Читать книгу: «Dirty Deeds - Meine wilde Zeit mit AC/DC»

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Für meine Mädchen

Impressum

Der Autor: Mark Evans

Deutsche Erstausgabe 2012

Titel der Originalausgabe:

„Dirty Deeds – My life inside and outside of AC/DC“ © 2011 by Mark Evans

ISBN: 978-1-74237-579-3

Coverdesign: © Squirt Creative

Coverdesign der deutschen Version: © bürosüd°, München

Coverabbildung: © Peter Mayoh/Fairfax Syndication

Foto auf der Buchrückseite: © Dick Barnatt

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Kirsten Borchardt

Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai

© 2012 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

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ISBN 978-3-85445-369-7

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-368-0

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Prolog: Paris, April 1977

Kapitel 1: Das Prahran Hilton

Kapitel 2: Poolbillard und Hausverbot

Kapitel 3: Countdown lässt es krachen

Kapitel 4: Der Sandmann

Bildstrecke 1

Kapitel 5: Unerwartet Teen-Stars

Kapitel 6: Auf nach England

Kapitel 7: London

Kapitel 8: Geister, Dope und Müllmänner

Kapitel 9: Eine Riesendosis Rock’n’Roll

Kapitel 10: Unverhoffter Schlussakkord

Bildstrecke 2

Kapitel 11: Keine tätowierten Rosen!

Kapitel 12: Ein langer, langer Weg

Danksagung

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Solange ich mich erinnern kann, wollte ich reisen. Was das eigentlich bedeutete, war mir damals gar nicht klar, aber mir war schon ziemlich früh bewusst, dass es draußen in der Welt unheimlich viele Sachen zu sehen und zu entdecken gab. Schon ganz früh malte ich mit Begeisterung Bilder von Orten und Sehenswürdigkeiten, die mir ganz weit weg vorkamen, von den Pyramiden, Big Ben oder auch der Harbour Bridge von Sydney. (Hey, immerhin stammte ich aus Melbourne, da erschien mir Sydney wie auf einem anderen Planeten.) Mich faszinierte die Vorstellung, dass es Länder auf der anderen Seite der Welt gab, in denen die Menschen andere Sprachen sprachen, anderes Essen aßen, andere Kleidung trugen und eben überhaupt … anders waren. Es gab nur ein Problem: Wie konnte ich es schaffen, in diese so entlegenen, wunderbar anderen Länder zu gelangen? Ich kam aus einer Arbeiterfamilie und war in einem ziemlich rauen Vorort von Melbourne aufgewachsen, in Prahran. Welche Chance hatte ich schon, wirklich etwas von der Welt zu sehen?

Eine gar nicht mal so kleine, nachdem ich der Bassist von AC/DC geworden war. Ein Freund von mir gab mir im März 1975 den richtigen Tipp, und mit gerade mal 19 Jahren stieß ich zur Band. Im ersten Jahr gaben wir Konzerte, gingen auf Tour, machten Aufnahmen, tranken und ackerten uns quer durch Australien. Wir erreichten ganz ordentliche Platzierungen in den Hitparaden und zogen uns gleichzeitig den Zorn des Establishments zu, woraufhin wir eine Tour sofort unter das Motto „Lock up your daughters“ – „schließt eure Töchter ein“ – stellten. Als wir damit fertig waren, schien es uns eine ziemlich gute Idee zu sein, dasselbe Ding gleich noch mal in Europa durchzuziehen. Und so machten wir uns auf den Weg.

Am 5. April 1977 befanden wir uns in Paris, und der größte Teil unserer Tour als Vorgruppe von Ozzy Osbournes Band Black Sabbath lag schon hinter uns. An jenem Abend hatten wir im Pavillon de Paris gespielt, einer Halle, die unserem alten Wasserloch in Sydney, dem Hordern Pavilion, gar nicht unähnlich war. Der Pavillion in Paris war zusätzlich noch deswegen interessant, weil sich früher an diesem Ort ein Schlachthof befunden hatte, weswegen Einheimische die Halle auch Les Abattoirs nannten. Ich bezweifelte nicht im Geringsten, dass der ganze Laden aufgrund seiner blutigen und unrühmlichen Vergangenheit eine Art Dauerkater hatte. Es roch genau so, wie man es von einem früheren Pariser Schlachthof erwarten konnte – nein, sogar noch schlimmer.

