Читать книгу: «Brut des Bösen»

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Der Unfall

Jennifer schlich sich leise am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbei. Durch die geschlossene Tür hindurch vernahm sie das laute Schnarchen ihres Vaters. Sie beeilte sich, den Flur zu durchqueren, und schlüpfte vorsichtig durch die Haustür ins Freie. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blitzte es zwischen den Büschen kurz auf. Zielstrebig schlug sie diese Richtung ein und fiel daraufhin in zwei starke männliche Arme, die sie fest an sich drückten.

»Na endlich, ich dachte schon, du wärst eingeschlafen«, sprach der schwarzhaarige Junge in der Lederkluft, der auf den Namen Mark Kobain hörte.

»Ausgerechnet heute mussten Mom und Dad so spät zu Bett gehen. Aber ich wollte nicht, dass es mir so geht wie beim letzten Mal.«

Jennifer Brand zog ihren Freund zu sich heran und küsste ihn.

»Wichtig ist, dass wir jetzt beisammen sind. Auf dem Trafalgar Square ist ein kleiner Jahrmarkt, gehen wir hin?«

»Wie du möchtest. Wir können aber auch zu mir gehen. Meine Eltern würden nichts dagegen sagen, das weißt du.«

»Ich weiß«, sprach Jennifer leise. »Aber ich bin noch nicht so weit, Mark. Gib mir noch etwas Zeit, ja?«

»Sag mal, kannst du Gedanken lesen? Du denkst ja ganz schlimme Sachen von mir, oder wie verstehe ich das? Na gut, fahren wir zum Jahrmarkt. Vielleicht überlegst du dir es ja noch.«

Jennifer nahm ihren Helm entgegen und schwang sich auf den Sozius.

»Wir werden sehen, Mark. Aber verspreche dir nicht zu viel. Bis um drei will ich auf jeden Fall wieder zu Hause sein.«

Ein letztes Mal bäumte sich der Körper Jennifers auf. Ein lautes, erlösendes Stöhnen drang aus ihrem Mund. Dann warf sie sich erschöpft über den unter ihr liegenden Körper.

Ausgelaugt und glücklich strich Mark über das schulterlange dunkelblonde Haar seiner Freundin. Ihr hübsches, kindliches Gesicht mit der niedlichen Stupsnase überzog ein dünner Film aus Schweiß. Ihre grünbraunen Augen sahen ihn forschend an.

»Mark, Schatz, es war ... so schön ... wunderschön. Es ... war das erste Mal, dass ich mit einem Jungen geschlafen habe, weißt du.«

»Ich weiß«, erwiderte Mark mit sanfter Stimme. »Du warst großartig. Ich liebe dich, Jenny.«

»Ich liebe dich auch. Wenn es nur öfter so sein könnte. Manchmal glaube ich, meine Eltern für ihre störrische Haltung hassen zu müssen. Was haben sie nur gegen dich, du hast ihnen doch nichts getan. Sie haben dir nicht mal die Möglichkeit gegeben mit ihnen zu sprechen.«

»Weißt du, Jenny, ich glaube es liegt weniger an mir als an der Tatsache, dass dich deine Eltern noch für zu jung für eine Beziehung halten. Ich bin dreiundzwanzig, du erst vierzehn. Sie machen sich Sorgen, das ist alles. Gib ihnen Zeit.«

Jenny kuschelte sich an ihren Freund und seufzte traurig.

»Wie ich diese Heimlichtuerei hasse. Warum darf ich dich nicht lieben, nur weil ich vierzehn bin. Oh Gott, stell dir mal vor sie wüssten, was wir beide gerade getan haben.«

»Sie würden mich wahrscheinlich anzeigen. Wegen Missbrauchs einer Minderjährigen«, vermutete Mark.

Jennifers Körper schob sich erneut über ihn.

»Was meinst du? Sündigen wir noch mal?«

Marks Hände fuhren ihren Rücken entlang und strichen über die runden Formen ihres Beckens. Er spürte, wie ihn erneut die Erregung befiel. Als sie sich ein zweites Mal liebten, bemerkten sie nicht, wie schnell die Zeit verging.

