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Manfred J. Reichard

Auf der Suche nach dem idealen Ort

ROMAN

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Katharsis

Der Einzug ins Paradies

Die Vorstellung

new life, new style, new wave

On the road - to Joseph Beuys

Das Straßencafé

Die Vision des 6. Novembers 2007

Raum – Liebe – Glück

Drug-Store

Postillon d’Amour

Die Flucht

Das Ar-Bytes-Zimmer

Tristan spielt Neunzehn und Eins

Disco

Carne Vale

Der Kreis schließt sich

Anmerkung zum Schluss:

Impressum neobooks

Katharsis

Es gibt nur 2 Orte, an die ein Mensch gehören kann: der eine ist die Familie, der andere ist die ganze Welt. (Victor Hugo, Les Misérables, 1862)

Du bist von der Menschenart, die sich leicht an einen Ort, nicht leicht an eine Bestimmung gewöhnen. Allen solchen wird die unstäte Lebensart vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern Lebensweise gelangen. (Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821)

Anmerkung:

Der Protagonist dieses Romans ist sich nur in den seltensten Fällen bewusst, dass er sich in diesem Reinigungsprozess befindet. Der Leser sollte sich aber von Zeit zu Zeit darüber im Klaren sein, dass es im Leben des Protagonisten letztendlich nur um diesen Prozess geht.

Der Einzug ins Paradies

Wenn man ihn fragte, sagte er immer, er wohne in Kreuzberg, allein schon, um den erstaunten, ehrfurchtsvollen Blick zu sehen und das „Ah…!“ zu hören, das in seinen Ohren so klang, wie es Menschen aussprechen, die etwas bewundernd zustimmen, das sie nur vage oder vom Hörensagen kennen. Es war immer dasselbe, ob in Berlin oder in weiter Ferne. „Wo wohnst du denn?“ „In Berlin.“ „Und wo da?“ „In Kreuzberg!“ „Ah…!“.

Dabei war das gelogen. Er wohnte in Neukölln. Allerdings in dem Teil Neuköllns, das man heute Kreuzkölln nennt, und das mittlerweile dieselbe Bewunderung hervorruft. Damals allerdings war das eine ziemlich beschissene Gegend. Herunter gekommene Altbauten mit Kachelöfen in den Zimmern, die im Winter einen üblen Gestank verbreiteten und Autowracks am Straßenrand, die mit der Zeit immer skurriler ausschauten, weil der eine oder andere irgend was abschraubte, das er gebrauchen konnte.

Allerdings gab es in diesem tristen Umfeld eine kleine Oase, die man auf den ersten Blick nicht erkannte. Man musste durch die Toreinfahrt eines unscheinbaren, grau verputzten Hauses gehen und dann sah man sie. Eine alte Hinterhoffabrik, Klinkerbau, mit großen Bogenfenstern. Jede Etage, ja sogar fast jedes Fenster schien in einem anderen Licht, durch jedes geöffnete Fenster klang ein anderes Geräusch, lautes Diskutieren, verschiedene Klänge, von Janis Joplin, über Freejazz bis zu aktuellen Hit der B52th.

Als er damals zum ersten mal hindurchschritt, und dann durch die zweite Toreinfahrt gelangte, stand er in diesem Innenhof mit zwei Treppenaufgängen und einem offenen Lastenaufzug, umgeben von den buntesten Fenstern, die ein Leben ausstrahlten, das man von gelassen bis aufregend beschreiben konnte, und er wusste sofort, das ist der Ort, an dem er sein möchte und an dem er auch sein wird.

Er trat in das erste Treppenhaus ein, sah an einem der 5 Briefkästen mit jeweils 5 bis 8 Namen denjenigen, auf dessen Anzeige er geantwortet hatte.

Die Tür im dritten Stock hatte keine Klingel, also klopfte er. Es wurde geöffnet, „Na, komm rein.“ Nachdem er sich durch einen sehr schweren Filzvorhang zwängen musste, stand er in einem riesigen Raum mit dem sehr strapazierten aber unverwüstlichen emaillierten Steinfußboden, zwei gusseisernen Säulen, die mit kleinen Kapitellen in eisernen Dachträgern endeten, zwischen denen sich die himmelblau gestrichene Gewölbedecke erstreckte.