Aber die Stadt an sich war natürlich etwas ganz anderes. Paris im Frühling ist einfach phantastisch. Es gibt bestimmt schon einen Song, der „Paris In The Springtime“ heißt, und wenn nicht, dann sollte man ihn schleunigst schreiben. Für ein paar junge Typen, die in einer Rockband spielten, war es jedenfalls höchst aufregend. Und wenn ich „jung“ sage, dann meinte ich damit die Instrumentalisten von AC/DC und nicht unseren geliebten und furchtlosen Anführer und Sänger, Bon Scott. Wir nannten ihn allgemein „old man“, und es war ein bisschen so, nein, es war sogar ziemlich genau so, als sei man mit einem leicht durchgeknallten Onkel auf Tournee. Ihr wisst schon, diese lustigen Typen, die sich bei Hochzeiten im großen Stil besaufen und versuchen, alle jungen Mädels abzuschleppen. Bon war damals erst knapp über 30, aber für mich gehörte er trotzdem schon zu einer anderen Generation.

Da Paris eben Paris war, und AC/DC eben AC/DC, ließen wir es während unseres Aufenthalts ordentlich krachen, abgesehen von Angus Young, unserem abstinenten Gitarristen in Schuluniform, der sich nur selten mal einen Schluck genehmigte. Unser Old Man hingegen gönnte sich gerne einen Tropfen Rotwein, und manchmal auch wesentlich mehr. Und in Paris konnte man sich wirklich ganz ausgezeichnet mit Rotwein die Kante geben. Bon und ich hatten in der Stadt zwei sehr attraktive Französinnen kennen gelernt und waren dabei, unsere Bekanntschaft besonders in bestimmten Körperregionen zu vertiefen. Wir hatten bereits ein paar ziemlich wilde Tage und Nächte in der Gesellschaft der beiden Mademoiselles verbracht und beschlossen nach dem Gig im Pavillion, uns mit ihnen in unser Hotel am Boulevard Saint-Germain zurückzuziehen.

Hotelzimmer in Paris sind, das muss man sagen, meistens ziemlich klein und eng. Oft haben sie diese winzigen Balkone, auf die gerade mal zwei Leute passen – zwei kleine Leute, wohlgemerkt. Bon und ich waren schon ziemlich angesäuselt, aber wir teilten uns trotzdem noch ein schönes Fläschchen von einem ordentlichen Roten auf dem Balkon und warteten darauf, dass die Sonne über der Stadt des Lichts aufging. Paris im Morgengrauen ist ein absolut großartiger Anblick, wahrscheinlich ganz ähnlich wie auch schon vor hundert oder noch mehr Jahren. Jedenfalls konnte ich gut verstehen, wieso diese Stadt so viele Schriftsteller, Maler, Musiker und sonstige Künstler inspiriert hatte. Es war, als hätte man die Zeit angehalten.

Und so standen Bon und ich auf unserem Balkönchen, schlürften unseren Wein und waren mit uns und der Welt und unseren deux filles Parisiennes très attirantes recht zufrieden. Ein wunderschöner Sonnenaufgang erhob sich über Paris und erleuchtete unsere Gesichter. Das Leben war schön. Ich war einen weiten Weg gekommen, vom Vorortskaff Prahran bis hierher, und das in ziemlich kurzer Zeit.

Gerade wollte ich Bon, der nach zwei Tagen Dauerparty schon ziemlich von der Rolle war, diesen Umstand noch einmal genauestens verklickern, da sah er mit seltsam konzentriertem Gesichtsausdruck zum Eiffelturm herüber.

„Was ist denn los, Alter?“, fragte ich.