Als Jennifer an der Seite ihres Freundes erwachte, fiel ihr Blick zufällig auf die Uhranzeige des Radioweckers. Mit einem Satz sprang sie auf und rüttelte Mark an der Schulter.

»Was ist denn ...?«, knurrte dieser mürrisch und noch halb im Schlaf.

»Es ist schon halb fünf morgens, Mark. In einer halben Stunde steigt mein Vater auf. Ich glaube, ich habe meine Zimmertür offengelassen. Was glaubst du, was los ist, wenn er bemerkt, dass ich nicht da bin. Schnell, Mark, beeile dich.«

Missmutig stieg Mark aus dem Bett, beeilte sich aber doch, da er sich und seiner Freundin unnötigen Ärger ersparen wollte.

Nur wenige Minuten später saßen sie auf dem Motorrad. Mark fuhr leidenschaftlich Harley, und er tat dies Sommer wie Winter. Er hasste Autofahren.

Die Straßen Londons waren bereits gutgefüllt, da sich die Schichtarbeiter entweder auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg befanden. Mark wohnte zudem in einer Ortschaft außerhalb Londons, so dass der Weg in die Stadt schon eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Die Zeit würde verdammt knapp werden. Er beschloss, einiges an Geschwindigkeit zuzulegen. Normalerweise hielt er sich zurück, wenn Jenny hinter ihm saß, und dieses eine Mal, dachte er sich, würde schon alles gut gehen.

Ted Henlon fuhr schon seit fünfzehn Jahren Truck, aber nie ging es ihm so beschissen wie heute. Er saß bereits über zwanzig Stunden am Steuer, fest entschlossen, sein Ziel vor dem Morgen zu erreichen.

Danach hatte er erst mal ein paar Tage Ruhepause, und er freute sich darauf, seine Frau und die Kleinen wieder zu sehen. Dieses geschah im Jahr höchsten vier- bis fünfmal. Er hätte den verfluchten Job sicherlich schon längst aufgegeben. Aber es war das Einzige, das er konnte. Zudem liebte er seinen Truck.

Das Radio lief mit voller Lautstärke, aber selbst dies hielt ihn nicht mehr richtig wach. Endlich bog er auf ein Stück der Hauptstraße, welche um diese Zeit nur wenig befahren war. Die ständige Konzentration laugte ihn völlig aus. Er trat das Gaspedal etwas mehr durch. Auf dieser Strecke konnte er unbesorgt an Tempo zulegen, denn er wusste aus Erfahrung, dass ihn hier eine Zeitlang keine Fahrzeuge behindern würden.

Mit dem Fuß auf dem Gaspedal schlief Ted Henlon schließlich ein.

Mark fuhr mit über 100 Sachen durch die verkehrsberuhigte Zone, in der Hoffnung, keinem Streifenwagen in die Quere zu kommen.

Jennifers Hände krallten sich fest um seine Hüfte. Unter anderen Umständen hätte das Mädchen über die riskante Fahrweise ihres Freundes einen Wutanfall bekommen. Die Angst vor ihrem Vater überwog jedoch, so dass sie es Mark nicht weiter übel nahm.

Mark fluchte im Stillen, als aus einer Seitenstraße ein Polizeifahrzeug auf die Hauptstraße bog. Er reagierte, bevor ihn die Bobbys erblickten, und bog seinerseits in eine Nebengasse ein. Nach einigen Umwegen fuhr er wieder in Richtung der Hauptverkehrsstraße. Vorsichtig sah er sich um, als er an die Straßenkreuzung heranfuhr. Nach einer Weile bog er beruhigt ab. Ein schneller Blick auf die Uhr ließ ihn das Gas ein wenig mehr durchdrücken. Die Landstraße lag frei vor ihm, auf der Gegenseite blendete das einsame Lichterpaar eines Sattelschleppers. Es störte den jungen Mann nicht.

Das Motorrad beschleunigte und war fast an dem Truck vorbei, als dieser urplötzlich die Straßenseite wechselte und geradewegs auf ihn zusteuerte. Das tonnenschwere Fahrzeug scherte so unerwartet aus seiner Bahn, dass Mark nicht geringste Chance zum Ausweichmanöver erhielt.

