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Lotte Bromberg

F a l l s u c h t

Der andere Berlinkrimi

Memel Verlag

Dies ist ein Roman. Jegliche Übereinstimmung oder auch nur Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Begebenheiten ist zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Deutsche Erstausgabe

©Memel Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagphoto ©cw-design/photocase.de

Umschlaggestaltung anettemartin.de

E-Book-Erstellung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

ISBN 978-3-945611-00-5

ISBN 978-3-945611-01-2 (E-Book)

Für Dich

wen sonst

I

Es gibt nicht viele Einsatzorte, die Berliner Kripobeamte überraschen können. Die meisten Menschen halten ihren Ausraster für einzigartig, dabei ist es immer die gleiche Leier. So oder so alles schon mal dagewesen. Ein Krankenhaus allerdings, das morgens um sieben im klirrend kalten Februar wegen einer amoklaufenden Ärztin die Kripo ruft, Verdacht auf Mordversuch, das ist mal etwas Neues. Arbeitstage können schlechter beginnen als mit einer Göttin in Weiß auf Schußfahrt.

Für die Hauptkommissare Jakob Hagedorn und Oskar Blum war das ohnehin ein guter Morgen, die Februarsonne steckte vorsichtig ihre Nasenspitze in den eisigen Tag, als sie auf die Straße traten. Endlich mal wieder eine gemeinsame Schicht, wie in alten Zeiten.

Als Jakob damals angefangen hatte bei der Kripo, war Oskar sein erster zugeteilter Partner gewesen. In der zweiten Nachtschicht hatten sie wegen der Anzeige einer am Schlaf gehinderten Nachbarin vor einer Wohnung gestanden, um dem Verdacht auf häusliche Gewalt nachzugehen. Nach zweimaligem erfolglosem Klingeln hatte Jakob den Wohnungsinhaber zu überreden versucht, die Tür zu öffnen, Oskar einen Lachkrampf bekommen und ihm so seine Pranke auf die Schulter gedeppert, daß der fast in die Knie gegangen war.

Noch Tränen in den Augen und nach Luft schnappend hatte Oskar Blum die Tür eingetreten, war zielstrebig an den Müllbergen im Flur vorbeigestiegen, hatte den lärmenden Fernseher abgeschaltet und ergebnislos versucht, den geübt volltrunkenen Bewohner der charmanten Bleibe auch nur zum Öffnen der Augen zu bewegen. Er hatte den Notarzt gerufen, der Zentrale gemeldet, daß sich die befürchtete Gewalt auf das Fernsehprogramm beschränkte, das Fenster geöffnet und zu Jakob gesagt, daß seine Sätze eindeutig kürzer werden müßten.

Sie waren gleich alt, aber Oskar wollte nie etwas anderes als Kriminaler werden. Nach Abitur und Ausbildung war er in Grün auf der Straße gelandet, mit fünfundzwanzig bei der Kripo und als sie sich kennenlernten, war er so erfahren gewesen, daß Jakob sich vorgekommen war wie ein Waschlappen, wenn auch ein studierter.

Schon immer liebte Jakob Bücher und Geschichten, hatte sich in Universitätsbibliotheken eingebuddelt und erst nach dem in einem Innenhof der Rostlaube abgepflückten Magister gefragt, was jetzt. Sein Professor wollte ihn für eine Promotion zu gewinnen, er hatte Doktorandencolloquien besucht und war Gesprächen über die immanente dialektische Struktur des Spätwerks französischer Autoren gefolgt.

Eines Morgens war er erwacht, seine Mutter hatte ihn großäugig und hohlwangig von der Fensterbank angelächelt, war hinter der aufgehenden Sonne verschwunden und er hatte gewußt, er würde sich um die Geschichten der Toten kümmern müssen. Das war so sicher gewesen wie das strapazierte Amen in der Kirche.

Magister Jakob Hagedorn bewarb sich bei der Kripo. Verblüffenderweise war man dort entzückt über seine akademische Vorbildung und bildete ihn bereitwillig im Berliner Straßenkampf aus.