Bon drehte sich langsam zu mir. „Weißte was“, erklärte er mit leicht schwerer Zunge, „so einen Turm wie den da gibt’s auch in Paris.“


Meine Kindheit war geprägt von dem, was man heute wohl eine „Patchwork-Familie“ nennt, wobei mich das damals weder interessierte noch irgendwie beeinträchtigte. Ich war das jüngste von vier Kindern. Meine älteste Schwester Laura und mein Bruder John entstammten der ersten Ehe meines Vaters mit einer wunderschönen Frau namens Susan, die an einer Gehirnblutung gestorben war, als sie noch sehr klein waren. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an ein Porträtfoto von Susan, das in unserem Haus in Murrumbeena, einem Vorort von Melbourne, hing und auf dem sie wie ein Filmstar aussah. Mein Bruder hat dieses Foto noch, und wenn ich es ansehe, dann muss ich sofort wieder an unser altes Haus und die Zeit damals denken. Es ist ein warmes, schönes Gefühl und erinnert mich an eine Zeit, in die ich mich oft zurücksehne.

Meine andere Schwester Judy ist fünf Jahre älter als ich und damit altersmäßig mir am nächsten. Sie stammt aus der ersten Ehe meiner Mutter Norma. Als Jüngster wurde ich sehr verwöhnt, und wahrscheinlich machte ich Judy das Leben zur Hölle, wofür ich mich heute in aller Form entschuldigen möchte. Der erste Mann meiner Mutter, Bud Mintovich, kam in Australien als Sohn einer russisch-jüdischen Familie zur Welt. Als sie heirateten, diente er in der Royal Australian Navy und war, wie auch meine Mutter, erst 19. Sie waren gerade mal zwei Monate verheiratet und meine Mum war mit Judy schwanger, als Bud an Bord der HMAS Bataan Richtung Okinawa ablegte. Die Bataan lag dort im Hafen, als am 25. Juni 1950 der Koreakrieg ausbrach, und das Schiff wurde der amerikanischen Marine überstellt. Bud kam die nächsten 15 Monate nicht nach Hause. In dieser Zeit erlebte er die Landung der UN-Truppen bei Pohang-Dong mit, patrouillierte in der Straße von Korea, war an zahlreichen Blockaden und Feuergefechten beteiligt und kam tagtäglich unter Beschuss.

Als Bud zurückkam, hatte er sich sehr verändert. Der Krieg hatte ihn gezeichnet. Er war angespannt und in sich zurückgezogen, hatte mit knapp 21 schon eine zehn Monate alte Tochter und wohnte bei seinen Schwiegereltern. Als Bud nach Darwin versetzt wurde, weigerte sich mein Großvater, meine Mutter und meine Schwester mit ihm gehen zu lassen, und die Ehe zerbrach. Dass in dieser Zeit trotzdem immer wieder gute Laune im Haus herrschte, war einigen Kindern aus der Parallelstraße zu verdanken; ein neunjähriger Junge und seine 13-jährige Schwester kamen jeden Tag vorbei, um „Mr. und Mrs. Whit“ und das Baby zu besuchen. Dabei hatten die Kinder selbst eine Aufheiterung bitter nötig, denn erst kurz zuvor hatten sie ihre Mutter Susan verloren. Und so wuchsen unsere Familien zusammen. Dass es sich bei meinen Geschwistern genau genommen um Stiefbruder, Stiefschwester und Halbbruder handelt, hat mich nie interessiert, für mich waren sie einfach nur mein Bruder und meine Schwestern. Sie sind meine Familie, ganz einfach.

Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich nicht gerade in besten Verhältnissen aufwuchs. Während meiner Jugend wohnte meine Familie lange Zeit im Apartment 56 einer Siedlung in South Yarra, dem so genannten Horace Petty Estate. Hinter diesem ziemlich hochtrabenden Namen verbarg sich ein Haufen echter Bruchbuden. Ich selbst nannte unseren Block das Prahran Hilton, und bei meinen Freunden war unsere Wohnung als Club 56 bekannt. Die Siedlung bestand aus drei zwölfstöckigen Hochhäusern und etwa 30 vierstöckigen Wohnblöcken. Es handelte sich um Fertigbauten aus Beton, die man wie Kartenhäuser zusammengekloppt hatte. Im Sommer war es stinkend heiß, und im Winter fühlte man sich wie in einer gigantischen Kühlbox. An einem stickigen Dezembertag hatte man vielleicht Glück, und eine kühle Brise pfiff durch die Ritzen, aber sobald sich die Betonplatten abkühlten, zogen sie sich leicht zusammen und verkanteten sich. Dann gab es stets ein knackendes Geräusch, und gelegentlich traten Risse auf. Es war kein besonders beruhigendes Gefühl, wenn man oberhalb des Erdgeschosses wohnte.

