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Stefanie Samida / Manfred K. H. Eggert

Archäologie als Naturwissenschaft? Eine Streitschrift

Reihe Pamphletliteratur, Bd. 5

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-223-8

Korrektorat: David Hönscher

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2017

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Zum Geist der Zeit

Archäologie – Was ist das?

Archäologie und Naturwissenschaften

Von Elementen und Genen

Von der Erbinformation zum Kosmos

Sonne, Mond und Sterne

Archäologie heute – Ein neuer Positivismus?

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zum Geist der Zeit

Unsere Streitschrift fällt in eine Zeit, die – so unser Eindruck – von einem gewissen Szientismus geprägt ist, der in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreicht. Dazu zählen etwa die Politik und die sie seit Jahren begleitende ‚Umfrageritis‘ beziehungsweise ‚Demoskopitis‘. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit den neuesten Umfragewerten zu sogenannten ‚Spitzenpolitikern‘, zur Stimmungslage der Nation oder zu neuesten ‚Sonntagsfragen‘ konfrontiert werden, mit denen man versucht, uns die aktuelle Lage im Land in Balken- und Kreisdiagrammen zu erklären. Gleiches gilt auch für ökonomische Prozesse: Wir vernehmen regelmäßig einmal im Monat die Nachrichten über die Entwicklung der Inflationsrate und mindestens einmal im Jahr die Daten zum Bruttoinlandsprodukt, die uns vermitteln sollen, wie gut oder wie schlecht es dem Land und seiner Bevölkerung geht. Und auch für die Wissenschaft kann man in den letzten zwei Jahrzehnten eine zunehmende szientistische Grundhaltung beobachten. Das Beispiel der Hirnforschung zeigt dies recht gut. In den letzten Jahren begegnet man vermehrt ‚Bindestrichwissenschaften‘ wie etwa ‚Neuro-Soziologie‘, ‚Neuro-Ökonomie‘ oder ‚Neuro-Didaktik‘. Die Hirnforschung dringt also in wissenschaftliche Felder der Kultur- und Sozialwissenschaften vor, deren genuiner Forschungsgegenstand nicht etwa das Gehirn des Menschen, sondern der Mensch in seiner Totalität als sozial lebendes Kulturwesen ist. Sie ‚erobert‘ aber nicht nur andere Fächer, sondern ist auch schon länger medial auf dem Vormarsch.

Erst kürzlich hat Felix Hasler, der mehrere Jahre lang an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der Halluzinogenforschung tätig war, mit seinem Buch „Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“ weit über die Wissenschaft hinaus für Aufsehen gesorgt. Er wendet sich darin gegen den aktuellen und allgegenwärtigen „Neuro-Hype“, der den „fundamental falschen Eindruck“ erwecke, die „Hirnforschung wisse genau Bescheid über die biologischen Vorgänge, die unserem Erleben, Denken und Handeln“ zugrunde lägen.1 Die „modernen Neuro-Mythen“ seien zwar in der gesellschaftlichen Wahrnehmung angekommen – nicht zuletzt, weil die auf den ersten Blick eingängigen, durch bildgebende Verfahren sichtbar gemachten „Neuro-Thesen“ recht anschaulich wirkten. Doch die hochtechnischen Messverfahren, die „fotoähnliche Abbildungen des Geistes bei der Arbeit“ generierten, seien äußerst „stör- und irrtumsanfällig“ und bedürften mehr denn je einer Deutung.2

Die im Folgenden behandelte Thematik ‚Archäologie und ‚Naturwissenschaft‘ birgt unserer Meinung nach ein weiteres Indiz für den wachsenden Szientismus – auch oder gerade in den Wissenschaften.

Archäologie – Was ist das?

In weiten Kreisen unserer Gesellschaft, der gern zitierten ‚Öffentlichkeit‘, erfreut sich die Archäologie einer großen Beliebtheit. Ausgrabungen faszinieren – denn mit dem Ausgraben wird meist die Auffindung von kostbaren oder zumindest sensationellen Objekten verbunden. Archäologinnen und Archäologen gelingt es offenkundig immer wieder, an unscheinbaren Orten, dort, wo niemand unter der Erde auch nur das Geringste von Interesse vermutet hätte, ungewöhnliche Dinge einer meist fernen Vergangenheit aufzuspüren und freizulegen – Dinge, die auch jenseits der Fachwelt große Aufmerksamkeit erregen.3 Nur wenige Wissenschaften können sich einer derart breiten Aufmerksamkeit erfreuen.