Am großen WG-Tisch saßen die Bewohner, offenen Blicks, neugierig, freundlich. Er erzählte seine Geschichte, dass er sich von seiner Ehefrau trenne, dass es im guten Einvernehmen geschieht, dass beide versuchen, einen passenden Platz in einer WG zu finden, und wer als erster etwas findet, das ihm gefällt, zieht aus, und der andere bleibt in der Wohnung. Das gefiel den Bewohnern schon mal. Dann wurde ihm die Fabriketage gezeigt. Die große Fabrikhalle war in sieben Zimmer unterteilt, die teils mit den alten verglasten Holzwänden abgegrenzt waren, Zimmer, die früher die Meisterbuden beherbergten, und teils mit Ytong Steinen ummauert waren. Ein solches Zimmer mit 2 großen Fenstern war für ihn oder seinen Konkurrenten vorgesehen. Über das hintere Zimmer gelangte man zum Lastenaufzug und zu der zweiten WG auf dieser Etage.

Man unterbreitete ihm nun das weitere Vorgehen. In der nächsten Woche wird ein gemeinsames Essen stattfinden, zu dessen Vorbereitung alle WG-Mitglieder und die Aspiranten mitwirken. Danach wird entschieden, wer genommen wird.

Beim Hinausgehen, schon fast an der Tür, rief Christian ihm noch zu, „Hey, sind die Haare echt so?“ Er trug damals die Haare in sogenannten Minipli Locken, die lange Zeit sehr verpönt waren, heute aber wieder Zuspruch finden, nachdem Rihanna sich in diesen Locken via Twitter postete, bis auf die Schultern. Er antwortete nur „Nee“, „Gut so“.

Es war ein ziemliches Gewusel in dem großen Gemeinschaftsraum. Christian, Beate und Susanne hatten jede Menge Gemüse eingekauft. Christian öffnete erst mal eine Flasche Sekt, und alle stießen mit ihm, seiner Freundin Sarah und Tobias, seinem vermeintlichen Konkurrenten an.

Er hatte Sarah aus einem spontanen Entschluss mitgenommen. Sie sah wirklich so aus, wie man sich eine Sarah vorstellt. Das hatte den einfachen Grund, dass sie sich den Namen selbst gegeben hatte und eigentlich Mechthild hieß.

Sara, Sara,

Scorpio Sphinx in a calico dress

Sara, Sara,

You must forgive me my unworthiness.

Bob Dylan, Desire, 1976, 5:30

Sarah lernte er im Dezember im Spectrum kennen, einem Kneipenkollektiv im Mehringhof, das als Anlaufstelle für alle Demos und Hausbesetzungen diente, die zu der Zeit in vollem Gange waren. Sarah hatte eine stark ausgeprägte Hakennase, was ihr etwas „zigeunerisches“ verlieh. Damals konnte man diese Bezeichnung noch sagen, ohne sofort auf das heftigste angemacht zu werden. Sie kiffte gern und trank gerne Rotwein, was genau auch seine Richtung war. Sie gingen gleich am ersten Abend noch im Tiergarten im Schnee spazieren, legten sich nebeneinander mit dem Rücken in den Schnee, machten mit Armen und Beinen solche Wischbewegungen, dass es aussah, als sie es danach von oben betrachteten, wie zwei Engel im Gewand und mit Flügeln. Danach landeten sie gleich bei ihr, in einer sehr kleinen dunklen Wohnung, vollgestellt mit zig Eulenfiguren in allen erdenklichen Formen, Materialien und Größen. Sie hatte die Angewohnheit, beim Sex lauter kleine Wimmer- und Seufzertöne von sich zu geben, was ihn tierisch anmachte. Sie waren beide vom ersten Augenblick an heftig ineinander verknallt.