In der Zeitung las ich einmal einen Artikel über die Projekte der Wohnungsbaugesellschaft, die für diese Siedlung verantwortlich war, illustriert mit einer Luftaufnahme des Hilton. Die Schlagzeile lautete: „Horace Petty Estate – ein Beispiel für verfehlte Sozialplanung“. Na großartig!

Für unsere Familie war der Umzug von Murrumbeena nach Prahran trotzdem ein großer Schritt. Das Haus in Murrumbeena war zwar nicht völlig verwahrlost, aber doch ziemlich renovierungsbedürftig, und selbst einfachen Komfort wie warmes Wasser, Teppiche oder eine Toilette im Haus gab es nicht. Allerdings war es billig, das war wohl der einzige Vorteil. John und ich teilten uns einen ausgebauten Wintergarten im ersten Stock, der auf die Murrumbeena Road und zum Bahnhof hinausging. Nachts wurde er von einer riesigen Leuchtreklame von Sennett’s Ice Cream erhellt, die von einem Vordach aus direkt in mein Fenster schien. Sie stellte einen Eisbären dar, und das Summen und Knistern der Neonröhren wiegte mich regelmäßig in den Schlaf.

Im Winter war es ziemlich passend, dass ein Eisbär vor meinem Zimmer lebte, denn dann war es im Haus so kalt wie am Nordpol. Ich lag eingemummelt in einem Schlafanzug, dicken Socken, Fußballhemd und Mütze unter den Decken und zitterte, während draußen der blöde Bär summte. In besonders kalten Nächten wachte ich manchmal auf, weil meine Beine unterhalb der Knie taub waren und meine Hände wie verrückt schmerzten.

Dann geriet meine Familie in Schwierigkeiten. Mein Vater hatte als Verkäufer in einem Möbelgeschäft auf der Chapel Street in Prahran gearbeitet, verlor aber seinen Job, weil er wegen Körperverletzung angezeigt worden war. Ein Polizist beklagte einen gebrochenen Arm, einen gebrochenen Kiefer sowie ein paar üble Bisswunden am Hintern. Zumindest an denen war allerdings nicht mein Dad schuld, sondern unser treuer Familienhund Chris.

Mein Bruder John hatte mit zwei Freunden vor der Milchbar nebenan herumgelungert (die, für die der Eisbär summend Werbung machte), und der Polizist hatte sie aufgefordert, woanders hinzugehen. Ein Wort gab das andere, und schließlich schlug der Bulle Johns Kopf gegen eine Mauer. In diesem Augenblick kam mein Vater mit Chris dazu; eine eher unglückliche Fügung für den übereifrigen Gesetzeshüter. Die Klatschtante der Nachbarschaft bekam das mit und machte später eine Aussage. Dad wurde festgenommen, und die ganze Story prangte schließlich auf der Titelseite der Melbourner Zeitungen. Als Sir Maurice Nathan, der Geschäftsführer des Prahraner Möbelladens, von der Sache Wind bekam, wurde Dad sofort vor die Tür gesetzt, weil er damit „ungeeignet für den täglichen Umgang mit Kunden“ war.

Mein Vater, John und seine beiden Freunde wurden alle wegen Körperverletzung vor Gericht gebracht – Chris, der Hund, kam davon. Auf den Rat eines gut betuchten Freundes hin engagierten wir Sir Frank Galbally, den besten Strafverteidiger der damaligen Zeit. Die vier wurden schuldig gesprochen, bekamen eine happige Geldstrafe aufgebrummt und zwei Jahre auf Bewährung. Die Verteidigung war noch dazu enorm teuer, aber glücklicherweise übernahm besagter Freund, der uns den Anwalt vermittelt hatte, die Kosten und zahlte auch die Strafe.

In dieser Zeit zogen wir um, ein paar Stadtteile weiter in den Norden. Unsere nagelneue Dreizimmerwohnung lag im vierten Stock eines Hauses ohne Fahrstuhl in South Yarra. Es gab aber nun endlich warmes Wasser und eine Heizung, und Dad besorgte Teppiche und neue Möbel, was uns das Gefühl gab, eine Sprosse auf der Gesellschaftsleiter emporgeklettert zu sein. Zum richtigen sozialen Aufstieg fehlte uns nur noch ein Telefon, aber zu einer solchen Anschaffung ließ Dad sich dann doch nicht bewegen. „Wer was von uns will, kann vorbeikommen und klopfen“, pflegte er zu sagen.