Den Rest machte Oskar. Er hatte Wort gehalten und Jakobs Sätze verschlankt, indem er ihn sofort unterbrach, wenn es kompliziert wurde oder zu lange dauerte. Ausreden lassen hatte er ihn erstmals, als ein Rechtsanwalt nach zu viel genossener Sonne auf dem äußersten Rand der Dachpappe eines Siebzigerjahrebaus am Kudamm seinen Kompagnon im Arm hielt und ihn den Gesetzen der Schwerkraft überantworten wollte. Das war das erste Ding für Jakobs Birne gewesen, wie Oskar sagte. Akademiker eben. Wobei für Oskar Blum alle Akademiker waren, die einen Umweg machten zwischen dem Anfang und dem Ende eines Satzes.

Der Rechtsanwalt hatte nach einer Stunde gepflegten Textaustausches die Finger vom Kompagnon genommen, ohne ihn ins Erdgeschoß schweben zu lassen. Gut, danach war er selbst gesprungen. Man kann nicht alles haben. Aber halbe-halbe ist gut für den Anfang.

Ihre Arbeitsteilung war fortan geregelt, an den Feinheiten mußte Jakob noch arbeiten. Oskar war, wie er war, keine Verhandlungsmasse. Entweder man mochte ihn oder nicht. Ohnehin mochten ihn die meisten. Jakob dagegen mußte sich alles erarbeiten. Er war großgewachsener Akademiker, Brillenträger, Freund gepflegt lässiger Leinenhemden, kurzer Mäntel und ein zurückhaltender Mensch. Seine Finger waren zu lang, seine Hände zu schön, seine Augen zu dunkel, sein Blick zu tief.

Und er träumte.

Stieg durch die Stadt, erkannte Leute nicht, vergaß zu grüßen.

Und er las Bücher.

Oskar hatte viel zu tun, hinter ihm aufzuräumen. Aber nach einem Jahr war klar gewesen, daß Jakob Hagedorn schlicht ein guter Kripomann war. Er löste die Fälle ohne hinzusehen. Setzte sich zum Verhör, sah die Täter an und sie begannen zu plappern, als hätten sie nur darauf gewartet, in seine ruhende Visage hinein ihr Leben zu versenken. Er erkannte Verbindungen, an die niemand dachte, sah Details, die es gar nicht geben konnte, stellte Fragen, auf die niemand eine Antwort wußte, und er sah Geister.

Das war sein Durchbruch.

Er fand ein Mordopfer, das niemand vermißte. Und den Mörder dazu. Sie saßen mit einem unrasierten, fünfzigjährigen Vierschröter im Verhör, der seine Nachbarin erwürgt hatte, was unstrittig war, trotzdem schwieg der Mann wie zugeklebt. Sie hatten es von allen Seiten versucht, aber seine Deckung war so geschlossen wie die Beweislage dürftig. Da war Oskar Kaffee holen gegangen.

Als er zurückkam, hockte der Mann zusammengekauert mit aufgerissenen Augen in der Ecke, gestand alles und wollte raus, weg, so schnell wie möglich. Jakob Hagedorn hatte auf dem Stuhl neben ihm ein kleines Mädchen gesehen, fünf, sechs Jahre alt. In einem vorgestrigen Blümchenkleid saß sie, einen Zopf im Mund, auf ihren Händen, baumelte mit den in Strümpfen und Lackschuhen steckenden Beinen und sah abwechselnd Jakob und den Nachbarinnenwürger an.

Da hatte der Kommissar den Mann gefragt, ob er das Mädchen kennt, schließlich will man wissen, mit wem man es zu tun hat. Hatte ihr Kleid beschrieben und die dünnen braunen Zöpfe. Sie war die Schwester des Vierschröters, tragisch ertrunken mit fünf Jahren in einem Teich. Tatsächlich hatte ihr einziger Bruder sie ertränkt. Elf war er und wollte alle elterliche Liebe, nicht die kleinere Hälfte. Gestand das alles, nachdem er aufgesprungen war, bloß weg von dem Stuhl, der für ihn leer blieb, bloß weg von Jakob, dem Geisterseher. Gestand das Ende der Nachbarin gleich mit, das Maul hatte sie endlich halten sollen, die Giftnatter.