Während er die Karotten schälte und in Scheiben schnitt, antwortete er bereitwillig auf Susannes Fragen. Ja, er hat einen Job, als Ingenieur bei Siemens, und das schon seit acht Jahren. Das hörte Christian, der die Unterhaltung mit Tim führte, „ dann wäre ich wenigstens morgen nicht der Einzige, der so früh raus muss, ich arbeite als freier Mitarbeiter beim Spandauer Volksblatt.“ „Ok, aber ich bin morgens ziemlich maulfaul. Will nur in Ruhe meine Zeitung lesen“ „Genauso ähnlich habe ich mir das vorgestellt“ Die Unterhaltung ging hin und her, jeder redete mal mit jedem. Das Essen gelang, man saß noch gemütlich in der Runde, aber nach zwei Stunden wurden sie dann freundlich aber bestimmt verabschiedet. Man würde sich dann morgen melden.

Zu einer Zeit, als es noch keine Handys gab, war der folgende Tag ein Martyrium für ihn. Er saß immer in Reichweite des Telefons, das auf einer Anrichte im Flur stand. Endlich dann das Läuten. Beate eröffnete ihm, er soll am Abend noch mal vorbeikommen, aber bitte ohne Sarah.

Susanne eröffnete sofort das Gespräch. Bei der ersten Vorstellung war sie die einzige, die gegen ihn gestimmt hatte. Er hatte so eine für sie unerträgliche Machoart in seiner abgewetzten Lederjacke. Sein Auftreten war sehr dominant, und sie hatte das Gefühl, dass er wenig gemeinschaftsfähig sei, aber gestern hat sie dann ihre Meinung geändert. Sie war sehr eingenommen von der Art und Weise, wie er mit Sarah umging, und sie hatte das Gefühl, dass Sarah die Hosen anhatte, und ihn das in keiner Weise stören würde. Er sei also einstimmig angenommen.

Schon am darauffolgenden Wochenende erfüllte sich ein sehr lang gehegter Wunsch. Er hatte allen Ballast hinter sich gelassen, all die überflüssigen und bürgerlichen Möbel und Gegenstände. Alles, was er nun besaß passte in einen Ford Transit.

Am Samstag, den 10. Januar 1981 hielt er, Tristan Riemenschneider, Ingenieur bei Siemens, 32 Jahre, 2 Monate und 23 Tage alt, Einzug ins Paradies.

Die Vorstellung

Christian war sichtlich genervt. Den ganzen Tag gaben sich die Typen im Stundentakt die Klinke in die Hand. Nun war es 20 Uhr. Der letzte Aspirant klopfte zögerlich an die Tür. Wie soll das jemand hören, wenn Alle auf ihren Zimmern sind. Die haben alle keine Ahnung. Er erhob sich schwerfällig und öffnete die Tür.

Vor ihm stand ein Typ, 501er Levis, schwarzer Rollkragenpullover, total verschlissene, alte Lederjacke, aber das schlimmste war der Kopf. Der Typ trug einen dünnen Schnurrbart und die Haare mit fürchterlich kleinen Locken. Da musste er ihn nachher mal drauf ansprechen. Außerdem trug er am linken Ohr einen Ohrring, eigentlich war es mehr ein Gehänge mit vielen kleinen bunten Glaskügelchen, die fast bis an die Schulter reichten, wahrscheinlich aus einem dieser billigen India-Läden. Das machte Christian immer schmerzlich bewusst, dass er seinen Ohrring, der eigentlich nur ein kleiner Silberknopf war, irrtümlicherweise am rechten Ohr trug, was gemeinhin als die schwule Seite galt. Aber er ertrug das mittlerweile mit stoischer Miene und stellte Gelassenheit zur Schau.

Was eines von Christians Lieblingsthemen war, sprach er ziemlich bald an. „Wir sind hier zwar ganz gut an die U-Bahn angeschlossen, aber hast du auch einen fahrbaren Untersatz?“ Das war genau das Thema, über das Tristan so richtig ins Schwärmen kommen konnte, und es turnte ihn so richtig an, weil er sofort spürte, dass sein Gegenüber gleich genau so begeistert sein würde. „ Ich fahre eine DS, eigentlich ist es ein ID19, aber die wenigsten wissen, dass das nur die abgespeckte Version der DS ist, ohne Halbautomatik und Bremsknopf“ Es war trotzdem seine Déesse, seine Göttin, und wenn er hinterm Steuer saß, fühlte er sich wie im 7. Himmel.