Außerdem lautete unsere Adresse nun South Yarra und nicht Prahran, und das war eine ziemlich große Sache. South Yarra war (und ist) eine ziemlich noble Gegend von Melbourne, aber unser neues Zuhause, der Horace Petty Estate, lag in ihrer äußersten und dreckigsten Ecke. Wenn man gefragt wurde, wo man wohnte, und dann South Yarra sagte, dann hielten einen die Leute zunächst mal für einen feinen Pinkel. Wenn sie dann allerdings kapierten, dass man in den Wohnsilos im Süden zu Hause war, wurde man doch schnell wieder als Ghettokind abgestempelt.

Ganz in der Nähe unserer neuen Wohnung lag ein Schwimmbad, das nach dem damaligen australischen Premierminister Harold Holt benannt war – auch eine etwas unglückliche Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass Holt 1967 im Meer baden ging und nie wieder an Land kam.

Als wir umzogen, beschloss ich, trotzdem auf meiner alten Schule zu bleiben, der Murrumbeena State School. Meine Eltern ließen mich gewähren; wenn ich bereit sei, jeden Morgen den langen Weg allein zurückzulegen, dann ginge das in Ordnung. Außerdem konnte ich jeden Morgen zusammen mit Dad bis zum Bahnhof gehen, und das war großartig, weil ich ihn für kurze Zeit für mich allein hatte und wir gute Gespräche führten. Leider ging das nicht allzu lange, weil es gesundheitlich mit ihm bergab ging. Er hatte zwar wieder einen Job gefunden, erst in der Nachtschicht beim Autozulieferer Repco, dann in der Möbelabteilung des Kaufhauses Foy in der Innenstadt, aber er musste die Arbeit schließlich aufgeben. Ich nahm morgens den Zug von Hawksburn Station, fuhr sechs Haltestellen weit und lief dann die Hobart Road hinunter zur Schule, die halbe fünfte und die ganze sechste Klasse lang. Die Zugfahrt hatte noch einen entscheidenden Vorteil. Ich freundete mich mit zwei hübschen Mädchen an, die etwas älter als ich waren, in Caulfield zur Schule gingen und auch in Hawksburn einstiegen. Sie bestanden immer darauf, dass ich mich zwischen sie setzte und bis Caulfield mit ihnen kuschelte, und ich leistete keinerlei Widerstand.

An der Murrumbeena State School ging es völlig anders zu als im Horace Petty Estate. Hier wurde nicht geflucht oder gespuckt, und es kam auch niemand auf den Gedanken, einen anderen zu treten oder zu schlagen. Nie wurde jemand aus dem Unterricht geschickt oder musste nachsitzen. Wir hatten sogar ein eigenes Schwimmbecken auf dem Gelände und zwei große Fußballfelder. Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können. So führte ich ein Doppelleben: ein geordnetes, diszipliniertes an der Murrumbeena State und ein chaotisches, wildes, darwinistisches im Prahran Hilton, in dem der vierte Stock meine einzige Rückzugsmöglichkeit darstellte.

Ich war ein durchschnittlicher Schüler, der weder durch besonders gute Leistungen auffiel noch besonders viel Ärger hatte. Football war mein großes Hobby, und ich spielte das ganze Jahr. Von der zweiten Klasse an wurden zehn Prozent der Schüler für ihre Leistungen mit einer Ehrenurkunde ausgezeichnet. In der zweiten, dritten und vierten Klasse war ich weit davon entfernt, dazuzugehören, und in der fünften und sechsten Klasse verpasste ich viele Unterrichtstage, weil ich bei der Betreuung meines Vaters half und daher oft zu Hause lernen musste. Tatsächlich verbesserten sich meine Noten dabei aber sogar, und ich bekam auch eine Ehrenurkunde. In der sechsten Klasse war ich sogar der drittbeste.

