst, dass du dir noch ‘was aus ihr machst ...«

Tom versuchte den Arm um ihren Hals zu legen, sie aber stiess ihn fort, wandte das Gesicht der Wand zu und schluchzte herzbrechend weiter. Tom versuchte es noch einmal mit sanft zuredenden Worten und wurde wieder zurückgewiesen. Nun regte sich sein Stolz, stumm schritt er der Türe zu und ging hinaus. Draussen drückte er sich eine Weile herum, rastlos und unbehaglich, von Zeit zu Zeit nach der Türe schielend, in der Hoffnung, sie würde bereuen und kommen, ihn zurückzuholen. Sie aber kam nicht. Nun wurde ihm schlecht zumute und er begann zu fürchten, dass er selber im Unrecht sei. Es kostete ihn einen harten Kampf, noch einmal Annäherungsversuche zu machen, doch wappnete er sich schließlich mit Mannesmut und ging hinein. Dort stand Becky noch in ihrem Winkel und weinte, das Gesicht gegen die Wand gepresst. Toms Herz krampfte sich zusammen bei dem Anblick. Er trat zu ihr, im Moment ratlos, wie er die Verhandlungen einleiten sollte. Endlich stiess er zögernd hervor:

»Becky, ich – ich mag keine andre mehr sehen, als dich.«

(Keine Antwort – nur erneutes Schluchzen.)

»Becky,« – (bittend).

»Becky, willst du mir gar nichts sagen?«

(Heftiges Schluchzen.)

Tom grub in seinen Taschen und brachte endlich das Kleinod seines Herzens, den Messingknopf irgendeines alten Deckels, zum Vorschein, hielt ihr denselben vor, so dass sie ihn sehen konnte und sagte in einladendem Tone:

»Bitte, Becky, nimm doch das da, sieh mal her!«

Sie aber schlug’s unbesehen zu Boden, Nun wandte sich Tom wortlos, schritt aus dem Hause und suchte das Weite, um für diesen Tag nicht zur Schule zurückzukehren. Bald ward es Becky klar, was sie verscherzt hatte. Sie rannte nach der Türe, auf den Hof, flog um die Ecke des Hauses – er war nicht mehr zu sehen. Nun erhob sie die Stimme:

»Tom, Tom, komm zurück, Tom!«

Atemlos lauschte sie, keine Antwort. Ihre einzigen Gefährten waren Schweigen und Einsamkeit, Wieder setzte sie sich, um zu weinen, und als dann die Schüler zu den Nachmittagsstunden herbeizuströmen begannen, musste sie ihre Trauer bergen, ihr gebrochenes Herz zur Ruhe bringen und das Kreuz eines langen, trübseligen, schmerzvollen Nachmittags auf sich nehmen, ohne unter diesen Fremden auch nur eine fühlende Brust zu haben, die ihren Schmerz hätte teilen können. –

Kapitel 7: Die Schatzkammer – Ein Kapitel aus Walter Scott


TOM SCHLICH SICH FORT auf Seitenpfaden bald zur Rechten und bald zur Linken, um den Späheraugen der zur Schule zurückpilgernden Kinder zu entgehen. Er setzte einige Male über einen kleinen Bach, da kreuzweises Überschreiten von Wasser ein gutes Mittel sein sollte, sich geplanter Verfolgung sicher zu entziehen. Eine halbe Stunde später sah man ihn oben hinter dem letzten hochgelegenen Haus des Städtchens verschwinden, die Schule lag wie im Nebel weit hinter ihm. Nun kam er in einen dichten Wald, bahnte sich mühsam einen Weg recht ins Dickicht hinein und warf sich ins weiche Moos unter einer breit ästigen Eiche nieder. Nicht ein Lüftchen regte sich, die brütende Mittagsglut hatte selbst den Sang der Vöglein verstummen machen. Die ganze Natur lag regungslos, wie in Verzückung, nur das gelegentliche, wie aus weiter Ferne ertönende Hämmern eines Spechtes unterbrach die lautlose Stille und schien die ringsum herrschende Einsamkeit nur noch lastender und fühlbarer zu machen. Des Knaben Seele badete sich gleichsam in Schwermut, seine Gefühle befanden sich im glücklichsten Einklang mit der Umgebung. Lange saß er so, die Ellbogen auf die Knie, das Gesicht in die Hände gestützt und dachte nach. Ihm schien das Leben im besten Falle nur eine Last zu sein und er beneidete beinahe den Jimmy Hodges, der kürzlich von dieser Last erlöst worden war. So friedlich und schön dachte er’s sich, da unten zu liegen, zu schlummern und zu träumen für immer und immer, während der Wind in den Bäumen spielte und mit den Blumen und Gräsern koste, die auf dem Grabe standen. Da gab es dann nichts mehr, über das man sich zu quälen und zu grämen brauchte. Wenn nur sein Sonntagsschulgewissen rein wäre, wie gerne würde er der ganzen Welt Valet sagen. Und was jenes Mädchen betraf – was hatte er eigentlich getan? Nichts. Er hatte es so gut gemeint, wie nur einer in der Welt und war behandelt worden wie ein Hund, – wie ein elender Hund. Sie würde es bereuen eines Tags – wenn es zu spät wäre vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur für einige Zeit!