Der international renommierte amerikanische Archäologe Lewis R. Binford (1931–2011) hat einmal einen älteren Herrn bemüht, der ihm in einem Bus gegenübersaß, um das populäre Bild von Archäologie zu charakterisieren. Kaum hatte Binford ihm auf eine entsprechende Frage seinen Beruf genannt, geriet sein Gegenüber ins Schwärmen: „Das muss wunderbar sein. Da brauchen Sie nur Glück, und schon sind Sie ein gemachter Mann!“4 Atemberaubende Schätze sowie höchst befremdliche Sitten und Gebräuche unbekannter Kulturen, nicht nur in fernen Ländern, sondern auch in vertrauter Umgebung, heutzutage mit allen technischen Mitteln des Computerzeitalters aufgespürt, ausgegraben und analysiert – das ist ein verbreitetes Klischee. Aber was ist Binfords älterer Herr gegen Lara Croft aus der Computerspielserie und dem Kinofilm Tomb Raider oder gegen den in Filmen gefeierten Indiana Jones? Gar nichts, mag man getrost antworten. Denn auch bei Lara Croft und Indiana Jones geht es nicht zuletzt sehr wesentlich um Archäologie oder – was dafür herhalten muss.

Doch auch die Archäologie selbst trägt einen beträchtlichen Teil Schuld daran, dass sie mit Klischees überfrachtet ist. Schließlich werden die Ergebnisse von Ausgrabungen nach Jahren intensiver Forschung in großen Ausstellungen der Öffentlichkeit in medientechnischer Perfektion präsentiert. Viele, zu viele dieser Ausstellungen suchen das Spektakuläre, denn da sie teuer sind, spielen kommerzielle Gesichtspunkte von vornherein eine wichtige Rolle. Und spektakuläre Ausstellungen ziehen nun einmal entschieden mehr Besucher an als solche, bei denen weder Gold noch Schädelkult, weder Mumien noch Kannibalismus oder in Grubenringen gefundene klein gehackte Knochen von vielen hundert Menschen im Mittelpunkt stehen. „Die Welt der Kelten: Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst“, so lautete das Thema der jüngsten Landesausstellung in Baden-Württemberg (2012/13), und auch in diesem Titel stecken – so wenig sensationell er sich verglichen mit anderen Titeln archäologischer Ausstellungen gibt – doch alle entscheidenden Ingredienzen für einen Publikumserfolg: ein in Mitteleuropa und nicht zuletzt im südwestlichen und südlichen Deutschland in der populären Imagination sehr bekanntes ‚Volk‘ – dessen Welt, Machtzentren und natürlich dessen kostbare Kunst. Die Ausstellung wurde sechs Monate gezeigt und von 185 000 Besuchern gesehen; man darf daher zweifellos sagen, dass sie „mit vollem Erfolg“ zu Ende ging.5

Das Problem so mancher Ausstellungen liegt natürlich nicht darin, dass sie gezeigt werden – im Gegenteil. Es liegt vielmehr in der Tatsache, dass die Präsentation allzu häufig auf das Kostbare, Exotische sowie vor allem das den Werten unserer Kultur Entgegengesetzte, oft Grauenhafte und Abstoßende, auf jeden Fall aber auf das Unverständliche ausgerichtet erscheint. Nicht selten ist aber auch eine gegenläufige Tendenz leitend: So stellt man etwa die uns ja tatsächlich alles in allem völlig fremde ur- und frühgeschichtliche Welt nicht etwa kritisch und mehrdimensional dar, sondern präsentiert sie ahistorisch nach den Vorstellungen der Gegenwart. Überdies wird die Archäologie als Wissenschaft in den meisten Ausstellungen auf ihre uneingeschränkte Teilhabe an der Welt des High-Tech reduziert, und dabei bleibt nicht nur ihr historisch-kulturwissenschaftliches Anliegen, sondern auch ihr vergleichend-analogisches Verfahren der Erkenntnisgewinnung unterbelichtet.