Rückblickend will ich gar nicht so viel Schlechtes übers Hilton sagen, aber man musste sich schon ein bisschen dran gewöhnen. Ich war zehn, als wir dort einzogen, und wir wohnten noch nicht lange dort, da wurde ich eine Woche lang jeden Abend aufgemischt, wenn ich vom Bahnhof Hawksburn durchs Viertel nach Hause ging. Ich wurde zwar nicht schwer verletzt, aber einige Male musste ich doch ins Alfred Hospital, um meine gebrochene Nase wieder richten oder ein paar Platzwunden nähen zu lassen. Es wurde allmählich zur Gewohnheit, bis mich mein Vater eines Tages zur Seite nahm und sagte: „Wie lange willst du dir das noch bieten lassen?“ Aus Spaß war ich schon ein paar Mal gegen meinen Vater oder meinen Bruder John in den Ring gestiegen; John war ein guter Boxer, der später ins Profilager wechselte und sogar Johnny Famechon, dem Weltmeister im Federgewicht, zehn Runden lang standhielt, um dann nach Punkten zu verlieren. Aber ich war kein Kämpfer.

Bei meinen Angreifern handelte es sich in der Regel um drei Jungen, zwei Brüder und ihren dicken Kumpel. Der war wirklich riesig und noch dazu ein paar Jahre älter, was eine große Rolle spielt, wenn man erst zehn ist und verdammt viel Angst hat. Er war an der Reihe, mir eine Abreibung zu verpassen, als wir uns das nächste Mal begegneten, aber da ich wesentlich kleiner und leichter war als er, konnte ich dem Dicken entwischen. Was für mich super war, für ihn aber nicht: Als ich mich aus dem Staub machte, drehten sich seine beiden sogenannten Freunde zu ihm um und fielen über ihn her. Es war gnadenlos. Komisch, ich konnte damit umgehen, dass ich selbst zusammengeschlagen wurde, aber dass sie ihren eigenen „Freund“ verprügelten, damit hatte ich ein Problem. Ich fuhr herum und brüllte, sie sollten das lassen, und natürlich bekam ich die klassische Antwort: „Kannst ja mal versuchen, uns daran zu hindern!“ Zögernd ging ich auf sie zu und sah, dass der Dicke schon am Boden lag. Er war komplett erledigt. Überall war Blut, er sabberte, und außerdem hatte er sich bepisst. Als ich näher kam, entdeckte ich, dass er sich auch noch in die Hosen geschissen hatte. Da lag er, völlig neben sich, heulte und wälzte sich in seiner eigenen Pisse und Kacke. Nicht gerade ein toller Tag für ihn.

Ich hatte keinen Plan und ehrlich gesagt selbst eine Scheißangst. Aber in mir kochte heiße, reine Wut, vielleicht zum allerersten Mal in meinem ganzen Leben. Ohne nachzudenken ließ ich meine Schultasche fallen und versetzte dem älteren der beiden Brüder einen richtig harten Schlag, den ersten richtig ernst gemeinten, den ich je ausgeteilt hatte. Und auch wenn das aus meinem eigenen Mund vielleicht blöd klingt, es war ein richtig guter Schlag, der ihn genau am Kinn erwischte. Er war vermutlich ebenso verblüfft wie ich, denn er kippte um, als hätte ich ihm einen Kricketschläger übergezogen. Noch heute sehe ich es vor mir, wie der Typ geradewegs nach hinten fiel – ich sah nur noch, wie seine Augen sich verdrehten, dann war er weg. Sein Bruder lief sofort davon und schrie: „Ich hole meinen Vater!“ Ich tat es ihm gleich und rannte die Treppe zu unserer Wohnung empor.

Dad war zu Hause; er war damals oft daheim, obwohl ich nicht genau wusste, weswegen. Mir fiel sein breites Lächeln auf, und ein Lächeln war damals bei ihm eine Seltenheit. Wahrscheinlich wusste er schon, was auf ihn zukam. Jedenfalls strubbelte mir mein Vater durchs Haar und sagte: „Guter Schlag, Kumpel.“ Ich hatte das Richtige getan, meinte er, indem ich mich für jemanden eingesetzt hatte, der in Schwierigkeiten steckte. Dad hatte mir vom Küchenfenster aus zugesehen und sich laut gewünscht, dass ich mich umdrehen und dem Dicken helfen würde. Es ist eine der intensivsten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe.