Das elastische Herz der Jugend aber lässt sich nicht lange in ein und dieselbe Form zusammenpressen. Tom glitt alsbald wieder ganz unmerklich in die Interessen dieses Lebens zurück. Wie, wenn er allem den Rücken kehrte und geheimnisvoll verschwände? Oder wenn er davon wanderte, weit, weit, ewig weit fort, in ferne fremde Länder jenseits der See und niemals wiederkäme? Wie würde Becky zumute sein? Der Gedanke, ein Hanswurst zu werden, stieg auch wieder in ihm auf, aber er wies ihn mit Ekel von sich. Tollheit und Witze nebst gesprenkelten Trikots waren jetzt förmlich eine Beleidigung für seinen Geist, der sich in das nebelhafte, hehre Gebiet der Romantik aufgeschwungen hatte. Nein, ein Soldat wollte er werden und nach langen, langen Jahren wiederkehren, kriegsmüde, ruhmbedeckt. Oder, noch besser! Er wollte zu den Indianern gehen, Büffel jagen, den Kriegspfad beschreiten in den wilden Bergen und unermesslich weiten Ebenen des »fernen Westens« und dann einmal in grauer Zukunft zurückkehren als großer Häuptling, starrend von Federn, scheusslich bemalt und an einem schläfrigen Sommermorgen mit gellendem Kriegsgeheul, welches das Blut gerinnen machte, in die Sonntagsschule einbrechen, wo die Herzen und Augen seiner Kameraden ihn förmlich verzehren würden vor sengendem Neid. Halt, es gab noch etwas Größeres als selbst dieses? Ein Seeräuber wollte er werden! Das war’s. Jetzt lag seine Zukunft klar vor ihm, strahlend in unsagbar blendendem Glänze. Wie würde sein Name die Welt erfüllen und alle Menschen schaudern und erbeben machen! Wie glorreich würde er auf seinem langen, niedrigen, kohlschwarzen Schnellsegler »Sturmesfittich« die wogenden Wellen der See durchfurchen, während die düstere Flagge vom Vordermast wehte, ein gefürchtetes Zeichen auf allen Meeren. Und, auf dem Gipfel seines Ruhmes angelangt, wie wollte er plötzlich im alten Städtchen erscheinen, in die Kirche treten, braun und verwettert, in seinem schwarzen Samtwams und der faltigen Pluderhose, seinen hohen Stulpstiefeln, der roten Schärpe und dem mit wallenden Federn besteckten Schlapphut, den Gürtel starrend von Reiterpistolen, das in blutigen Metzeleien eingerostete Schwert an der Seite; sodann wollte er die schwarze Flagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Gebeinen darauf entfalten und mit einem das Heiz zum Zerbersten schwellenden Entzücken das Raunen und Flüstern hören: »Seht, das ist Tom Sawyer, der Pirat! Der schwarze Würger der spanischen Meere!«

Ja, nun war’s entschieden, seine Laufbahn festgestellt. Er wollte von Hause weglaufen und dieselbe sofort antreten. Gleich am nächsten Morgen wollte er’s tun! Drum musste er aber auch sofort an die Vorbereitungen gehen. Es galt zunächst, all seine Reichtümer zusammenzutragen. So ging er denn zu einem verfaulten Baumstamm in der Nähe und begann an einem Ende desselben mit seinem Messer den Boden aufzuwühlen. Bald kam er auf Holz, das hohl klang. Er legte die Hand darauf und sprach andächtig die Beschwörungsformel:

