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Auslaufgebiet

Im Berliner Hundeauslaufgebiet findet ein Jogger eine unvollständige Frauenleiche. Haben Hunde sie getötet? Als an der Leiche Wolfsspuren entdeckt werden, bricht Hysterie in der Stadt aus. Hauptkommissar Oskar Blum, mit arabischen Doppelmördern beschäftigt und verloren in Gegenden ohne Straßenschilder, bittet seinen Freund und suspendierten Kollegen Jakob Hagedorn um Hilfe.

Der Geisterseher begegnet einem historischen Rudelführer, einem Waldarbeiter mit Samenstau und einer Kreuzbergerin mit Schlagkraft, nimmt die Fährte der Wölfe auf, trifft in Brandenburg eine Wolfsfrau und läßt einen Caniden in sein Hirn ziehen. Eine Schlange rettet ihm im U-Bahntunnel das Leben, ein Russe versteckt ihn vor der Kripo, ein Wolf beschützt ihn vor Gericht, er verliert einen Freund und findet einen Mörder …

Der andere Berlinkrimi - prall, schräg, abgründig, poetisch.

Lotte Bromberg

wurde 1968 geboren. Sie wacht, schläft, arbeitet und schreibt in Berlin. Auslaufgebiet ist nach Fallsucht ihr zweiter Kriminalroman mit den Berliner Ermittlern Jakob Hagedorn und Oskar Blum. Weitere folgen. Mehr unter www.memelverlag.de

Lotte Bromberg

A u s l a u f g e b i e t

Der andere Berlinkrimi

Memel Verlag

Dies ist ein Roman. Jegliche Übereinstimmung oder auch nur Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Begebenheiten ist zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Erstausgabe

© Memel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagphoto © fotolia.com/​craft_666

Umschlaggestaltung anettemartin.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-945611-05-0

www.memelverlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Zum Buch / Zur Autorin

Impressum

Widmung

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

Danke

Für Dich

wen sonst

I

Yoga war etwas für Eunuchen. Morgens als erstes Müsli, die komischen Sprossen auf dem Salat, was tat man nicht alles, um den schärfsten Frauenhintern zum Beben zu bringen. Aber Yoga?

Sein Pulsmesser piepte bedrohlich. Er tippelte auf der Stelle und kontrollierte Brustgurt und Einstellung. Hundert Meter durch den Grunewald und er schwitzte wie ein Schwein. Scheiß Salat.

Er sah sich um, Massen von Grün, bergeweise Sauerstoff. Er versuchte, in die letzten Winkel seiner Lungenflügel Grunewaldaroma zu pumpen. Sprossen vertreiben.

Hustend trabte er los. Fünf Kilometer fürs Erste und dann das T-Bone-Steak, das ihn im Kühlschrank erwartete. Kein noch so vibrierender Hintern glich auf Dauer vegetarische Kost aus. Seit Wochen träumte er von bluttriefendem Fleisch, wilden Autojagden und einer endlosen Anzahl Liegestützen. Kein Wunder, daß er so schlapp war, ihm fehlte Eiweiß. Nur Volltrottel ballerten sich an die Spitze der Nahrungskette und kehrten dann zu Vogelfutter zurück.

Der Pulsmesser meldete sich schon wieder. Nächstes Mal mit Musik, hatte er ganz vergessen nach der langen Zeit. Die dusselige Waldstille und dann noch dieses höhnende Piepen.

Er mußte pinkeln, grub sich seitlich ins Unterholz, fand eine kleine Lichtung mit Ausblick, ließ aus Gewohnheit die Hosen runter und ärgerte sich schon wieder. Wochen hatte er auf ihrer hölzernen Klobrille versessen. Er brauchte sich für nichts zu schämen, weder den Strahl noch den Hahn, aus dem er kam. Schließlich traf er jeden Eierbecher, strammstehend wie ein Stier.

Zufrieden sah er seinem Urin hinterher, folgte dem Bogen bis zum Ende, wo er spritzend und schäumend auf den Waldboden traf, wie ein Hochdruckreiniger den Sand wegspülte. Einen Stein freilegte oder was immer das war.