Heute ist es seltsam, wenn ich in den Spiegel gucke und feststelle, wie ähnlich ich ihm sehe. Es erfüllt mich mit Wärme. Ich weiß, dass ich genauso lächele wie er; meiner Schwester Laura steigen immer noch die Tränen in die Augen, wenn sie sieht, dass sich ein Grinsen über meine Lippen zieht. Ich habe seine leicht olivfarbene Haut geerbt; wir beide bräunen schon nach kurzer Zeit in der Sonne auf genau dieselbe Weise. „Du würdest schon braun werden, wenn du beim Schlafen das Licht anlässt, mein Sohn.“ Das kann ich ihn geradezu sagen hören. Und ich weiß auch heute noch, wie schön es sich anfühlte, wenn er mich in den Arm nahm, und wie toll es war, wenn er mich damit überraschte, dass er sagte: „Komm, lass die Schule heute mal sausen. Wir gehen an den Strand, nur wir beide.“ Als die Krankheit ihn allmählich aufzehrte, merkte ich schließlich, dass seine Umarmungen zwar an Kraft verloren, aber nie an Wärme.

Mein Vater war ein interessanter Typ. Er war ein harter Kerl – früher hatte er selbst geboxt, später trainierte er meinen Bruder. Gleichzeitig war er aber auch sehr sanft. Außerdem hatte er Freunde in den verschiedensten Kreisen, vor allem im Chinesenviertel der Stadt. Ich hatte sogar einen chinesischen Paten. Wenn wir zu den Spielen des FC Carlton gingen, dann kehrten wir auf dem Weg dorthin im ersten Pub zum Mittagessen ein, im nächsten auf ein Bier, und dann in noch einem und noch einem. Mich überraschte, wie freundlich die Leute überall waren, und dass wir offenbar nie irgendwo bezahlen mussten. „Da kommt Pat mit seinen Jungs! Was bekommst du, mein Junge?“ Ich entschied mich immer für rote Limonade und eine kleine Tüte Kartoffelchips.

Meine Mutter erzählte einmal von einer Begebenheit ganz am Anfang ihrer Beziehung, als sie mit meinem Dad unterwegs zu meinem späteren Paten war, der in der Canning Street in Nord-Melbourne lebte. Irgendwann merkte mein Vater, dass ihnen drei Männer folgten. Dad grüßte meinen Paten, der auf seiner Veranda saß, und rief ihm zu: „Wo geht’s denn hier zum Bahnhof, Meister? Wir haben uns verlaufen.“ Er bekam seine Information, umarmte meine Mutter, ließ etwas Schweres in ihre Manteltasche gleiten und verabschiedete sich mit einem kurzen „Bis nachher“, bevor er dann wirklich den Weg zum Bahnhof einschlug.

Dad ging um eine Ecke, und die Männer folgten ihm. Als er schließlich zurückkehrte, hatte er einige Schnitt- und Platzwunden abbekommen, aber er sagte zu meiner Mutter: „Wenn sie die Knarre in die Hände bekommen hätten, wäre das viel schlimmer ausgegangen.“

Offenbar änderte mein Vater sich dann aber grundlegend, nachdem ich auf der Welt war. Meine Mutter bekam einen schweren Nervenzusammenbruch, musste ein halbes Jahr in einer Klinik bleiben und wurde mit Elektroschocks behandelt. In dieser Zeit übernahm es mein Dad, sich um uns vier Kinder zu kümmern. Deswegen wurde er schließlich auch Möbelverkäufer in dem Geschäft in Prahran.

Leider habe ich meinen Vater nie so gut kennen gelernt, wie ich es mir gewünscht hätte, obwohl mich das, was er mir beibrachte, bis heute geprägt hat. Ich wusste, dass er sterben würde, denn vor allem im letzten halben Jahr seines Lebens wurde es unübersehbar, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen würden. Von daher war ich so gut auf seinen Tod vorbereitet, wie es eben ging. Ich fand es toll, wenn ich von der Schule nach Hause kam und ins Schlafzimmer meiner Eltern ging: mein Vater war bereits bettlägerig, und die einzige Farbe in seinem Gesicht war der Lippenstift meiner Mutter.