Frontal prallte das Motorrad mit dem Sattelschlepper zusammen. Alles geschah rasend schnell.

Mark wurde regelrecht aus seinem Sitz katapultiert und flog einer Kanonenkugel gleich mit dem Kopf voran in die Fahrerkabine. Glas barst mit lauten Knall.

Ted Hanlon, der Fahrer, erwachte in dem Moment, als der Kopf Mark Kobains auf den Beifahrersitz fiel. Die Wucht des Aufpralls, die den jungen Mann in die Frontscheibe trieb, enthauptete ihn in Sekundenschnelle. Die Hände des Torsos baumelten über die Armaturen, und aus dem Stumpf des Körpers schossen Unmengen von Blut, die den gesamten Innenraum der Fahrerkabine besudelten.

Schreiend trat Ted Hanlon auf die Bremse. Eine Reaktion, die unbewusst erfolgte. Er vernahm das Krachen unter den Rädern des Trucks. Panik kroch in ihm hoch. Zitternd stieg er aus dem 40 Tonnen schweren Fahrzeug und stürzte um ein Haar zu Boden. Er musste sich zwingen, einen Blick unter den Truck zu werfen.

Die kläglichen Überreste der zerfetzten Maschine hingen zum Teil in der Achse verkeilt und hatten so den Truck an einigen Stellen beschädigt.

Doch dies war es nicht, dass Ted Hanlon bis an den Rand des Wahnsinns trieb.

Der Anblick von Jennifers blutüberströmten Körper ließ ihn wimmernd zusammenbrechen. Das tonnenschwere Gefährt hatte das Mädchen mitgeschleift und ihr den Unterkörper vom Bauchnabel an abgetrennt. Ted Hanlon erbrach sich mehrmals hintereinander, bevor sein Denken endgültig aussetzte.

Eine erlösende Ohnmacht überkam ihn und ließ ihn das Entsetzliche für den Moment vergessen.

»Es war meine verdammte Schuld, Mike. Ich hab ihr verboten, sich mit diesem Mark zu treffen, weil ich sie noch zu jung für eine Beziehung hielt. Ich hätte wissen müssen, dass es keinen Sinn haben würde, es ihr zu verbieten. Ich bin Schuld an ihrem Tod, Mike, ich allein.«

Lester Brand hielt den Kopf in die Hände gestützt. Der schwergewichtige Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem dichten, pechschwarzen Haarschopf befand sich in einem Zustand der Verzweiflung und Ratlosigkeit.

Der Schmerz, den er empfand, versuchte er, so weit es ihm möglich war, vor seinem Freund und Schulkollegen aus alten Tagen zu verbergen. Doch Mike Tipton wusste nur zu gut, was in Lester Brand vorging.

»Lester«, redete Mike beruhigend auf ihn ein. »Es gibt keine Eltern auf der Welt, die sagen könnten, was richtig und falsch wäre, was man seinen Kindern verbieten sollte oder nicht. Du schadest dir und Marge nur noch mehr, wenn du jetzt in Selbstvorwürfen versinkst. Die Hauptschuld trifft den Fahrer. Er ist am Steuer eingeschlafen und von der Spur abgekommen. Es hätte auch zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort geschehen können, Lester.«

»Sie wollte nach Hause, bevor ich dahinter komme, dass sie heimlich verschwunden ist, Mike. Deshalb fuhr der Junge um diese Zeit diese Strecke und deshalb hatte er sich so beeilt. Anders wäre sie bei ihm geblieben und es wäre nicht geschehen.«

Lester Brand blieb stur. Er gab sich voll die Verantwortung für das Geschehene.

»Marge braucht deine Hilfe, und die bist du ihr nicht, wenn du sie mit deinen Schuldgefühlen belästigst.«

Im Stillen gestand sich Mike Tipton ein, dass er nicht anders reagiert hätte. Er selbst hatte keine Kinder, aber er vermochte sich sehr wohl in Lester hineinversetzen.