Christians Gesicht hellte sich auf. „Stimmt es, dass es für dieses Auto gar keinen Wagenheber gibt?“ „Richtig, Du fährst die Karosserie hydropneumatisch ganz nach oben, klemmst einen Stab unter die Karosse und fährst sie dann ganz nach unten. Da das jetzt aber nicht mehr geht, hebt sich das betreffende Rad nach oben, und du kannst es ganz bequem wechseln“ „Wahnsinn“ „Als der Wagen 1955 als Nachfolger des Traction Avant, der sogenannten Gangsterlimousine herauskam, sagten alle, dass dieses Auto viel zu futuristisch sei. Citroën antwortete, dass die DS von Heute ist. Alle anderen sind von Gestern!“ Diesen Spruch sagt Tristan besonders gern, denn er rief immer wieder zustimmendes Nicken hervor.

„Ich habe aber auch gerade den Einser gemacht, und im Hof steht schon meine XT. Die soll mit ihrem Stollenprofil gut wintertauglich sein. Werde versuchen, jetzt auch mit ihr zur Arbeit zu fahren.“ Das war der 2. Fisch am Haken. Die XT war eine Yamaha XT 500, ein neuartiger Motorradtyp, der sich Enduro nannte, im Grunde eine Moto Cross-Maschine, die durch ihre Leistungsstärke und Robustheit auch für längere Reisen mit Gepäck geeignet war. Unter Kennern nannte man dieses „Moped“ auch einen halben Liter Eintopf, weil der Motor aus einem einzigen Zylinder mit 500 ccm bestand. Außerdem hatte sie nur einen Kickstarter. Man musste mit Hilfe eines Ventilanhebers den Kolben in den oberen Totpunkt schieben, damit man mit einem einzigen Kick den Motor anwerfen konnte. Wer das nicht wusste, und das hat Tristan des öfteren auf gemeine Art geschehen lassen, wurde von dem Rückschlag des Kickstarters regelrecht in die Luft katapultiert.

Christian geriet fast aus dem Häuschen. „Da musst du mich unbedingt mal mitnehmen. Wir haben viele Motorradfahrer hier in der Fabrik. Da kann ich mir einen Helm ausleihen“

Die Sache war gelaufen. Christian nahm seinen Stift und setzte Tristans Namen ganz nach oben auf die Liste der Aspiranten. So kam es, dass Tristan eingeladen wurde, und dass Christian und Tristan im Herbst 1982 auf der XT zur documenta 7 nach Kassel fuhren und dort, erschöpft von den höllischen Vibrationen der XT, aber selig glücklich bei herrlichem Sonnenschein neben Joseph Beuys auf den Basaltstelen vor dem Fridericianum saßen. Aber das ist eine andere Geschichte.

new life, new style, new wave

Es war für ihn ein Umbruch auf allen Ebenen. Er kam aus einer gescheiterten Ehe, und das Umfeld war recht spießbürgerlich. Man hatte sich mit anderen Paaren getroffen, auf ein Glas Wein, oder, wenn es festlich wurde, zum Fondue. Die 3-Zimmer-Altbauwohnung war in warmen Holztönen eingerichtet, und die Küche mit einer Weinrankentapete und gemütlichem Korblampenschirm ausgestattet. Der 1. Schritt zu einem Umbruch war, dass sie die Wohnung von der klassischen Wohnzimmer-Schlafzimmer-Küche-Aufteilung in jeweils einen Raum für ihn und einen Raum für sie und einem Gemeinschaftsraum umräumte.

Das Ganze bekam dann irgendwann ein Eigenleben. Jeder orientierte sich zusätzlich außerhalb, was dazu führte, dass man zum Frühstück entweder allein, zu zweit, zu dritt oder zu viert saß, wobei die Drei als Zahl die Unerquicklichste waren.

Nun lebte er in einem halb offenen Raum in dieser Fabrikhalle, um den nur eine ein Meter achtzig hohe Ytong Mauer stand, damit der Bewohner des letzten Raums an seinem Zimmer vorbei kam. Am ersten Abend kamen alle seine Mitbewohner in sein Zimmer, um seinen Einzug zu feiern, bei Sekt und jede Menge Joints begutachteten diese seine Einrichtung: Ein selbstgebautes Hochbett, eine alte Glasvitrine, eine Matratze und eine Braun Stereoanlage mit seiner legendären Tonbandmaschine TG 1000. Sie würde demnächst nur noch dazu dienen, nachts beim BFBS die neuesten Punk- und New Wave Hits bei John Peels Music aufzunehmen.