Danach schwiegen alle.

Oskar Blum war stolz auf seinen Freund. Der galt fortan als irre und ein bißchen gefährlich. Gut so, fand Oskar, nichts mehr aufzuräumen. Alle machten eine Gasse für ihren Paradiesvogel. Und auf einmal hatte er gegrüßt, der lange Dunkle, die Kollegen angesehen wie vorher nur seine Verdächtigen. Fragte nach Kindern, neuen Autos, Gesundheit und Urlaubsreisen. Vergaß nie ein Fitzelchen, keinen Geburtstag, Ehrentage überhaupt. Er legte über die Flure der Keithstraße ein freundliches Zwitschern der Anerkennung für jeden gottverdammten Blumenpott. Alle waren wie auf Droge. Na ja, fast alle.

Oskar wurde immer stolzer. Sein wunderbarer Geisterfreund brachte die Luft zum Brummen. Er las immer noch Bücher, seine Finger waren immer noch zu lang, seine Hände zu schön, sein Blick dunkel und unverschämt tief.

So war es bis vor drei Jahren gegangen, als Jakob den Mord an einer jungen Frau ausgegraben hatte. Längst abgeschlossen, der Täter saß vergittert, alles in trockenen Tüchern. Aber dann hatte sich die Pflaume umgebracht, ihr feiner Lebensgefährte, indem er sich in der Zelle eine Gabel in den Hals stach. Muß man sich mal vorstellen. Kann man so jemandem glauben, was er sagt?

Jakob konnte.

Drei Tage später hatte ein Kurier einen geschmuggelten Abschiedsbrief an Kommissar Hagedorn von dem Gabelhals gebracht – auf die eigene Geisterzukunft zu vertrauen schien ihm wohl zu riskant.

Er hätte seine vollbusige Susi nicht getötet, schrieb er, ein Kriminaler sei’s gewesen. Na klar, wenn’s sonst nichts ist, dachte Oskar. Es lebe die Verschwörung.

Aber das Briefchen ging ja an Jakob.

Also den Blick nach innen, alte Akten lesen, stundenlanges Rumgestapfe durch die Stadt, und dann stand er eines Mitternachts vor Oskars tiefschlafender Wohnungstür, patschmadennaß in einem Mäntelchen, hängte seine Augen in Oskars Seele und sagte, er hat recht. Punkt. Und so war’s. Hatte ihn ein Jahr gekostet, das auch zu beweisen. Oskar hatte ihn gewarnt mit aller Glöckchenkraft seiner Neuköllnischen Engelszungen, aber Jakob wollte nicht hören. Wen wundert’s.

Die Geisterlatte wies also seinem verdienten Kollegen Pommerenke nach, ehrenamtlicher Trainer der Fußballzwerge des Polizeisportvereins, Gewerkschaftsmitglied, Posaunenbläser, Trauzeuge, Patenonkel, glücklich verheiratet seit neunzehn Jahren mit einer Kollegin vom Nachbarrevier, daß er Susi erschossen hatte.

Seine Geliebte war sie gewesen, hatte mehr gewollt, zu viel von grenzgängerisch legalen in Hormonseligkeit erzählten Gesetzeshütergeschichten gewußt, Zeit, Ehe und teurere Geschenke gefordert, der Klassiker. Also hatte er sie aus dem Weg geschafft, ihren Gefährten hingehängt, relativ schockgefrostet geplant das Ganze und gut ausgeführt.

Nicht gut genug für Jakob Hagedorn. So tief kann keiner graben.

Jakob wollte ein Geständnis, vorbeugend gegen die Legendenbildung, hatte ihn eingelullt, die kurzen Sätze konnte er inzwischen, und dann war er mit der Geisternummer gekommen. Hatte behauptet, die erschossene Vollbusige und ihr gegabelter Lebensgefährte wären mit im Raum. Also hieß es Eins zu Drei. Klar, wer da verlor. Gut fand das allerdings nur Oskar.