Halten wir fest: In der öffentlichen Wahrnehmung wird Archäologie in erster Linie mit Ausgrabungen gleichgesetzt. Die nächste Ebene des gängigen Klischees von Archäologie wird dann allzu häufig in oft vielversprechenden und intensiv beworbenen Ausstellungen bedient, in denen die Ergebnisse der Ausgrabungen einem interessierten Publikum dargeboten werden.

Das Ausgrabungswesen gehört in vielen europäischen Ländern in den Bereich der staatlichen oder kommunalen Archäologischen Denkmalpflege – bisweilen auch ‚Bodendenkmalpflege‘ genannt. Unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit – es gibt zudem von Universitätsinstituten und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen betriebene Forschungsgrabungen – wird das Ausgrabungswesen in der modernen Archäologie oft mit dem Begriff ‚Feldarchäologie‘ belegt. An der Wiege der Feldarchäologie steht nicht etwa Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der ‚Ahnherr‘ der ursprünglich auf die antike Kunst ausgerichteten ‚Klassischen‘ Archäologie, sondern Heinrich Schliemann (1822– 1890). Schliemann, schwerreicher Kaufmann und archäologischer Autodidakt, hat nicht nur in Troia, sondern auch in Tiryns, Mykene, Orchomenos und Ithaka ausgegraben; er umschrieb seine Tätigkeit als „Forschung mit Spitzhacke und Spaten“.6 Daher überrascht es nicht, dass jenes bis heute populäre Wort von der Archäologie als ‚Wissenschaft des Spatens‘ ebenfalls auf ihn zurückgeht. Somit steht Schliemann an der Schwelle jener gerade angesprochenen immer noch weitverbreiteten Vorstellung, die Archäologie mit Ausgrabungen gleichsetzt. Er hat vor allem mit dem von ihm zitierten Spaten ein gewissermaßen ‚handfestes‘ Symbol der Archäologie geschaffen, das bis heute fortlebt. Spitzhacke und Spaten entsprachen damals durchaus dem Stand der Ausgrabungstechnik, während man heutzutage eher an Maurerkellen, Stukkateureisen, Pinzetten und Pinsel denken würde. Aber es geht um die Werkzeugmetaphorik als solche: Sie führt unterschwellig zur Reduktion einer Wissenschaft auf den wesentlich technischen Vorgang der Quellengewinnung. Wie abwegig der Schliemann’sche Begriff von der ‚Spatenwissenschaft‘ besonders angesichts der seit mehr als einhundert Jahren vollzogenen universitären Etablierung der ‚ausgrabenden‘ Archäologien ist, macht man sich am besten an Beispielen klar: Niemand käme auf die Idee, von einer ‚Wissenschaft des Mikroskops‘ oder einer ‚Wissenschaft des Skalpells‘ zu sprechen. Das auch heute noch scheinbar so handfeste und simple Ausgraben ist in der Praxis eine durchaus diffizile Aufgabe, deren erfolgreiche Durchführung großer Erfahrung und beträchtlicher Beobachtungsgabe bedarf.7 Die Institute für Archäologie an den Universitäten bieten regelmäßig Praktika an, in denen die Studierenden in die Feldarchäologie eingeführt werden. Außerdem gibt es Lehrbücher, die sich speziell der Ausgrabungstechnik und der Ausgrabungsmethodik widmen.8

Bisher haben wir so getan, als gäbe es ‚die‘ oder eine einzige Archäologie. Es wird höchste Zeit, diesen Eindruck zu korrigieren. Tatsächlich bestehen an deutschen Universitäten insgesamt sieben archäologische Einzelfächer, und dabei ist die Ägyptologie noch nicht mitgezählt: Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, Vorderasiatische Archäologie, Biblische Archäologie, Klassische Archäologie, Provinzialrömische Archäologie, Christliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters.9 Unsere Ausführungen betreffen zwar jedes einzelne dieser forschungsgeschichtlich und institutionell selbständigen Fächer, aber eben doch in unterschiedlichem Maße. Denn im Zentrum unseres Interesses steht die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie.

Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie oder Ur- und Frühgeschichtswissenschaft erforscht vor allem die nicht durch Schriftzeugnisse bezeugte Vergangenheit des Menschen seit den Australopithecinen Afrikas vor 4 Millionen Jahren. Auf die Urgeschichte folgt die Frühgeschichte, die nach konventionellem Verständnis mit den ersten schriftlichen Quellen einsetzt. Diese zunächst wenigen Schriftzeugnisse vermögen das aus den materiellen Hinterlassenschaften gewonnene Bild der Vergangenheit jedoch bestenfalls schlaglichtartig zu erhellen beziehungsweise zu ergänzen. Der Zuständigkeitsbereich der Ur- und Frühgeschichtsforschung endet, wenn die schriftliche Überlieferung zunehmend reicher zu fließen beginnt. Diese Zeit ist je nach Kontinent, Land und Region unterschiedlich anzusetzen. In Mitteleuropa beginnt sie mit der Herrschaft der Karolinger in der Mitte des 8. Jahrhunderts, im Inneren Kongobecken Zentralafrikas hingegen erst kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Alles, was vor dieser Zeit über den Menschen Auskunft zu geben vermag, sind zum einen dingliche Quellen, also Sachgut, und zum anderen Fundzusammenhänge. Auch sie haben sich materiell niedergeschlagen und sind in dieser oder jener Form erhalten geblieben. In der Archäologie spricht man statt von Sachgut meist von ‚Funden‘, während Fundzusammenhänge im Sinne von Fundkontexten oder Fundsituationen in der Regel mit dem Fachausdruck ‚Befunde‘ belegt werden.10

Jenseits aller forschungsgeschichtlichen Unterschiede und ihrem nach Zeit und Raum bestimmten Forschungsgegenstand weisen die archäologischen Einzelfächer einen gemeinsamen Bezugspunkt auf: Sie sind ausnahmslos historisch orientiert, empfinden sich traditionell als Geisteswissenschaften und verstehen sich heutzutage zunehmend als historisch ausgerichtete Kulturwissenschaften.11 Jedenfalls suchen sie ihren ‚disziplinären Ort‘ nicht in den Naturwissenschaften. So fühlen sich die Biblische und die Christliche Archäologie eng mit der Theologie verbunden – eine Tatsache, die sowohl historische als auch inhaltliche Gründe hat.

Allerdings könnten einem Zweifel kommen, wie es in dieser Hinsicht mit der Erforschung des Altpaläolithikums steht, also jenes Teils der Urgeschichte, der von etwa 800.000 bis 300.000 vor Heute datiert. Hier, wie überhaupt im Zusammenhang mit dem Paläolithikum – also der Altsteinzeit, die sich vom Altpaläolithikum über das anschließende Mittel-, Jung- und Endpaläolithikum bis etwa 12.000 vor Heute erstreckt – kooperiert die Urgeschichtliche oder Prähistorische Archäologie in einem hohen Maße mit Naturwissenschaften wie der Geologie, Geomorphologie und Physischen Anthropologie. Aber das ändert nichts daran, dass im Mittelpunkt des archäologischen Interesses hier ebenfalls der Mensch im Sinne des Homo sapiens und seiner Vorformen steht. Die Archäologie wird durch die Dimension des Kulturellen konstituiert – mit Arnold Gehlen ist der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen; daraus folgt, dass diese Dimension mit zunehmendem Zurückschreiten in der Stammesgeschichte des Menschen gegenüber dem Nichtkulturellen in den Hintergrund tritt.

Wenn somit selbst im Bereich der Erforschung der Älteren Altsteinzeit die Archäologie wesentlich ein historisch-kulturwissenschaftliches Fach bleibt, besagt das allerdings nichts über die Rolle der Naturwissenschaften in der Archäologie beziehungsweise in den archäologischen Einzelfächern.

Archäologie und Naturwissenschaften

Alle archäologischen Einzelfächer verstehen sich also als historisch ausgerichtete Geistes- oder Kulturwissenschaften. In der konkreten Forschung liefern dabei die Naturwissenschaften wichtige, wenngleich von Fach zu Fach unterschiedliche und von der aktuellen Fragestellung abhängige Beiträge. Wir haben bereits die Erforschung der Älteren Altsteinzeit (Altpaläolithikum) angesprochen, bei der verschiedene Naturwissenschaften eine besonders wichtige Rolle spielen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Archäologie als Historische Kulturwissenschaft einerseits und den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern andererseits.