Später kamen noch andere Bewohner aus der Fabrik hinzu. Das Zimmer war rappeldicke voll, laut, verraucht. Alle redeten durcheinander. Er war glücklich, er war angekommen.

Eine Woche später ging er zum Friseur und kam mit einer extra kurzen Stoppelfrisur wieder heraus, auch der Schnurrbart war ab. Kalle aus der Nachbar-WG fragte ihn eine Woche später, wo denn der Typ mit den langen Haaren sei, ob er schon wieder ausgezogen wäre. „Mensch Kalle, ich bin’s, Tristan, kennst du mich nicht wieder?“ Erst da erkannte er ihn. Die Wandlung war perfekt. Der neue Lebensabschnitt konnte beginnen.

Die erste gemeinsame Aktion war die Neugestaltung der gesamten Wohnung, Sie waren die einzigen in der ganzen Fabrik, die New Wave und Punk hörten, in allen anderen Etagen saß man noch auf plüschiges Sofas und hörte the Mamas and the Papas. Sie kauften jede Menge weiße Farbe und Neonröhren und strichen alles, was nur zu streichen war in blendendem Weiß. Die normalen Lampen flogen raus und wurden durch Neonlampen ersetzt. Das Ganze endete in einem Happening, wonach sie auch alle weiß waren. Das sprach sich natürlich rum, und in den folgenden Tagen waren sie zur Besichtigung freigegeben. Die meisten fanden es kahl, kalt, ungemütlich. Die Bewohner aber fanden es toll und fühlten sich genau im richtigen Zeitgeist. Sie waren nun die Exoten in der Fabrik.

Susanne aus der WG war Filmerin. Sie hatte ihre ersten Kurzfilme bei der Filmhochschule München gedreht und arbeitete nun als Regieassistentin in einigen deutschen und französischen Filmen. So kam es, dass die gesamte WG als Komparsen bei „Frau Jenny Treibel“ und „Die Spaziergängerin von Sans-Sousi“ dabei war.

Ende Oktober trat Tristan für drei Tage bei den Dreharbeiten zu der „Spaziergängerin“ als Komparse auf. Er fuhr morgens auf seiner XT zu den Filmstudios von CCC in Spandau. Am ersten Tag sollte er um 13 Uhr anwesend sein. Er wurde eingekleidet und geschminkt und schaute dann nur den Dreharbeiten zu. Um 18 Uhr hatte er dann eine kleine Szene: Ein Animiermädchen zog ihn an der Kamera vorbei auf die Tanzfläche, wo sie mit anderen dicht gedrängt rumtanzten.

Am nächsten Tag wurde er zweimal gebraucht, einmal stand er nur an der Tanzfläche und schaute den Tanzenden zu, und das andere Mal tanzte er mit dem Animiermädchen neben dem Hauptpaar und hatte die Hoffnung, dass diese Szene später nicht herausgeschnitten wird. Am dritten Tag machte er eine tolle Erfahrung. Er stand mit seiner Tanzpartnerin am Rand der Tanzfläche und sah zu wie Romy Schneider und Mathieu Carrière sich auf ihre Szene an einem Bistrotisch vorbereiteten. Eigentlich taten sie überhaupt nichts dafür. Sie unterhielten sich, rauchten eine Zigarette nach der anderen, aber als die erste Klappe fiel, war Romy von einer auf die andere Sekunde im Dreh. Sie schlug augenblicklich mit der Hand auf den Tisch und schrie Gérard an. So eine professionelle Wandlung von einem Moment zum anderen hatte Tristan noch nicht gesehen, und später, als die Dreharbeiten abgeschlossen waren, lief er durch einen Gang, als Romy ihm entgegenkam, glücklich strahlend, ihn umarmte und einen Kuss auf die Wange gab und sagte „Ach, das war jetzt gut“ und dann einfach weiter ging. Es gab nicht viele solche glücklichen Momente bei Romy. Manchmal musste man die Dreharbeiten unterbrechen, weil sie anfing zu weinen, vor allem bei Szenen mit ihrem Jungen, die sie natürlich an ihr eigenes Schicksal erinnerten.