Die Keithstraße drehte sich wieder. Um einen aus ihrer Mitte zu klauben, war der fremde Geisterseher mit den vielen Büchern dann doch zu wenig geerdet. Sie stießen ihn ab. Jetzt wurde er nicht mehr gegrüßt, sondern übersehen. Aber niemand träumte, alle waren hellwach. Schwiegen in sein Gesicht, ballten die Faust in seinem Rücken.

Oskar hätte gern aufgeräumt, die Fäuste und alles andere hinter ihm. Er erklärte, stellte richtig, stoppte Nachrede, die üble wie die geschwätzige. Aber es nützte nichts, es wuchs immer wieder nach. Unkraut eben.

Irgendwann sagte Jakob, laß gut sein Oskar, das kostet zu viel Kraft. Seitdem standen sie nebeneinander, kümmerten sich gemeinsam um den Rücken und waren der Kiesel in der Brandung. Sie machten ihre Arbeit, meistens gut, aber man lauerte. Es ließ sich trotzdem damit leben. Vielleicht wuchs irgendwann Gras über den Fall des Ehrentrainers der Fußballzwerge. Wahrscheinlich war es nicht.

Seit damals hatten gleichgültige Dienstpläne oder mißgünstige Vorgesetzte sie nur noch selten zusammen losgeschickt. An diesem Februarmorgen pflegte jedoch ein dauerversehrter Kollege seinen xten Bandscheibenvorfall, zwei Kolleginnen waren im Schwangerschaftsurlaub und der harte Winter hatte eine kräftige Grippewelle über den verbliebenen Ordnungshütern Berlins abgeladen.

So sprangen die zwei letzten Mohikaner endlich mal wieder gemeinsam in Oskars Citroën und bretterten durch die winterstarre Stadt zum Arbeitsort der ausfälligen Halbgöttin. Oskar war der sonderbarste Autofahrer, den Jakob kannte. Er konnte sich nicht einigen, ob er nun schnell und schnittig oder gemütlich fahren wollte. Das Ergebnis war eine Mischung aus impulsiven Überholmanövern und schaukelnder Kutschenfahrt. Vor der Klinik ließ er den Wagen ausrollen und latschte zum Abschluß so heftig auf die Bremse, daß Jakob sich mühsam im Sitz hielt, als sie erst jenseits der Eisplatte, die eine nicht abreißende Kette von Notarztwagen vor dem Portal verdichtet hatte, ruckartig zum Stehen kamen.

Am Krankenhauseingang stand ein grünlich dreinblickender Pfleger mit Piercing in der Wange und wartete rauchend. Als sie ausstiegen, schnipste er die Selbstgedrehte in einen von Frost und Splitt der vergangenen zwei Monate lädierten Grünstreifen, zog die Tür auf und ging voraus. Sie liefen über endlose menschenleere Flure und stiegen verwirrende Treppen auf und ab. Jakob schwindelte.

»Wo geht es überhaupt hin? Ich meine, nicht, daß wir völlig entkräftet der Furie gegenübertreten«, fragte Oskar.

Der Pfleger blieb, begleitet von einem grellen Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleum, abrupt stehen und starrte ihn an. »Wer sagt das?«

»Wer sagt was?«, fragte Oskar wachsam.

»Sie ist keine Furie, wer sagt solchen Scheiß?« Der Pfleger machte einen Schritt auf Oskar zu.

»Mit der Affektkontrolle habt ihr es anscheinend hier alle nicht so? Der Schichtdienst, die Verantwortung und so weiter, nehme ich an. Trotzdem wüßte ich gern, wo es hingeht.«

Der Pfleger starrte ihn weiter an. Vielleicht auch etwas zu wenig Schlaf und ein klein wenig zu viel Gras.

»Er meint die Station, auf welcher Station es passiert ist«, sagte Jakob so sanft wie möglich.

Der Pfleger löste seinen Blick langsam von Oskar. »Die Innere, so was passiert nur auf der Inneren II«, antwortete er und setzte sich wieder in Bewegung.