»Erscheine, was nicht hier,

Und was schon hier war, bleibe!«

Dann kratzte er die Erde vollends weg und legte eine fichtene Schindel bloss. Diese hob er empor und nun zeigte sich eine schmucke, kleine Schatzkammer, deren Boden und Wände ebenfalls aus Schindeln bestanden. Eine einzige Glaskugel lag darinnen. Toms Erstaunen war grenzenlos. Verblüfft kratzte er sich am Kopfe und sagte:

»Na, das übersteigt denn doch alles!«

Darauf schleuderte er die Kugel zornig von sich und überlegte die Sache, tief in Brüten versunken. Einer seiner festesten Glaubenssätze, die bis jetzt ihm und seinen Kameraden für unfehlbar gegolten, war soeben ins Wanken geraten. Wenn man eine solche Kugel vergrub, so hiess es, und die nötigen Formalitäten dabei streng befolgte, dann, nach vierzehn Tagen an dem Platz wieder nachsah mit ebender Formel, die Tom gesprochen, so würde man alle Kugeln, die man jemals im Leben verloren, um die eingegrabene versammelt finden, einerlei, wieweit zerstreut sie gewesen. So lautete der Satz. Und nun war das Ding fehlgeschlagen, fraglos, zweifellos fehlgeschlagen. Toms ganzes Glaubensgebäude wankte in seinen Grundfesten. Immer nur hatte er von dem Erfolg, niemals von dem Missglücken dieses Verfahrens gehört. Er selbst hatte es schon einige Male probiert, und nur keinen Erfolg gehabt, weil er nie das Versteck wieder auffinden konnte. Ratlos brütete er eine Zeitlang über der Sache und kam schließlich zu der Einsicht, dass irgendeine Hexe die Hand im Spiel gehabt und den Zauber gebrochen haben müsse. Davon wollte er sich nun überzeugen. So suchte er denn herum, bis er einen kleinen sandigen Fleck entdeckte mit einer trichterförmigen Vertiefung in der Mitte, Er legte sich flach auf den Boden, hielt den Mund dicht an diese kleine Höhlung und rief:

»Faulpelzkäfer, Faulpelz du,

Sag mir, was du weisst, im Nu!«

Na begann es im Sande zu arbeiten, und gleich danach erschien auf einen Augenblick ein kleiner, schwarzer Käfer an der Oberfläche, der sich aber alsbald erschreckt wieder zurückzog.

»Haha! Der wagt’s nicht, was zu sagen. ‘s war also richtig eine Hexe! Hab mir’s doch gedacht!«

Da er die Fruchtlosigkeit eines Versuchs, es mit Hexen und Dämonen irgendwelcher Art aufnehmen zu wollen, kannte, so gab er dies sofort entmutigt auf. Dann fiel ihm ein, dass er doch wenigstens die Kugel nehmen sollte, die er weggeworfen im ersten Zorn und er begab sich geduldig ans Suchen, konnte sie aber nicht finden. Nun ging er zur Schatzkammer zurück, stellte sich sorgfältig wieder gerade so hin, wie er zuvor gestanden, als er die Kugel weggeschleudert, nahm eine zweite Kugel aus der Tasche, warf diese nach derselben Richtung und sagte:

»Bruder, such den Bruder flink!«

Genau passte er auf, wo sie hinflog, ging dann hin und sah nach. Entweder war sie zu kurz oder zu weit geflogen, noch zweimal musste er dasselbe Experiment wiederholen. Das letzte Mal war es von Erfolg begleitet. Die beiden Kugeln lagen nur einen Fuss weit voneinander entfernt.

Gerade im selben Moment ertönte von fern der schwache Klang einer Blechtrompete durch die grünen Bogengänge des Waldes. Im Nu hatte sich Tom seiner Jacke und Hosen entledigt, einen Hosenträger in einen Gürtel verwandelt, einen Haufen Gestrüpp hinter dem faulenden Holzstamm beiseite geschoben, sich eines Bogens samt Pfeilen, eines hölzernen Schwertes und einer Blechtrompete bemächtigt und stürzte nun davon, barfuss, in flatterndem Hemde, Bald darauf machte er Halt unter einer großen Ulme, stiess antwortend seinerseits ins Horn, begann dann sich zu recken und kriegerisch nach allen Seiten auszuspähen. Vorsichtig mahnte er eine, nur im Geiste vorhandene Schar von Getreuen:

»Haltet euch still, meine Tapferen! Versteckt euch, bis ich blase!«

Jetzt erschien Joe Harper auf der Bildfläche, ebenso luftig gekleidet und ebenso furchtbar gewappnet wie Tom. Da rief dieser:

»Halt! Wer wagt es, den Sherwoodforst zu betreten ohne meine Erlaubnis?«

»Guy von Guisborne bedarf keines Sterblichen Erlaubnis. Wer bist du, der du – der du –«

»Es wagst, eine solche Sprache zu führen,« fiel Tom schnell ein, denn sie sprachen »nach dem Buche« aus dem Gedächtnisse.