An diesem Tag bekam Tristan den Lohn für seine drei Drehtage: 240,- DM, immerhin, dafür hatte er sich drei Tage Urlaub geholt.

Einige Wochen später feierten sie in ihrer Fabriketage das Bergfest, das man veranstaltet, wenn die Hälfte der Dreharbeiten geschafft ist. Es war ein riesiges Fest. Alle Schauspieler waren da, selbst Jacques Rouffio, der Regisseur war anwesend, nur Romy fehlte. Sie kam dann doch noch, aber sehr spät. Sie hatte ihren Fahrer durch die ganze Stadt gejagt, um vermeintliche Papparazzi abzuschütteln und saß nun da, völlig abwesend. Am nächsten Tag sagte ihnen ein Gast, er habe auf der Fete einen Transvestiten gesehen, der aussah wie Romy Schneider!

Rachel von der WG über ihnen war nun öfter bei ihnen zu Besuch, weil sie Susanne bei der Beschaffung von Requisiten half.

Rachel trug ihren Namen mit Würde, obwohl er aus dem hebräischen kam und „Mutterschaf“ hieß. Sie konnte auch nicht sagen, warum ihre Eltern ausgerechnet diesen biblischen Namen gaben, obwohl sie gar nicht gläubig waren, und außerdem wollte sie den Namen mit „ch“ wie Drachen ausgesprochen hören, was auf Dauer kaum durchsetzbar war, weil die meisten Leute nach kurzer Zeit zu der englischen Aussprache übergingen.

Sie war dabei, wenn sie ins Kino gingen, vorzugsweise ins Arsenal in der Welserstraße, das gute Autorenfilme und manchmal sogar Kurzfilme von Susanne zeigte, oder ins Kant Kino, wo sie den legendären Auftritt von „Ideal“ erlebten. Das war ein Muss, weil Ideal genau das neue New Wave Gefühl verkörperte, dass sich ihre WG angeeignet hatte, weil im Song „Berlin“ ihr geliebter Dschungel vorkam, und weil sie sich immer vorstellten, dass es sich bei der alten Fabrik im Song um ihre Fabrik handelte. Sie sonnten sich im Sommer oft auf dem Dach und hatten dort tatsächlich den Ost-West-Überblick.

Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein, ich steig aus, gut wieder da zu sein. Zur U-Bahn runter am Alkohol vorbei , Richtung Kreuzberg, die Fahrt ist frei, Kottbuser Tor, ich spring' vom Zug , zwei Kontrolleure ahnen Betrug. Im Affenzahn die Rolltreppe rauf, zwei Türken halten die Beamten auf. Oranienstraße, hier lebt der Koran, dahinten fängt die Mauer an. Mariannenplatz rot verschrien, ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin! Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Graue Häuser, ein Junkie im Tran, es riecht nach Oliven und Majoran. Zum Kanal an Ruinen vorbei, dahinten das Büro der Partei. Auf dem Gehweg Hundekot, ich trink Kaffee im Morgenrot. Später dann in die alte Fabrik, die mit dem Ost-West-Überblick. Zweiter Stock, vierter Hinterhof, neben mir wohnt ein Philosoph. Fenster auf, ich hör' Türkenmelodien, ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin! Ich fühl' mich gut, wir steh'n auf Berlin! Ich fühl' mich gut! Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Wir fühl'n uns gut! (Ich steh' auf Berlin) Nachts um elf auf dem Kurfürstendamm läuft für Touristen Kulturprogramm, teurer Ramsch am Straßenstand, ich ess' die Pizza aus der Hand. Ein Taxi fährt zum Romy Haag, Flasche Sekt hundertfünfzig Mark, fürn Westdeutschen, der sein Geld versäuft. Mal sehn, was im Dschungel läuft, Musik ist heiß, das Neonlicht strahlt. Irgendjemand hat mir 'nen Gin bezahlt, die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene, ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin! Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Berlin, Berlin, Berlin, ... Berlin, Berlin, Berlin, ... Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin) Ich fühl' mich gut! (Wir steh'n auf Berlin)