Nur zu gut erinnerte er sich an die Stunden ihrer gemeinsamen Kindheit, in denen er und Lester oft jede freie Minute zusammen verbrachten. Nach der ersten Freundin und der Ausbildung gingen sie dann jeder seinen Weg für sich, aber der Kontakt brach nie ab. Lester wurde ein erfolgreicher Kaufmann, und er, Mike Tipton, brachte es bis zum Inspektor bei Scotland Yard.

Mike wirkte stets jünger, daran hatte sich nichts geändert. Mit seinen fünfundvierzig Jahren sah er immer noch wie ein Mittdreißiger aus, was ihm sein Freund des Öfteren neidisch unter die Nase rieb. Schon in der Teenagerzeit spannte ihm Mike sämtliche Mädchen aus. Die sportliche Figur, die gutgebräunte Haut, die ausdrucksstarken grünblauen Augen und seinen heller Blondschopf, der inzwischen schon an Glanz verlor, kam bei den weiblichen Personen stets besser an als Lesters Metzgernatur.

Doch dies war lange vorbei. Nun saß Lester vor ihm als ein gebrochener Mann. Er hatte sein einziges Kind verloren, und Mike wusste, dass sein Freund dies nie würde überwinden können. Seine Frau Marge lag mit einem schweren Schock und unter Einfluss von Beruhigungsmitteln im Krankenhaus.

Tipton nahm die Aussage des Truckers zu Protokoll, worin der Mann offen und ehrlich zugab, am Steuer eingeschlafen zu sein. Der Blick, der dabei aus seinen Augen sprach, gefiel Mike allerdings ganz und gar nicht. Der bullige, glatzköpfige Mann wurde ebenfalls in die Klinik überwiesen. Mike hatte das Krankenhauspersonal darauf hingewiesen, ihn sorgfältig zu beobachten. Insgeheim rechnete der Inspektor damit, dass dieser sensible Mann früher oder später eine Dummheit begehen könnte. Das Mark ebenfalls eine Mitschuld trug, indem er die Geschwindigkeitsbegrenzung um ein Vielfaches überschritt, interessierte den von Selbstvorwürfen geplagten Mann nur wenig.

»Warum musste dieser verfluchte Kerl am Steuer einschlafen, Mike? Wie kann man nur so verantwortungslos sein? Das grenzt an einen Mordversuch, Mike, und ich möchte, dass du diesen Schuft für das bestrafst, was er uns angetan hat.«

Lester steigerte sich eine Welle voll Ohnmacht und Zorn. Sein Hass half ihm jedoch nicht, den Schmerz erträglicher werden zu lassen.

Mike klärte den Freund über den Zustand des Mannes auf, und er wusste, dass Lester in seiner jetzigen Verfassung der Erregung dies gar nicht zur Kenntnis nahm. Sein Gesicht war gerötet, wie immer wenn ihn der Zorn übermannte.

»Dieser verdammte Mistkerl! Gut, der Junge mag zu schnell gefahren sein, aber er war es nicht, der meine Tochter getötet hat. Das war dieser Ted Hanlon, oder wie das Schwein sich nennt. Er soll beten, dass er mir nie begegnet, dieser elende ...«

»Hör auf«, fiel ihm Mike hart ins Wort. »Du bist nicht besser und nicht schlechter als dieser Ted, Lester. Weißt du noch damals, als du dich mit Louise Miller trafst, nach der dritten Schicht? Du hattest in vierundzwanzig Stunden nicht eine Minute geschlafen, aber Louises Vater ging um diese Zeit zur Arbeit.«

»Ich kenne die Geschichte«, brummte Lester, doch Mike ließ sich nicht beirren.

»Du bist irgendwohin gefahren und hast die Nacht mit ihr im Wagen verbracht. Auf dem Rückweg - du wolltest die Kleine gerade nach Hause fahren - schliefst du am Steuer ein. Der Wagen war Schrott und ihr hattet großes Glück mit ein paar Schrammen davongekommen zu sein.«

»Ich weiß, verdammt noch mal was du sagen willst. Aber dieser Kerl … Mike ... es war mein Kind, meine kleine Jenny, oh Gott.«

Lesters Schultern zuckten. Das Gesicht hielt er in seinen riesigen Händen verborgen.