Sein Magen erkannte es als erster. Das Frühstücksbrötchen, die vier Eier im Glas, Schinkenspeck und Kaffee wollten zum Licht.

Er hatte ihnen keinen Willen entgegenzusetzen, als er begriff, daß er die Reste einer menschlichen Hand freipinkelte. Sie hatte die Farbe geräucherten Schinkens, angebissen von allen Seiten. Sein Urin tröpfelte aus, er taumelte und sein erstes wohlschmeckendes Frühstück seit drei Monaten landete in hohem Bogen auf dem Grunewalder Frühlingsboden. Er traf einen angeknabberten Ringfinger, der etwas abseits lag. Ein Knochen blinkte, eine Sehne hing, lang und weiß. Er wich zurück, sah hoch und entdeckte die zerfledderte Frauenleiche. Schultern, Reste von Armen. Der Kopf, Haare, das Gesicht. Unvollständig. Darüber eine Wolke von Insekten, schwarz, surrend, dröhnend. Sie hatten ihn entdeckt. Sie kamen auf ihn zu. Sein Pulsmesser piepte pausenlos. Er stolperte rückwärts, strauchelte, schlug sich die Knie auf und rannte um sein Leben.

Hauptkommissar Oskar Blum lauschte im Hausflur an einer klapprigen Wohnungstür. Vier Kripobeamte und ein falscher Paketbote warteten hinter ihm, die Waffen im Anschlag, den Blick auf die verschlossene Tür gerichtet. Es stank nach Katzenpisse, Kohlsuppe und billigem Rasierwasser. Unten im Haus plärrte ein Kind, ein Mann brüllte es nieder. Draußen schimpfte ein Martinshorn, dazwischen rief der Muezzin zum Gebet, Autos hupten wütend, Bremsen quietschten, Motoren heulten. Weddinger Sinfoniekonzert.

Sie hatten einen anonymen Hinweis bekommen, in der Wohnung fänden sie die gesuchten Doppelmörder, bewaffnet und bereit, diese Waffen auch einzusetzen. Aber Ismail hatte das Paket vergessen. Ausnahmsweise kam er pünktlich zum Dienst, frech grinsend in seiner DHL-Verkleidung, weil Oskar keinen Grund hatte, ihn zusammenzufalten. Und dann fehlte das Paket, das ihnen Zugang zur Wohnung verschaffen sollte.

Die Haustür klappte, fünf Kriminaler senkten die Waffen und drückten sich an die Wand. Ismail, der falsche Paketbote, beugte sich über das Treppengeländer. Sie erkannten das Schnaufen von Rudi, dem fettesten Streifenpolizisten des Weddings. Keuchend erreichte er mit letzter Kraft das vierte OG und streckte Ismail das Paket hin.

Alle gingen in Deckung, Ismail klingelte.

Nichts geschah.

»Paketpost«, rief er.

Sie hörten Schritte auf knarrendem Dielenboden, die Tür blieb zu.

»Keiner da«, sagte Ismail und zog sein falsches Lesegerät vor. »Ärgerlich, Bruder, mußt Du zur Post, um abzuholen. Echt blöd, wenn Du mich fragst.« Das Lesegrät piepte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ismail sah in schwarze, engstehende Augen unter gegeltem schwarzem Haar. »Wir ham nix bestellt«, sagte der Mann, fast noch ein Kind, und linste auf das Paket.

»Is’ mir egal«, sagte Ismail, »hier steht Al-Ahmadi und da auch.« Er tippte auf das Klingelschild.

»Der is’ verreist.«

»Macht drei Euro achtzig.«

Oskar verdrehte die Augen. Was waren denn das für Preise?

Die schwarzen Augen starrten Ismail an. »Muß ich Geld holen«, sagte der Junge.

»Mach det. Und ich kann nich’ wechseln.« Ismail stützte das Paket am Türrahmen ab und schob eine Fußspitze in die Tür. »Schweres Teil«, sagte er und grinste.