Sie ging mit ins Slumberland am Winterfeldplatz, dem Backstage am Stuttgarter Platz oder in die Music-Hall in der Rheinstraße, dem neuen Treffpunkt der militanten Punkerszene, in der ein unglaublicher Lärm veranstaltet wurde. Sie war dabei, wenn die gesamte WG in den Dschungel ging, aber nur Sonntags nach Mitternacht, wenn die strenge Türsteherin nur Stammgäste rein ließ. Leider war die Zeit vorbei, als David Bowie hier noch vor zwei Jahren verkehrte, man hatte aber immer noch das Gefühl, als wenn seine Aura noch darin schwebte. Alle gaben sich besonders cool, vor alle Dingen hinten um die Tanzfläche herum nahm kaum jemand vom Anderen Notiz. Jeder spielte seine Rolle und übersah die coole Darstellung der Anderen geflissentlich.

Später dann, als Rachel noch auf einen Absacker in Tristans Zimmer mitkam, blieb sie bei ihm über Nacht auf seinem Hochbett. Es entwickelte sich zwischen ihnen eine Art kumpelhafter aber auch liebevoller Zuneigung. Sie war von Allen respektiert und lebte nun mehr bei ihnen als in ihrer WG darüber.

Sie begleitete ihn ins Metropol am Nollendorfplatz, wo die Gruppen PVC, Tempo, Insisters, Morgenrot, Z, IG-Blech, Moosmann, Fliegende Blätter, Sabine Wegener und Teller Bunte Knete auftraten. Sie war als Sozia ein ständiger Begleiter auf Tristans Enduro und marschierte an seiner Seite auf Demos, die zu dieser Zeit relativ schnell ungemütlich wurden. So konnten sie sich bei der Hungerstreik-Demo vom Hermanplatz über den Kottbusser Damm gerade noch so, von Gummiknüppeln getroffen, durch die Polizeieskorte in die Schinkestrasse retten, bevor der richtige Krawall losging. Das veranlasste ihn, allein ins Drugstore in der Potsdamer Straße auf den Kronstadt-Kongress zu gehen, wo er zum ersten Mal Fritz Teufel sah, der wohlbehütet zwischen seinen Anarcho-Freunden auf einem alten Sofa saß. Am Tag darauf ging er ins Rauchhaus, eines der ersten besetzten Häuser in Berlin, das seine Berühmtheit aber erst durch den Rauchhaus-Song der „Ton Steine Scherben“ erlangte.

Der Mariannenplatz war blau, So viele Bullen waren da. Und Mensch Meier musste heulen, Das war wohl das Tränengas. Und er fragte irgendeinen: „Sag mal ist hier heut n Fest?“ „Sowas ähnliches“, sagte einer, „Das Bethanien wird besetzt!“ „Wird auch Zeit“, sagte Mensch Meier „Stand ja lange genug leer. Ach, wie schön wär doch das Leben Gäb es keine Pollies mehr.“ Doch der Einsatzleiter brüllte: „Räumt den Mariannenplatz, Damit meine Knüppelgarde Genug Platz zum Knüppeln hat.“ Doch die Leute im besetzten Haus riefen: „Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, Schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!“ Der Senator war stinksauer, Die CDU war schwer empört, Dass die Typen sich jetzt nehmen, Was ihnen sowieso gehört. Aber um der Welt zu zeigen, Wie großzügig sie sind, Sagten sie „Wir räumen später, Lassen se heut erst mal drin!“ Und vier Monate später stand in Springers heißem Blatt, dass das Georg-von-Rauch-Haus eine Bombenwerkstadt hat Und die deutlichen Beweise warn zehn leere Flaschen Wein Und zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollis sein. Doch die Leute im Rauch-Haus riefen: „Ihr kriegt uns hier nicht raus, Das ist unser Haus - wenn ihr bombenleger sucht schmeißt doch die Amis raus Letzten Montag traf Mensch Meier In der U-Bahn seinen Sohn, der sagt: „Die wollen das Rauch-Haus räumen, Ich muss wohl wieder zuhause wohn'.“ „Is ja irre!“ sagt Mensch Meier, „sind wir wieder einer mehr In unserer zwei-Zimmer-Luxus-Wohnung Und das Bethanien steht wieder leer.“ „Sag mir eins: Ham die da oben Stroh oder Scheiße in ihrem Kopp? Die wohn in den schärfsten Villen, Unsereins im letzten Loch! Wenn die das Rauchhaus wirklich räumen, Bin ich aber mit dabei Und hau dem ersten Bullen, der da aufkreuzt was auf seine Fingerlein!“ Und ich schrei's laut: „Ihr kriegt uns hier ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus - schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!“ Und wir schreien's laut: „Ihr kriegt uns hier nicht raus, Das ist unser Haus, Schmeißt doch erstmal Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.“ Und wir schreien's laut: „Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus, Schmeißt doch erstmal Schmidt und Press und wie sie alle heißen überall raus.“