Mike legte seinem Freund die Arme um die Schultern. Das war im Augenblick alles, was er tun konnte, und er fühlte die Hilflosigkeit, die in ihm aufstieg.

John Rewitt sah mitleidig auf die beiden jungen Menschen, die mit wächsernen Gesichtern, gekleidet in ihre Totenhemden, darauf warteten, zu ihrer letzten Ruhe gebettet zu werden. Der Priester sprach noch einige Gebete für das Paar und schloss daraufhin die Tür der Leichenhalle. Er fuhr angewidert zurück, als die Whiskyfahne des Totengräbers ihm unverhofft entgegenwehte.

»‘n Abend, Vater. Ich habe das Grab jetzt fertig. Ein schönes Doppelgrab, wie Hochwürden befahlen. Wird den beiden bestimmt gefallen.«

Pater Rewitt zog die Augenbrauen hoch und musterte den spindeldürren, verwahrlost aussehenden Mann mit eindeutigen Missfallen.

»Behalten Sie Ihre geschmacklosen Bemerkungen für sich, Ryder. Warum arbeiten Sie eigentlich um diese Zeit und nicht am Tage, wie jeder andere normale Bürger auch? Jeder Mensch, der den Toten auch nur das Geringste Maß an Achtung entgegenbringt, lässt sie um diese Zeit ruhen.«

»Bisher hab’ ich noch keinen aufgeweckt, Pater«, erwiderte die übelriechende Gestalt frech. Das Lachen, das Ryder dabei ausstieß, klang wie das Wehklagen eines sterbenden Ackergauls.

»Bitte vergleichen Sie mich nicht mit einem dieser normalbürgerlichen Stinker dort draußen. Alle haben sie Schiss, wenn es ein bisschen finster wird, haben Angst irgendein übelriechendes, schleimtriefendes Monster würde ihnen den Arsch abbeißen. Nicht so ich, Pater, die Nacht ist mein Zuhause, hier fühle ich mich wohl. Hier kann ich mir in aller Ruhe einen antrinken, ohne dass die Alte Wind davon bekommt.« Seine Worte klangen wie der Sterbegesang einer geschundenen Mähre.

Pater Rewitt schüttelte nur mit dem Kopf und vollführte eine Geste der Hoffnungslosigkeit.

»An Ihrer Seele wird weder die eine noch die andere Seite Vergnügen empfinden. Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Ryder, aber, auch wenn Sie sich Mühe geben dies zu verbergen, kein ganz und gar unrechter Kerl.«

Statt einer Antwort ertönte ein seltsames Knurren, und der Pater lauschte erstaunt.

»Was war das? Haben Sie es auch gehört, Ryder?«

Der Totengräber tippelte von einem Bein auf das andere.

»Ist mir echt unheimlich peinlich, Hochwürden, aber das war mein Magen, oder vielmehr die Hälfte, die noch davon übrig ist.«

Obwohl der Pater stets so etwas wie Abscheu gegenüber der heruntergekommenen Gestalt Ryders empfand, gelang es ihm immer wieder, sich doch seiner zu erbarmen.

»Lüften Sie ihre etwas unwohl riechende Garderobe und folgen Sie mir. Ich lade Sie auf Kartoffelsuppe und ein Stück Räucherfleisch ein, einverstanden?«

Die Augen Ryders begannen zu leuchten.

»Das ist aber verdammt in Ordnung von Ihnen, Pater. Der alte Ryder wird Ihnen das nie vergessen, das schwöre ich, so wahr ich ...«

»Versündigen Sie sich nicht noch mehr als es so schon der Fall ist. Kommen Sie, mir knurrt der Magen auch ein wenig.«

»Wirklich schade um das hübsche Ding«, brummelte Ryder, während er gierig seine Suppe in sich hinein schlürfte.

»Um den Jungen natürlich auch«, beeilte er sich zu sagen, als er die gerunzelte Stirn des Priesters bemerkte. Rewitt sah gnädig über die Tischmanieren des alten Schlitzohres hinweg, aber an die Redeweisen dieses Burschen würde er sich wohl nie gewöhnen.