Die Zusammenarbeit von Archäologie und Naturwissenschaften hat eine lange Tradition. Sie geht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Hier ist vor allem der dänische Archäologe Jens Jacob Asmussen Worsaae (1821–1885) zu erwähnen, dem die Entwicklung der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie auf verschiedenen Feldern sehr viel verdankt.12 Worsaae wurde 1848 als frisch ernannter „Inspektor für die Erhaltung der Denkmäler des Altertums“ einer Kommission zugeteilt, in der er sich mit dem Zoologen Japetus Steenstrup (1813–1897) und dem Geologen Johann Georg Forchhammer (1794–1865) mit Fragen der Landhebung und der Veränderung des Seespiegels beschäftigen sollte.13 Dabei wurde in Mejlgård auf der Halbinsel Djursland im östlichen Jütland ein riesiger Muschelhaufen (køkkenmødding, ‚Küchenabfallhaufen‘) entdeckt, der rund 725 m lang, 20–30 m breit und etwa 1 m mächtig war. Solche Muschelhaufen waren bereits zuvor bekannt, aber nunmehr richteten die drei Forscher ihr Interesse ganz auf die zahlreichen Steingeräte und Tierknochen sowie auf die gewaltigen Mengen an Muschelschalen des køkkenmødding von Mejlgård. Ihre Zusammenarbeit erstreckte sich über mehrere Jahre – sie stellte gewissermaßen das erste interdisziplinäre Forschungsvorhaben dieser Art dar. Daraus resultierte die Einsicht, dass es sich bei diesen Muschelschalen um die Nahrungsreste steinzeitlicher Jäger und Fischer handelte. Darüber hinaus konnte Worsaae anhand der darin geborgenen Steinartefakte eine Untergliederung der Steinzeit in zwei Perioden vornehmen, der dann 1865 Sir John Lubbock (später Lord Avebury, 1834–1913) eine dritte, jüngste, hinzufügte. Lubbock prägte die Begriffe ‚Paläolithikum‘ und ‚Neolithikum‘, während die mittlere, von Worsaae herausgearbeitete Periode heute ‚Mittel-‘ oder ‚Mittlere Steinzeit‘ genannt wird.

Ein solcher Rückblick in die Zeit vor mehr als 150 Jahren, als auch Dänemark noch weit von der Einrichtung einer hauptamtlichen Professor für Ur- und Frühgeschichte entfernt war, mag etwas weit hergeholt erscheinen. Aber wir müssen uns klarmachen, dass dänische Forscher vor allem seit Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) und dessen Erarbeitung des sogenannten ‚Dreiperiodensystems‘ – der Abfolge einer Stein-, Bronze- und Eisenzeit – eine herausragende Rolle bei der Entwicklung einer systematischen Ur- und Frühgeschichtsforschung spielten.14 Zu der auf Thomsen folgenden Generation gehörten Worsaae und andere bedeutende Archäologen wie etwa Sophus Müller (1846–1934).15 Insofern ist es bemerkenswert, dass bereits in dieser frühen Zeit einer sich mehr und mehr entfaltenden systematischen Erforschung der nationalen Ur- und Frühgeschichte eine aus heutiger Sicht interdisziplinär ausgerichtete Muschelhaufen-Untersuchung verwirklicht wurde.