Der Junge ging Geld holen. Ismail gab die Tür frei und seine fünf Kollegen schlichen in die Wohnung. Ismail drückte Rudi das Paket in die dicken Finger, zog seine Dienstwaffe aus der Hosentasche und folgte den Kollegen. Der immer noch schnaufende Rudi sah ihm mit großen Augen zu.

»Drei achtzig, hat er gesagt.« Am Ende des langen Flurs, verhandelte der junge Mann mit einem Baßbariton, der ihm in einer Fremdsprache antwortete. Zu wenig Umlaute für den Türken Ismail.

Oskar wies die Kollegen auf die zwei Seiten des Flurs. Linke Seite die Küche, leer. Zurückgeschobene Stühle am Eßtisch, Essensreste, dreckige Porzellanteller, angebrochenes Fladenbrot, ein offenes Glas Oliven, eine Ketchupflasche. Das Bad daneben, gefüllt mit Flaschen und Tuben, drei Rasierapparaten, nassen Handtüchern am Boden, dazwischen schwarze Haare. In der Badewanne eine Plastiktüte, aus der Wäsche quoll. Ein Schlafzimmer mit großem Einzelbett, sorgfältig abgedeckt mit einer schimmernden schwarzen Decke.

»Passend, hat er gesagt. Kann nich’ wechseln.«

Der Bariton stieß kehlige Verwünschungen aus.

Rechte Seite eine Kammer, dunkel, muffig, fensterlos. Noch ein Schlafzimmer, alles leer. Zwei Einzelbetten, zerwühlt, ein voller Aschenbecher auf einem Plastikstuhl dazwischen, über der Rückenlehne gebrauchte Unterwäsche, neben dem Ascher ein teures Handy.

Dann eine geschlossene Tür. Oskar drückte die Klinke, erfolglos. Er zog den steckenden Schlüssel ab und legte ihn auf den Boden.

Blieb nur das Wohnzimmer, in dem die zwei Männer sprachen. Münzen klimperten.

Oskar holte tief Luft, nickte seinen Kollegen zu, gemeinsam stürmten sie los.

Der Junge hob den Kopf, auf dem schwarzglänzenden Couchtisch lagen lauter Euromünzen. Ein älterer Mann saß neben ihm, ein dritter mit glasigen Augen abseits, in der Hand eine Shisha.

Der junge Mann richtete sich auf und faßte in die Hosentasche. Oskar griff seinen Hosenbund im Kreuz, hob ihn an und ließ ihn fallen, mitten in die Münzen. Seine Hose rutschte bis unter die haarige Pofalte. Oskar drehte seinen Arm auf den Rücken und drückte den Kopf seitlich auf die Tischplatte. Der Junge brüllte wie am Spieß.

Der Ältere hob langsam die geschlossenen Hände hoch. Ein Kollege richtete die Waffe auf ihn. »Fallen lassen«, sagte er und deutete auf seine Hände. Euromünzen klimperten auf den Couchtisch.

Ismail stand mit gezogener Waffe in der Zimmertür, zog Handschellen aus dem Hosenbund und warf sie dem glasigen Shishamann zu. »Anschnallen, Bruder«, sagte er.

Rudi, der schnaufende Streifenpolizist, hatte eine Weile allein vor der Tür gewartet. Nachdem die direkte Gefahr gebannt war, wollte er allerdings auch nichts verpassen. Er rückte seine Mütze gerade, zog die Dienstwaffe und durchmaß den Flur. Den Blick voraus, wäre er fast über den Zimmerschlüssel gestolpert. »Tzzz, tzzz«. Er hob ächzend den Schlüssel auf und steckte ihn in das Schloß. Er wollte ihn eigentlich nur fest hineinstecken und drehte ihn um, damit er nicht wieder auf den Boden fiele. Aber dann offnete sich das Schloß. Er drückte die Klinke, ganz vorsichtig, die Waffe voraus.