»Es ist um jeden Menschen schade, der so jung von dieser Welt abberufen wird, Mr. Ryder«, erklärte der Pater im strengen Ton.

»Gottes Wege sind rätselhaft und für uns Menschen oft nur schwer zu verstehen. Aber irgendwo hat dies alles seinen Sinn. Sie werden es nicht für möglich halten, Mr. Ryder, auch Sie sind ein Kind Gottes.«

Ryder nickte überzeugt.

»So ist es, Pater. Deshalb hält der gute alte Herr auch einen besonders schönen Platz für mich reserviert. Schließlich sorge ich dafür, dass sein Gottesacker immer top in Ordnung ist. Habe ich recht, Hochwürden?«

Nur mit Widerwillen gab ihm der Pater recht.

»Sie sind zwar ein unmöglicher Mensch, und ich frage mich wie Ihre Frau es solange mit Ihnen aushalten konnte, aber es stimmt. Sowohl als Totengräber als auch in Ihrer Tätigkeit als Friedhofsgärtner erledigen Sie Ihre Arbeit stets zufriedenstellend. Eine Tatsache, die so ganz und gar nicht zu Ihnen passen will, Hendrik.«

»Außen pfui, innen hui, Vater. Meine Hände zittern noch kein wenig, sehen Sie, und das, obwohl ich laut Ihrer Weissagung schon längst tot sein sollte.«

»Reden Sie nicht so einen Unsinn, Ryder«, wies ihn Rewitt zurecht. »Ich habe nur auf Ihren gewaltigen Konsum an Alkohol hingewiesen, und tatsächlich erscheint es mir wie ein Wunder, Sie immer stets in guter Verfassung zu erleben. Ich könnte mich nicht erinnern, Sie ein einziges Mal krank erlebt zu haben.«

»Ist doch eine klare Sache, Pater«, erklärte der Alte grinsend, während er nach dem Fleisch griff und sich danach eine gewaltige Ladung Kartoffeln auf den Teller hievte.

»Alkohol tötet jegliche Bakterien und Krankheitserreger ab. Deshalb, und nur deshalb, ist der alte Hendrik Ryder noch fit wie ein junger Hengst. Fragen Sie meine Alte, die kann Ihnen ...«

»Ryder«, mahnte der Priester mit erhobenem Zeigefinger. »Was immer es auch sein mag, ich will es nicht wissen, verstanden.«

Der Totengräber knurrte irgendetwas Unverständliches in den dünnen Bart und widmete sich seinem Essen in einer Weise, die dem Pater jeglichen Appetit verdarb.

»Warum bekommen die jungen Leute eigentlich ein gemeinsames Grab? Soviel ich weiß, waren die beiden doch gar nicht verheiratet, oder irre ich mich?«

»Die Eltern dieser jungen Menschen trafen die Entscheidung, und ich finde sie richtig. Man sollte die Liebenden nicht voneinander trennen. Jennifer, das Mädchen, wohnte in London, aber dieser Ort hier, der Geburts- und Wohnort des Jungen, liegt ruhiger und doch jederzeit erreichbar für die Angehörigen. Ich kenne Neil Kobain, den Vater des Jungen, etwas näher, und es tut mir weh, dass ihm so viel Leid widerfahren musste. Erst letztes Jahr starb sein Bruder an Krebs, eine schreckliche Sache. Der Mann litt an Hautkrebs. Als ich ihm die letzte Absolution erteilen wollte, erschrak ich zum ersten Mal vor dem bloßen Anblick eines Menschen.«

Ryder nickte.

»Ich kenne die Kobains, Pater, aber für mich waren die nie was anderes als ein Haufen stinkreicher Leute, die die Nase hochzogen, wenn Ihnen einer aus dem gewöhnlichen Gefolge unter die Augen trat.«

»Bei Ihnen, Ryder, ziehen noch ganz andere Leute die Nase hoch, nehmen Sie es mir nicht übel. Sie sollten nicht vorschnell über Leute urteilen, die Sie überhaupt nicht kennen.«

Ryder nahm einen Schluck aus der Flasche alkoholfreien Biers und verzog den Mund, als hätte man ihn gezwungen einen Liter Essig einzunehmen.