Wenn wir an solchen frühen Forschungsprojekten die Anfänge der Zusammenarbeit von Archäologie und Naturwissenschaften festmachen können, ist die enge Verknüpfung der archäologischen Einzelfächer mit einem je nach Fragestellung wechselnden Spektrum von Naturwissenschaften heutzutage eine Selbstverständlichkeit.16 Das beginnt bereits im Bereich der Feldarchäologie mit der geophysikalischen Ortung und Erkundung von archäologisch verdächtigen Arealen – naturwissenschaftliche Prospektionsverfahren haben in den letzten drei Jahrzehnten eine rasante Entwicklung erlebt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen sind auch bei der Analyse ur- und frühgeschichtlicher Materialien, bei der Bestimmung, Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen wie etwa Kupfer, Zinn und Eisenerz von großer Bedeutung. Die Archäobotanik – gelegentlich auch ‚Paläoethnobotanik‘ genannt – und die Archäozoologie gehören zu den tragenden Säulen der Erforschung der ur- und frühgeschichtlichen Umwelt, während die Physische Anthropologie – heute meist als ‚Paläoanthropologie‘ bezeichnet – sich der Körperlichkeit der damaligen Menschen widmet. Das noch junge Forschungsgebiet der Paläogenetik wiederum, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt, sucht mit molekulargenetischen Methoden in der Erbsubstanz toter Organismen – konkret von Menschen und Tieren – unter anderem Hinweise auf genetische Verwandtschaft zwischen Individuen und Populationen herauszuarbeiten. Auch das biotische Geschlecht von Mensch und Tier lässt sich im Gegensatz zur osteologischen Ansprache molekulargenetisch eindeutig bestimmen. Hinzu treten biochemische Verfahren wie die Analyse stabiler Isotope, die bis zu einem gewissen Grade Auskunft über Ortsveränderungen während des Lebenszyklus der untersuchten Individuen zu geben vermag.

Vermittelt diese gedrängte Aufzählung naturwissenschaftlicher Untersuchungen in der Archäologie bereits einen hinreichenden Eindruck von ihrer Bedeutung, ist doch ein ganzes Spektrum von Methoden noch nicht genannt worden. Sie fallen in den Bereich der Altersbestimmung archäologischer Phänomene. Wir beschränken uns hier auf die Erwähnung der Radiokohlenstoff- oder 14C-Methode und der Dendrochronologie. Die RadiokohlenstoffMethode deckt über die Analyse kohlenstoffhaltigen Materials den Zeitraum von rund 300 bis 50.000 vor Heute ab. Die Dendrochronologie macht sich das außerhalb der Tropen saisonal gesteuerte und in Jahrringen niederschlagende Wachstum von Bäumen zunutze. Es führt im optimalen Fall zu jahrgenauen Datierungen und reicht bis etwa 12.000 vor Heute zurück.

Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die moderne Archäologie noch mehr zu betonen, als wir es hier getan haben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Da dies der aktuelle Stand ist, halten manche Archäologen – und wir sprechen ausdrücklich von Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologen – die Frage, ob ‚die‘ Archäologie denn nun als ein Fächerkomplex kultur- oder naturwissenschaftlicher Prägung anzusprechen sei, für nicht mehr zeitgemäß: für sie ist die Archäologie sowohl das eine wie das andere.17 Man könnte versucht sein, dieser Auffassung zu folgen, gäbe es nicht klare inhaltliche Gesichtspunkte, die zur Vorsicht mahnen. Dass wir in der Tat eine völlig entgegengesetzte Meinung vertreten, macht ja bereits der Titel unsere Streitschrift deutlich.

Bevor wir unser Argument genügend breit entwickeln, möchten wir als eine Art ‚Binsenweisheit‘ zunächst die grundsätzliche Situation festhalten, um die es hier geht. Niemand wird vermutlich bestreiten wollen, dass alle archäologischen Einzelfächer ausnahmslos historische oder kulturhistorische Fragestellungen verfolgen. So ist auch bei der Erforschung des Altpaläolithikums nicht die Analyse der physischen Beschaffenheit der damaligen Früh- oder Altmenschen von zentralem Interesse – wobei deren Bedeutung im Zusammenhang der stammesgeschichtlichen Entwicklung keineswegs negiert wird –, sondern die ihres Kulturverhaltens und seines materiellen Niederschlags. Mit anderen Worten, wie groß der Beitrag bestimmter Naturwissenschaften für die Lösung solcher Probleme auch sein mag, die ‚Sinnstiftung‘ erfolgt in jedem Fall durch die von der Archäologie vorgegebene kulturhistorische Fragestellung.18