Oskar sah zu Jakob, der zuckte die Achseln. Sie folgten dem Pfleger. Es war eindeutig, wann sie am Ziel waren. Die letzte Glastür war von der Rückseite mit irgendwelchen Flüssigkeiten beschmiert, über deren Herkunft Jakob lieber nicht genau nachdenken mochte. Der Pfleger zog die Tür auf, winkte sie durch und verschwand.

Vor ihnen tat sich ein verwüsteter Krankenhausflur auf. Den leuchtendblauen PVC-Boden bedecktenzerschlagene Urinale, Glasscherben, Infusionsschläuche und -flaschen. Stühle lagen auf dem Boden, einem fehlte ein Bein. Den Durchgang versperrte ein querstehendes Krankenhausbett, dessen Galgen sich verbogen in den Raum krümmte, als hätte ihm jemand gerade einen grandiosen Witz erzählt. Es war vollkommen still.

»Wow«, sagte Oskar leise, »eine Furie, sag’ ich doch.« Er zog seine Waffe aus dem Halfter und entsicherte sie.

»Spinnst Du jetzt? Das ist ein Krankenhaus.« Jakob schob Oskar zur Seite, der widerwillig seine Waffe sicherte, und ging vorsichtig den Gang hinunter.

Es roch nach Staub der Siebziger, scharfen Desinfektionsmitteln und süßlich nach alten Menschen. Jakob sah auf geschlossene Türen. Der Flur war eine Schleuse ohne Ausgang. Er atmete flach. Nachdem er etliche Hindernisse vorsichtig umstiegen und Lachen von Zerstörung ausgewichen war, erschien ein Weißkittel hinter einer handbreit geöffneten Tür linkerhand. Auch er sah grünlich aus.

»Sie ist da drin.« Der Kittel deutete auf eine geschlossene Tür rechts weiter hinten, über der eine Leiste mit farbigen Signalen hektisch blinkte. Jakob kramte in seiner Krankenhauserinnerung. »Das Schwesternzimmer?«

»Der Aufenthaltsraum für das Pflegepersonal.«

Fatzke, dachte Jakob und las auf dem an der Brusttasche zitternden Schildchen »Dr. P. Pansel«. Jakob deutete in das Zimmer hinter ihm und der Kittel zog sich unwillig einen Schritt zurück. »Aber seien Sie vorsichtig«, sagte er, »die ist gemeingefährlich.«

Bei Risiken für Leib und Leben fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, dachte Jakob.

»War sie das schon immer?«, fragte Oskar.

»Ich bin sonst auf der Gynäkologie. Personalmangel.«

»Also kennen Sie die Frau gar nicht?«, fragte Jakob.

»Aus der Kantine. Sieht unverschämt gut aus, müssen Sie wissen.«

»Aber gemeingefährlich«, sagte Oskar.

»Man steckt nicht drin in den Leuten. Ist eben ein knallharter Job.« Der Gynäkologe drückte das Kreuz durch.

»Knüppelhart«, sagte Oskar, schob den Doktor zurück in das Zimmer und schloß die Tür vor seiner Nase.

»Beinhart«, sagte Jakob.

»Besonders auf der Gynäkologie«, sagte Oskar.

Sie nickten sich zu und näherten sich der Tür, über der die Lichter Alarm schlugen. Nichts war zu hören. Jakob klopfte, öffnete die Tür und verschwand in dem Zimmer. Oskar steckte seine Waffe zurück ins Halfter, griff sich einen der herumliegenden Stühle, testete ihn auf Standfestigkeit und setzte sich neben der Tür an die Wand. Frauen waren eindeutig Jakobs Revier. Geister und Frauen, was vermutlich irgendwie zusammenhing. Zeit für eine kleine Dösepause. Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen.

Jakob sah auf den Rücken einer großen, schmalen Frau, die am offenen Fenster stand, in den eisigen Berliner Morgen hinaussah und eine Zigarette rauchte. Wenn sie den Arm hob, um einen Zug zu nehmen, spannte sich der weiße Kittel in ihrem Rücken.

Das Zimmer war klein, aber gemütlich. Eine Gegenwelt zu der technischen Kälte hinter der Tür. Ganz zu schweigen von dem Chaos. Auf einem Tischchen nah am Fenster verteidigte ein Christstern aus dem letzten Jahr tapfer seine Stellung. Galt sicher als unhygienisch.