»Wer bist du, der du es wagst, eine solche Sprache zu führen?«

»Ich; fragst du, wer ich sei? Ich bin Robin Hood, was dein klapperndes Gebein alsbald erfahren soll.«

»Du wärest in der Tat jener berühmte Geächtete? Mit Freuden will ich mit dir um das Recht der Herrschaft in diesem fröhlichen Forst ringen. Sieh dich vor!«

Beide zogen ihre Lattenschwerter und ließen die andern Waffen zu Boden fallen, nahmen Fechterstellung ein, Fuss an Fuss, und begannen einen ernsten, regelrechten Kampf: »Zwei Hiebe oben, zwei unten.« Alsbald rief Tom:

»So, wenn du’s loshast, lass uns mal schneller ‘ringehen!«

Und sie gingen »schneller ‘rin«, bis sie keuchten und schwitzten vor Anstrengung. Nun brüllt Tom:

»Fall doch, fall, warum fällst du nicht?«

»Ich? Fall du selber. Du kriegst die dicksten Hiebe.«

»Darauf kommt’s gar nicht an. Ich kann nicht fallen. So steht’s nicht im Buch, Dort heisst’s: ›Und mit einem gewaltigen Streiche von rückwärts fällte er den armen Guy von Guisborne!‹ Du musst dich also umdrehen und ich hau dich von hinten nieder.«

Um diese Autorität war nun nicht herumzukommen, Joe drehte sich, erhielt seinen Streich und fiel.

»Jetzt aber,« rief Joe, der ebenso flink wieder emporschnellte, »ist die Reihe an mir, dich totzuhauen. Los also, dreh dich um – was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Nun, wird’s bald?«

»Ja, aber, Joe, das kann ich doch nicht, so steht’s ja gar nicht im Buch.«

»Na, das ist dann einfach eine Gemeinheit, weiter sag ich gar nichts.«

»Du, hör mal, Joe, du könntest ja der Bruder Tuck sein oder Much, der Müllerssohn, und mich mit einem Prügel für Zeit meines Lebens lahm hauen. Oder, wart’, ich weiss noch was Besseres. Du bist Robin Hood für ein Weilchen und ich der Sheriff von Nottingham, und du haust mich tot.«

Damit war nun Joe zufrieden, und so wurden denn beide Abenteuer mit der nötigen Feierlichkeit in Szene gesetzt. Dann verwandelte sich Tom wieder in Robin Hood und Joe, der die verräterische Nonne vorstellte, ließ ihn sich an seiner Wunde zu Tode bluten. Zuletzt schleifte ihn der vielseitige Joe, der nun eine ganze Bande trauernder Räuber darstellte, nach vorn, legte Bogen und Pfeil in die zitternden Hände des Sterbenden und dieser hauchte: »Wo dieser Pfeil niedersinken wird, da verscharret die Reste des armen Robin Hood unter den Bäumen des Waldes.« Der Pfeil entschwirrte der Sehne, Tom fiel zurück und würde gestorben sein, wenn er nicht zufällig in einen Nesselbusch gesunken und für eine Leiche etwas allzu lebhaft emporgesprungen wäre.

Drauf steckten sich die Jungen wieder in ihre Kleider, verbargen ihre Waffenausrüstung und zogen von dannen, in Trauer versunken darüber, dass das Zeitalter der Geächteten und Räuber entschwunden war. Vergeblich fragten sie sich, welche Errungenschaft moderner Gesittung wohl diesen Verlust aufzuwiegen vermöchte. Ihrem eigenen Gefühl nach wären die beiden weit lieber ein einziges kurzes Jahr lang Räuber, verfemte, geächtete Räuber im Sherwoodforste gewesen, als Präsident der Vereinigten Staaten auf Lebenszeit.

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644 стр. 41 иллюстрация
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9783969694466
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Bookwire
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