Beschäftigt man sich mit der Thematik ‚Archäologie und Naturwissenschaften‘, wird einem schnell die besondere Art und Weise klar, wie sich die Wissenschaften, die im Rahmen einer vorgegebenen Fragestellung zusammenarbeiten, gegenseitig wahrnehmen. Auch heute ist es gelegentlich noch üblich, jene Wissenschaft, die zu den Erkenntnissen des eigenen Faches etwas beizutragen vermag, zwar als durchaus nützlich, aber eben doch – zumindest insgeheim – als letztlich ungleichwertig zu betrachten. Wir urteilen hier aus der Sicht der Ur- und Frühgeschichtsforschung, in der dieses Bild von der naturwissenschaftlichen ‚Hilfswissenschaft‘ eine lange Tradition hat.19 Wir haben Grund zu der Annahme, dass dies in einigen anderen Einzelarchäologien sogar ausgeprägter ist. Man muss allerdings einräumen, dass die Bedingungen, unter denen solche Kooperationen meist konkret stattfanden, vor allem in der Vergangenheit auch in unserem Fach nur allzu häufig dieses Verständnis förderten. Wir werden später darauf zurückkommen haben, ob und gegebenenfalls inwieweit sich dies heutzutage geändert hat.

Der Grund für die umrissene gegenseitige Wahrnehmung von Archäologie und Naturwissenschaft hängt durchaus nicht nur mit einer Überschätzung der eigenen Bedeutung zusammen. Auch das mag zwar dazu beigetragen haben, aber aus Sicht der Archäologie beruht der den Naturwissenschaften informell zugewiesene nachrangige Status auf dem Charakter der sogenannten ‚Zusammenarbeit‘: Die Naturwissenschaften haben nur vereinzelt mehr als lediglich ‚Hilfsdienste‘ für archäologische Fragestellungen geleistet – zu wirklichen Kooperationen kam es selten. Diese Tatsache lässt sich mit ungezählten archäologischen Veröffentlichungen belegen, an denen zwar Naturwissenschaftler beteiligt waren, ohne dass es dabei jedoch zu einer Synthese der erzielten archäologischen und naturwissenschaftlichen Resultate gekommen wäre. Vielmehr wurden die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in einem Anhang vorgestellt und erörtert; eine von beiden Seiten getragene Integration kam unter solchen Umständen nicht zustande – erst die in der Wissenschaft wohlbekannte ‚Buchbindersynthese‘ verhalf dem Ganzen zu einem wenngleich nur äußeren Zusammenhalt.20

Das meist unterschwellig vorhandene Konzept ‚Hilfswissenschaft‘ betrifft vom Standpunkt der Archäologie aus keineswegs allein die Naturwissenschaften, sondern gilt ebenso für alle anderen Fächer, mit denen sie bei bestimmten Fragestellungen kooperiert. Hier seien beispielhaft die Alte und die Mittelalterliche Geschichte, die Landes- und die Kirchengeschichte sowie die Religionswissenschaft und die Ethnologie genannt. Nur wenn man den Kooperationspartner – welches Fach es auch immer sein mag – als Nachbarwissenschaft betrachtet, wird das gemeinsame Vorhaben erfolgreich sein. Jedenfalls wäre damit die Grundlage geschaffen, auf der das zwar durchaus fachspezifische, aber eben aufeinander abgestimmte Forschen stattfinden könnte.

Aber nicht nur das. Darüber hinaus ist es notwendig, sich bereits in der Planungsphase zusammenzusetzen, das gemeinsame Projekt auszuloten und die Vorgehensweise abzusprechen. Das trifft für die Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Fächern in einem verstärkten Maß zu. Denn sie bilden ja nicht nur von ihrem Forschungsgegenstand, sondern auch von ihrer gesamten Methodik her einen gewissen Gegenpol zur Archäologie.Deswegen muss es von Anbeginn darum gehen, die Fragestellungen und Lösungsmöglichkeiten im Einzelnen zu umreißen und über Mittel und Wege nachzudenken, um im vorgegebenen zeitlichen und finanziellen Rahmen zu guten Ergebnissen zu kommen. Dieser Dialog ist jedoch keineswegs beendet, wenn diese Phase abgeschlossen ist und das eigentliche fachspezifische Forschen beginnt. Er sollte vielmehr ständig weitergeführt werden, da nur so die sich mit dem Fortschreiten der Forschung verändernde Erkenntnislage angemessen beurteilt werden kann. Nur dadurch sind eventuell notwendig werdende Anpassungen der Vorgehensweise rechtzeitig umzusetzen. Es kommt hinzu, dass erst durch einen solchen möglichst kontinuierlichen und institutionalisierten Meinungsaustausch die jeweils andere Seite das Potential, aber auch die Schwächen des Partners in Bezug auf das gemeinsame Projekt einzuschätzen lernt. Beides ist wichtig, damit das Vorhaben gelingt.