Jakob erinnerte sich, daß er als Knirps seiner Mutter bei ihrem Generalprobenausflug in die Hölle nur noch Schokolade mitgebracht hatte, weil er die Blümchen immer wieder mitnehmen mußte. Rechts den Gang hin mit der Faust um die armen kleinen Stengel, links den Gang zurück. Wenn er sie zuhause losließ und sein Vater eine Vase suchte für die Weitgereisten, waren sie längst in Sorge und Liebe erstickt. Weinte er dann, schloß der große, starke Vater seine rauhen, warmen Hände um Jakobs weichen Kinderkopf und der verkroch sich in ihrer Höhle, wo kein Platz war für sterbende Mütter. Später hatten auch die Tafeln beim nächsten Besuch unberührt auf dem Nachtisch gelegen, umkreist von Schalen und Dosen mit Tabletten.

Also hatte er Bilder von ihrem Cello mitgebracht, oder zumindest dem, was ein siebenjähriger Wurm so malen kann. Es mußte ähnlich gewesen sein, zumindest war sie in Tränen ausgebrochen und hatte ihn an sich gedrückt, wobei er die Luft anhielt aus Sorge, ein tiefer Atemzug könnte ihren Brustkorb zerbrechen und sie würde nie wieder für ihn spielen.

Jakob ging auf den Tisch mit dem Christstern zu, zog sich einen Stuhl vor und setzte sich. Die Frau zeigte keine Regung. Draußen lärmten die Spatzen der aufgehenden Tiefkühlsonne entgegen als würde Hertha gegen Bayern antreten.

»Überall zwitschern die Vögel erst im Frühling, nur in Berlin quatschen sie schon bei Eis und Schnee«, sagte Jakob.

»Wir reden doch auch immerzu, egal ob wir was zu sagen haben«, sagte die Frau. »Hauptsache, es ist nicht still.«

»Aber was die Vögel erzählen, ist schöner.«

»Das hängt damit zusammen, daß sie singen.«

»Sollten wir vielleicht auch. Aber ich glaube, ich werde lieber von Spatzen auf meiner Fensterbank geweckt als vom Duschgesang meines Nachbarn.«

Die Frau drehte sich um und sah ihn an.

Mein Gott, war sie müde. Jakob zog einen zweiten Stuhl vor und klopfte auf die Sitzfläche. Die Frau drückte die Zigarette in einem mit Sand gefüllten Eimerchen aus, stieß sich von der Fensterbank ab und setzte sich Jakob gegenüber. Sie sah ihm in die Augen. Jakob sah zurück, ruhig und geduldig. Ihr Lidschlag war so langsam, daß er Sorge hatte, sie würde einschlafen. Aber jedes Mal, wenn die Augen sich wieder öffneten, sank er tiefer hinab.

»Ich bin Hanna und wer bist Du?«, fragte die Frau.

Jakob versuchte, die Wasseroberfläche zu erreichen. Als er sich aus ihren Augen gelöst hatte, tanzten Funken um ihre Haare. Eine Perle kullerte den langen Hals hinab, zögerte unentschlossen am Schlüsselbein, sprang dann ab und landete hüpfend auf dem Linoleumboden.

»Ich bin der Märchenprinz«, hörte Jakob sich sagen.

»Du hast mich lange warten lassen, Prinz. Meine Mutter hat mir erzählt, Du kommst auf einem Klepper, wo ist er?«

»Wartet draußen, er wollte nicht mit ins Krankenhaus.«

»Kluger Gaul, auf den solltest Du hören, wenn es mal Diskussionen wegen der eingeschlagenen Richtung gibt.« Sie stand auf, strich sich über den von Spuren ihrer Schlacht übersäten Kittel, entfernte das Namensschild vom Revers und steckte es in ihre Hosentasche. Sie zog den Kittel aus und legte ihn über den Stuhlrücken. »Laß uns gehen, da draußen gibt es im Februar nicht genug Gras für Prinzenpferde«