»Ach, von wegen, erzählen Sie mir nichts über Menschenkenntnis, die hat der alte Ryder mehr als Sie annehmen. Es ist ganz in Ordnung, wenn es auch mal ein paar Reiche erwischt, damit Sie sehen, was Ihre ganze Kohle eigentlich wert ist.«

Rewitt wurde nun ernsthaft zornig. Doch bevor er etwas erwidern konnte, vernahm er ein Klirren, das sich anhörte, als wäre eine Scheibe zerbrochen.

»Haben Sie das auch gehört, Ryder?«, fragte er den Totengräber.

»Klang wie das Bersten von Glas«, meinte dieser lauernd.

»Vielleicht haben ein paar von diesen ausgeflippten Typen, die hier in der Gegend wohnen, sich einen dummen Scherz erlaubt. Das Geräusch kam aus Richtung Kapelle oder Leichenhalle. Ich werde mal nachsehen, Pater. Möglicherweise war es auch nur eine Katze, die etwas umgestoßen hat.«

Der Priester öffnete das Fenster und sah hinaus. Der Friedhof lag auf der Rückseite seines Hauses. So besaß er eine recht gute Aussicht über den gesamten Gottesacker mit der kleinen Kapelle und der angrenzenden Leichenhalle.

»Ich kann nichts erkennen, Ryder. Die Straße ist auch leer, ich kann kein Fahrzeug oder sonst etwas ausmachen. Alles ruhig. Womöglich hörte es sich nur so an, als käme es aus der Nähe. In der Stille der Nacht täuscht man sich oft über irgendwelche Geräusche hinweg.«

»Ich sehe trotzdem mal nach, Pater, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Rewitt nickte und ergriff sein Jackett.

»In Ordnung, kommen Sie. Beruhigen wir unser Gemüt und sehen nach.«

Auf dem Kirchhof angekommen ließ Pater Rewitt seinen Blick über die Reihe der Gräber schweifen. Beleuchtet durch die roten Grablichter erhielten diese einen gespenstischen Anstrich. Seine Augen benötigten eine Weile, sich an das Dunkel zu gewöhnen, aber nach kurzer Zeit erkannte er immer deutlicher die Umrisse der Denkmäler und Grabsteine. Alles lag still, wie erwartet. Rewitt glaubte an keinen Jungenstreich. Er war überzeugt, dass sie sich umsonst beunruhigten.

Ryder schritt geradewegs zur Kapelle, umrundete sie einige Male, bevor er sie betrat. Der Priester folgte ihm nicht, sondern begab sich zur Leichenhalle. Auch hier lag alles so ruhig und friedlich, wie man es erwartete. Prüfend legte er die Hand auf den Türgriff, um festzustellen, dass diese nach wie vor verschlossen war.

Ryder gesellte sich zu ihm und zuckte mit den Achseln.

»Entweder halten die Geister der Verstorbenen uns zum Narren, oder wir beide werden ganz einfach alt.«

Rewitt schmunzelte. Er selbst wirkte um einige Jahre jünger als Ryder, obwohl sie nur wenig auseinander lagen. Sein Äußeres glich schon fast einem Hollywoodstar der alten Schule. Man dachte sofort an Gregory Peck in reiferen Jahren, die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Die buschigen Augenbrauen bestätigten dieses Bild ein weiteres Mal. Seine Gesichtszüge wirkten streng, aber sympathisch. Das krasse Gegenteil hierzu der Totengräber, dessen Cordhose seit Monaten um die dürren Beine schlapperte. Die schwarze Jacke wurde nur von einem einzigen Knopf und jeder Menge Schmutz zusammengehalten. Sein Aussehen unterschied sich kaum von der seiner schweigsamen Kundschaft. Der dürre Kopf wirkte regelrecht skelettiert, die Knochen traten in dem hageren Gesicht markant hervor. Kleine Äuglein undefinierbarer Farbe, ein gebrochenes Nasenbein und kaum vorhandene Lippen verliehen ihm genau jenes Aussehen, das man von einem Manne seines Berufsstandes erwartete. Ein Maskenbildner für Horrorfilme würde an ihm wahre Freude haben, da es kaum etwas zum maskenbildern gab. Es fehlte lediglich ein großer Zylinder auf dem Kopf, um das Bild abzurunden. Beide Männer überschritten jedoch bereits die Sechzigergrenze, und eine merkwürdige Art von Freundschaft verband sie trotz dieser äußerlichen Gegensätze.