Wir haben unsere Auffassung bisher auf einer völlig abstrakten Ebene dargelegt und sie in eine neutrale Sprache gekleidet. Dies ist in einem bestimmten Umfang sicherlich grundsätzlich richtig, stößt aber doch früher oder später auf gewisse Grenzen, die hier gewählte Thematik angemessen zu vermitteln. Dieser Punkt erscheint inzwischen erreicht und nunmehr wäre es an der Zeit, auf der Grundlage von Beispielen weiter zu argumentieren. Zuvor aber möchten wir noch einen anderen Aspekt ansprechen, der eng mit unseren bisherigen Ausführungen zusammenhängt. Dabei handelt es sich um die herausragende Bedeutung, die man den Begriffen ‚disziplinär‘, ‚multidisziplinär‘, ‚interdisziplinär‘ und ‚transdisziplinär‘ in der gegenwärtigen Wissenschaft beimisst. Diese Begriffe werden in der Archäologie meist synonym und damit undifferenziert verwendet.21 Dabei unterscheiden sich die so bezeichneten Forschungsverfahren erheblich.22

Die Differenzierung der Forschungsansätze ‚Disziplinarität‘, ‚Multidisziplinarität‘, ‚Interdisziplinarität‘ sowie ‚Transdisziplinarität‘ wird durch drei Kriterien bestimmt: (1) die Zahl der am Forschungsprozess beteiligten Disziplinen – eine oder mehrere? (2) die Strukturierung der Zusammenarbeit der beteiligten Disziplinen; (3) den Integrationsgrad der beteiligten Disziplinen. Der Begriff ‚Disziplinarität‘ bezieht sich auf einen ausschließlich fachbezogenen Forschungsprozess; etwa wenn eine bestimmte Fragestellung allein von der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie bearbeitet wird. Als ‚multidisziplinär‘ bezeichnet man hingegen eine Forschung, bei der zwar mehrere Disziplinen oder Fächer an einer gemeinsamen Fragestellung arbeiten, sich dabei aber ihrer jeweils eigenen Methoden bedienen. Es handelt sich also in der Regel um parallel laufende Forschungen und nicht um eine intensive inhaltliche Zusammenarbeit. Impulse aus den jeweils anderen Wissenschaften werden dabei nur punktuell aufgenommen. Von ‚interdisziplinärer‘ Forschung spricht man, wenn mindestens zwei Disziplinen gemeinsam eine Fragestellung verfolgen. Anders als multidisziplinäre Forschung setzt interdisziplinäres Arbeiten einen beträchtlichen Integrationswillen voraus. Damit ist ein kontinuierlicher Aufwand an methodischer sowie vor allem auch inhaltlicher Abstimmung verbunden. Daneben verlangen pragmatische Aspekte wie die Koordinierung und Optimierung des Forschungsprozesses nicht nur Zeit, sondern zudem die Fähigkeit, eigene Fachinteressen hinter das Gemeinsame zurücktreten zu lassen. Die Termini ‚Interdisziplinarität‘ und ‚Transdisziplinarität‘ werden in der Forschung uneinheitlich verwendet. Entgegen der Tendenz, sie als synonym zu betrachten, sollten sie auf der analytischen Ebene unterschieden werden. Transdisziplinäre Forschung vollzieht sich meist in außeruniversitären Forschungszentren, zum Beispiel in den Forschungsabteilungen der Industrie. Sie orientiert sich wesentlich an wirtschaftlichen und politischen Zielen und geht häufig mit einer gewissen Aufweichung der disziplinären Außengrenzen einher. Dabei entstehen gelegentlich neue Fächer – so etwa die Biochemie und die Molekularbiologie. Das durch Transdisziplinarität produzierte Wissen kommt in aller Regel erst durch Methoden zustande, die im Zuge der gemeinsamen Forschung entwickelt worden sind. Daher sollte die Archäologie unseres Erachtens eine interdisziplinäre Zusammenarbeit sowohl mit den Natur- als auch mit den Kulturwissenschaften anstreben.

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