»Na, was haben wir denn da«, sagte Oskar Blum aus dem Wohnzimmer. »Eine Halbautomatik. Dafür haben die Herren doch wohl nicht etwa einen Waffenschein?«

Der ältere Mann fluchte wieder in seiner fremden Sprache.

Rudi atmete tief ein und öffnete die Tür.

Auf ihn zu stürzte jaulend ein Bullterrier, wich Rudis Körpermasse aus und raste den Flur entlang. Rudi sah ihm verdutzt hinterher, da stürzte ein zweiter aus der Tür. In hohem Tempo erreichten sie das Wohnzimmer, sprangen auf den Couchtisch, schlitterten in die Euromünzen, knurrten und bellten mit sabbernden Mäulern.

Rudi sah in das Zimmer, als ihm ein dritter Bullterrier an den Hals sprang. Schreiend fiel er hintenüber auf die Dielen.

»Was zum Teufel …«, rief Oskar.

Der Bullterrier auf Rudi winselte, leckte sein Gesicht und pullerte ihm warm in die Uniform.

Oskar nahm die Hände von dem Jungen und versuchte, die zwei Bullterrier vom Couchtisch einzufangen. Einer sprang über einen Sessel und raste aus dem Zimmer. »Rudi, die Wohnungstür«, rief Oskar. Der geflüchtete Hund drehte eine irre Runde über die schimmernde Tagesdecke im Schlafzimmer, Speichel triefte aus seinem Maul. Der vollgepinkelte Rudi hielt seinen Hund im Nacken und robbte zur Wohnungstür. Der dritte Terrier sprang hechelnd im Wohnzimmer von einem Möbelstück zum anderen, verbiß sich schließlich in einem Vorhang, zerrte an ihm und knurrte. Zwei Kripobeamte warfen Kissen auf ihn und versuchten ihn einzufangen.

Der Junge, aus Oskars Klammergriff befreit, zog seine Hose hoch, sah sich um und schlich rückwärts zur Wohnzimmertür.

Der Bullterrier aus dem Schlafzimmer hatte genug von der Tagesdecke und raste zu Rudi in den Flur. Rudi hob die Arme und brüllte »Stop!«. Der Terrier bremste ab, fixierte ihn mit heraushängender Zunge und hervorgequollenen Augen und nahm Anlauf. Rudi warf erst die Mütze nach ihm und dann sich auf ihn. Er bekam ein Bein zu fassen, mußte aber den anderen Terrier loslassen. Der machte einen Satz und verschwand durch die weit geöffnete Wohnungstür. Rudi hörte seine Krallen auf den Treppenstufen abwärts schlittern. Schnaufend hielt er den anderen Bullterrier fest. Fünfzig Prozent, dachte er.

Da kam der Junge in den Flur. Sah Rudi bäuchlings mit dem Bullterrierbein in der Hand quer auf den Dielen liegen, hinter ihm die offene Wohnungstür. Er beschleunigte, um über Rudi und Hund zu springen. Rudi sah seine jungen Muskeln sich anspannen, sah die weißen Turnschuhe, das gegelte Haar, die engstehenden tiefschwarzen Augen, die dicke goldene Kette um den dunklen Hals und hob seinen fetten Hintern.

Der Junge, mitten ihm Sprung abgefangen, schlug krachend der Länge nach hin wie ein nasser Sack. Landete halb auf Rudis Allerwertestem, halb auf dem Dielenboden. Rudi drehte sich, immer noch den Hund fest an der Hand, auf den Rücken, schüttelte das Gewicht des Jungen ab wie ein lästiges Insekt, robbte zur Wand, wischte sich mit dem Oberarm den Schweiß von der Stirn und dachte, hundert Prozent.

II

Hauptkommissar Oskar Blum saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz seines Citroën. Die ausgestreckten Beine hatte er auf dem Lenkrad untergebracht, die Schulter an die Tür gelehnt. Neben der geöffneten Fahrertür kniete ein uniformierter Kollege und redete vernünftig auf ihn ein.

Oskar hielt die Augen geschlossen. Nicht mit ihm. Er war die Kripo, verdammt noch mal, er ließ Absperrbändern ziehen und blieb nicht vor ihnen stehen.