»Lassen Sie die Geister aus dem Spiel, Ryder, und geben wir zu, dass wir uns zumindest in der Ursache des Geräusches getäuscht haben.«

»Haben Sie schon an der Rückseite nachgesehen, Pater?«, fragte Ryder, der soeben eine Runde um die Leichenhalle antrat.

»Nein, aber ich halte es auch gar nicht mehr für nötig. Ich lade Sie noch zu einem Glas Rotwein ein und dann gehen Sie nach Hause zu Ihrer Frau. Wenn Sie so sind, wie Sie vorhin damit prahlen wollten, dann wird sie Sie sicher schon mit Sehnsucht erwarten.«

Ryder gab keine Antwort und Rewitt überlegte sich, ob es nicht besser wäre, doch einmal nachzusehen. Da kam der Totengräber schon um die Ecke.

Mit einem seltsamen Glitzern in den Augen blieb er vor dem Geistlichen stehen.

»Erstens, Pater, hasse ich Rotwein wie die Pest, da ich Whisky-Fan bin. Zweitens schläft meine Alte jetzt schon tief und fest und sägt dabei einen ganzen Wald zunichte. Und drittens haben wir beide jetzt andere Sorgen, als uns irgendwelchen irdischen Lastern hinzugeben, weil irgend ein verfluchter Mistkerl ein Loch, so groß wie der Arsch meiner Alten, in das Fenster auf der Rückseite geschlagen hat.«

Für einen Moment starrte ihn der Pater verwundert an, um daraufhin einen Schlüsselbund aus seinem Priestergewand zu nesteln. Ungeduldig probierte er die verschiedenen Schlüssel aus. Er konnte sich einfach nicht den richtigen merken, ein Umstand, der ihn zwar stets verärgerte, sich aber wohl nie ändern würde.

»Okay, irgendjemand hat sich einen dummen Scherz erlaubt«, erwiderte er, während er schon zum zehnten Male denselben Schlüssel probierte. »Das gibt Ihnen aber noch lange nicht das Recht, ausfällige Reden in Bezug Ihrer Frau Gemahlin zu führen. Ich glaube, wir beide müssen mal ein ernstes Wort miteinander reden. Ah, da ist der verd ..., Gott vergib mir, der gesuchte Schlüssel.«

Doch bevor er die Türe öffnete, zog ihn Ryder sanft aber bestimmt zurück.

»Was soll das, Ryder? Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Das wohl nicht, Hochwürden, aber ich möchte nicht, dass Sie mir einfach in Ohnmacht fallen, wenn Sie sehen, was ich gesehen habe.«

»Was soll das heißen?«, fragte der Pater. »Was können Sie schon gesehen haben, außer den beiden armen Geschöpfen da drinnen. Sind Sie etwa aufgestanden und davongelaufen? Halten Sie mich nicht zum Narren, Ryder, jeder Spaß hat irgendwo ein Ende.«

Entschlossen öffnete der Pater die Tür zur Leichenhalle und betätigte den Lichtschalter. Sein Blick traf zuerst die zerborstene Scheibe, dann die beiden Särge.

Entsetzt erstarrte der Priester.

»Ryder, um Gottes willen, was ist hier geschehen?«

Ryder, der hinter Rewitt den Raum betrat, schüttelte nur mit dem Kopf.

»Ich habe keine Ahnung, Pater. Ich bin ein Freund des schwarzen Humors, schon immer gewesen, aber das hier ist, wenn es ein Scherz sein soll, verdammt noch mal nicht lustig.«

Ratlos standen die beiden Männer um zwei unbesetzte Särge.

Die Leichen waren verschwunden.

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