Hier nahm er im Zuge des Kronstadt-Kongresses an der Veranstaltung „Bewegung-Bewegungslosigkeit“ teil. Obwohl dieser Kongress in politischen Kreisen großes Aufsehen hervorrief, war er doch lediglich von theoretischen und literarischen Akzenten bestimmt. Draußen scherten sich die militanten Besetzer, die Autonomen und der Schwarze Block ein Dreck darum, was ein gewisser Herr Kropotkin oder Bakunin als Gedankenmodell für diese Art von Gesellschaft begründet hatte, wenn sie mal wieder über Nacht alle Schlösser der Eingangstüren zu den Banken mit Sekundenkleber außer Betrieb setzten.

Als dann aber am 24. März 1981 das Haus am Fraenkelufer geräumt wurde, war Tristan dabei. Er setzte sich auf seine Enduro und fuhr zum Mehringhof. Dort wurde beschlossen, eine Spontandemo auf der Kreuzung Mehringdamm/Gneisenaustraße abzuhalten. Die anwesenden Motorradfahrer sollten die Kreuzung blockieren, solange es ging. Also platzierte Tristan seine Maschine mitten auf der Fahrbahn und hinderte die Autofahrer an der Weiterfahrt. Es dauerte aber nicht lange, dann kam die Polizei mit ihrer Motorradstaffel. Der Motoradfahrer, der die Südbahn der Yorck Straße blockiert hatte, flüchtete Richtung Neukölln und alle Polizeimotoradfahrer hinter ihm her. Das war die Gelegenheit für Tristan, seine Position aufzugeben und schnell Richtung Tempelhof zu flüchten. Am nächsten Tag hörte er, dass der Motorradfahrer in die nächstbeste Querstraße abgebogen war, die aber leider eine Sackgasse war. Was aus ihm wurde, hat er nie erfahren.

Es war der Beginn eines heißen Sommers, in dem es fast täglich zu Krawallen kam. Tristan hielt sich aber von nun an zurück. Er wollte nicht noch einmal in eine solche gefährliche Lage kommen. Außerdem hatte er Angst, dass sein Motorradkennzeichen auf der Liste stand. Wenn überhaupt, gingen Anna und er zu Fuß auf irgendwelche Protestdemos. Sie waren jetzt ein festes Paar, gingen zusammen ins Morgenrot am Paul-Linke-Ufer oder in die Lumpenpuppe am Maybachufer, fuhren auf dem Motorrad zum Teufelssee, wo man ungestraft nackt baden konnte, schlenderten über den Winterfeldmarkt, saßen vor der Ruine, die wirklich eine Ruine war mit ein paar Tische und Stühlen davor, oder tranken im angesagten Mitropa ihren Espresso. Das Mitropa musste bald seinen Namen in Café M ändern, weil die Deutsche Reichsbahn der DDR ihre Speisewagen so nannten und gegen den Namen klagten. Sie tranken viel und kifften viel, vor allem am 15. August in der Waldbühne beim Auftritt von White Russia, Ideal, Spliff und Interzone. Den Dope hätten sie sich sparen können, denn die Luft war so Gras- und Haschisch geschwängert, dass man vom reinen Einatmen high wurde.

399
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140 стр. 1 иллюстрация
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9783738056846
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