Jakob hätte ihren Fingern eine Zigarette gewünscht, verloren taumelten sie durch den Raum. Er sah, wie sie zu einem Schrank ging, einen Mantel vom Bügel streifte, sah ihre Finger Knöpfe öffnen und schließen und wollte nie wieder etwas anderes sehen. Sternschnuppen trudelten aus ihrem Haar, verteilten sich gleichmäßig auf den Schultern. Er versuchte sich an das Ende von Sterntaler zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein. Hanna sah sich langsam im Raum um, als wollte sie alles in ihre Erinnerung einbrennen, nahm den Christstern vom Tisch und sah aus dem geöffneten Fenster. »Ob es trocken bleibt?«

»Es riecht nach Schnee«, sagte Jakob.

Sie schloß mit einer Hand das Fenster, drehte sich zu Jakob um und nickte. Er stand auf und ging voran. Oskar war auf seinem Stuhl eingenickt. Er schreckte hoch, als die beiden durch die Tür kamen. Jakob schüttelte den Kopf und verließ langsam durch die Hindernisse steigend mit Hanna die Station, das Krankenhaus und das Gelände.

Für Oskar blieb der Rest. Er seufzte, rief Dr. P. Fatzke herbei, verkündete das Ende der direkten Lebensbedrohung, forderte ihn auf, für ein Protokoll auf dem Abschnitt zu erscheinen, fragte, ob er Anzeige erstatten wolle, was der Doktor entsetzt verneinte, schloß nach zwei Stunden gähnend seinen Wagen auf und fuhr zurück zum Abschnitt.

Anzeige erstattete schließlich der Verwaltungschef der Klinik, wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und versuchten Mordes. Da er schon mal dabei war, schloß er eine fristlose Kündigung an, alarmierte die Ärztekammer und forderte den Approbationsentzug.

Gegen Mittag kam ein übermüdeter Trupp Kriminalbeamter, ließ sich die Ortschaften zeigen, nahm Hannas Opfer in Augenschein, machte Photos, vermaß und tütete Proben ein. Nach einer Stunde zogen sie wieder los und antworteten auf die Fragen des erregten Verwaltungschefs, wann die Täterin mit Konsequenzen zu rechnen hätte, mit einem routinierten Achselzucken.

Als der Verwaltungschef die Station verließ, begegnete er einem Boten, der eine Krankschreibung der Furie vorbeibrachte, was ihn so wütend machte, daß er das Schreiben in kleine Schnipsel zerriß und sie auf das leuchtend blau unterlegte Chaos niedersinken ließ. Der Bote bestand kaugummikauend auf einer Unterschrift, die den Erhalt des Schreibens bestätigte, der Klinikchef gab sie ihm fluchend.

Oskar erfuhr von all dem nichts. Bei seiner Rückkehr zum Abschnitt wurde er zum nächsten Einsatz geschickt. Ein Mann drohte mit einer Handgranate bewaffnet abwechselnd sich und die Schaulustigen in die Luft zu sprengen. Das war nun wieder Oskars Kaliber. Jakob, den er verständigt und auf halber Strecke aufgelesen hatte, blieb im Wagen, wirkte allerdings auch etwas derangiert.

Als sieben Stunden später ihre Schicht endete, waren sie zu müde, um über die schöne Furie zu sprechen. Oskar schrieb das Protokoll über den Handgranatenirren – sie hatte sich als Attrappe entpuppt, als sich der Mann eine Zigarette damit anzündete. Sein anschließendes verspanntes Gelächter hatte von den Kollegen einen ganzen Blumenkübel voll Affektkontrolle gefordert –, setzte Jakob an der U-Bahn ab und kutschte ohne Umwege in sein Bett.

Jakob kehrte zurück, von wo er sieben Stunden zuvor aufgebrochen war. Wehrlos hatte Hanna sich in ihre Wohnung bringen und Tee einflößen lassen. Jakob hatte versprochen, nach Dienstende zurückzukommen. Als er die letzte Treppe nahm, kauerte sie in der Wohnungstür, als hätte sie auf ihn gewartet.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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511 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783945611012
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