Dad lächelte mich an und sagte: „Deine Mutter konnte es mal wieder nicht lassen, Mark.“

Das bringt mich heute noch zum Lachen, obwohl er damals nicht einmal mehr die Kraft gehabt hätte, sich den Lippenstift wegzuwischen, selbst, wenn er gewollt hätte. Aber das war ganz typisch für meinen Vater. Er hatte ganz offensichtlich starke Schmerzen und versuchte, sich irgendwie mit dem bevorstehenden Tod abzufinden, aber er wollte noch immer einen Spaß mit mir teilen – natürlich auf Kosten meiner Mutter. Er war noch recht jung, ungefähr im selben Alter wie ich heute, und er wusste, dass er sterben würde. Aber er wollte trotzdem seinen Sohn zum Lachen bringen, und das in einer Situation, in der es verdammt wenig zu lachen gab.

Eines Nachmittags Ende März 1968 hatte ich zusammen mit meinem Kumpel Steven Kelly Football gespielt (er ist der Bruder meines Schwagers – gibt es für dieses Verwandtschaftsverhältnis eigentlich eine spezielle Bezeichnung?). Es war spät geworden, und als ich wieder zu unserem Haus zurückging, sah ich, dass mein Bruder mir entgegen kam. Ich wusste sofort: Jetzt ist es soweit. Mein Bruder war schon verheiratet und wohnte nicht mehr zu Hause, wieso sonst also würde er hier sein, noch dazu mit diesem Gesichtsausdruck? Es ging mit Dad zu Ende. Blindlings rannte ich an meinem Bruder vorbei und rein in unser Treppenhaus.

Mit Dad war es schon in den vergangenen vier Wochen abwärts gegangen. Er hatte immer mehr Schmerzmittel genommen und war deshalb oft auch gar nicht mehr ansprechbar, aber wir konnten noch ein bisschen reden, wenn die Wirkung des Morphiums nachließ und der Schmerz noch nicht wieder eingesetzt hatte. Ganz langsam ging er von dieser Welt, das wussten wir alle. Er versuchte sich zusammenzureißen, wenn Besuch kam, aber es war für alle schlimm. Wenn seine Freunde von ihren Gefühlen überwältigt wurden, rastete er aus. „Geh zum Heulen woanders hin – entweder, du erzählst mir was Lustiges, oder du haust ab“, raunzte er, wenn einem alten Freund die Tränen kamen.

Ich saß oft an seinem Bett. Er sah aus wie ein Skelett, über das noch Haut gespannt war, und er schien zu schrumpfen, aber er hatte noch immer sein typisches Lächeln, und manchmal hatten wir doch noch richtige Gespräche. Ich brachte meine ganzen Spielsachen an sein Bett und beschäftigte mich damit, reparierte meine Rennautos, während er eindöste, und wartete darauf, dass er wieder zu Bewusstsein kam. Wenn er sich dann wieder rührte, sagte er oft: „Verdammt noch mal, bist du immer noch hier?“

Der Rest der Familie versuchte mich vor der Krankheit abzuschirmen. Ich war erst zwölf Jahre alt, aber ich wollte unbedingt Zeit mit meinem Vater verbringen, ihm helfen, wenn ich konnte, und wenn auch nur dabei, ihn aufs Klo zu bringen und anschließend sauberzumachen. Als er schließlich nicht mehr laufen konnte und einen Rollstuhl brauchte, wusste ich, dass das Ende kam. In den letzten Wochen konnte ich ihn mit ein wenig Mühe aus dem Stuhl und auf die Toilette heben, und es war ein gutes Gefühl, dass ich zumindest etwas für ihn tun konnte, sein Kissen zurechtrücken oder ihm einen Eiswürfel zum Lutschen in den Mund stecken, Kleinigkeiten, damit er sich ein bisschen besser fühlte. Manchmal denke ich, dass man Kindern zuwenig zutraut, wenn es darum geht, Schicksalsschläge zu ertragen. Aus meiner Erfahrung würde ich sagen, dass sie erstaunlich gut in der Lage sind, mit schwierigen Umständen zurechtzukommen. Und davon mal abgesehen können junge Menschen allein durch ihre Ehrlichkeit ein wenig dringend benötigten frischen Wind in richtig beschissene Situationen bringen.

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9783854453697
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