Er hatte nach dem Einsatz die zwei verbliebenen Hunde in die Obhut eines Tierheimmitarbeiters gegeben und sich den Verdächtigen gewidmet. Der Älteste hatte sich nach dem Verbleib der Hunde erkundigt und fortan geschwiegen. Bis sechs Uhr früh hatte Oskar in der Keithstraße die immer gleichen Fragen in drei starr schweigende Gesichter versenkt. Nicht einmal Angaben zur Person entlockte er ihnen. Sie hatten keine Ausweispapiere gefunden, aber zwei Schnellfeuergewehre, vier Revolver, neun Handgranaten, vier Kilo Kokain, drei Kilo Crack und zwölfeinhalb Kilo synthetischer Partydrogen. Ein schöner Fang für Drogenfahndung und Organisierte Kriminalität, aber nichts für Oskars Doppelmord. Sah aus, als hätte der anonyme Anrufer die Kripo mißbraucht, um den Drogenmarkt von einem lästigen Konkurrenten zu bereinigen.

Der Mann an der Shisha hatte im Verlauf der Stunden das Glasige aus seinem Blick verloren und mit Blick Richtung Kommissar auf das Linoleum gerotzt. Oskar war auf Berliner Bordsteinen sozialisiert, solches Ziegenhirtengebaren entlockte ihm nur ein halbseitiges Grinsen. Um sechs Uhr vier beendete er die einseitige Kommunikation, ordnete zur Feststellung der Personalien die zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken an, was sofort Leben in die Bude brachte. Er hätte schon um drei darauf kommen können.

Um kurz nach sieben waren die ihn mit fremdsprachigen Flüchen überschüttenden Männer in drei Einzelzellen verstaut und Oskar wankte nach Hause. Er plumpste angezogen in sein Bett, eine halbe Stunde später klingelte ihn die Zentrale aus beginnendem Tiefschlaf, klagte, wer alles mit Grippe abgemeldet oder an unlöschbarem Burnout erkrankt war. Bevor Oskar erfuhr, wie gut es Kollegin Bettina auf einem dänischen Campingplatz und Kollege Ritter im Grill von Antalya ging, legte er auf. Er war eindeutig zu gesund und zu selten verreist.

Oskar versprach seinem Federbett, er käme bald zurück, begoß den bleiernen Kopf mit eiskaltem Wasser und fuhr quer durch die Stadt zum Leichenfundort im Grunewald. Und das alles, um sich jetzt von Zehlendorfer Befindlichkeiten gängeln zu lassen und auf den amtlichen Hausherrn der Bäume zu warten, bevor er mit seinem Auto dessen Revier befuhr, um eine Leiche in Augenschein zu nehmen.

»Det kann ewig dauern, bis der Förster kommt«, seufzte der Uniformierte.

»Eben«, sagte Oskar, »kurz vor ewig durchbreche ich das Hindernis.« Er zog die Beine vom Lenkrad. Wenn er sich erinnerte, wie er früher brünftig die Sitze abgescheuert hatte, kamen keine knarzenden Glieder vor. Nicht nur sein Auto alterte.

»Es ist wirklich nicht weit«, quengelte der Uniformierte. »Höchstens zwanzig Minuten zu Fuß.«

»Neunzehn zu viel. Ich zeig’ Dir, daß meine Kutsche viel besser zum Wandern geeignet ist als meine Großstadtfüße.«

Oskar Blum war gebürtiger Neuköllner. Sein Kinderbettchen hatte in der Tempelhofer Einflugschneise geschaukelt, seinen nuckelnden Schlaf die blinkenden Lichter westalliierter Flieger behütet. Mamas Streusel dazu, ab und zu Kloppe von Papa.

Schritt für Schritt hatte er sich eingelaufen in die puckernden Adern seiner Heimatstadt. Lauscher aufgestellt, Nase im verrußten Wind, große Klappe sowieso. Immer det letzte Wort. Nüscht vapassen, jetzt komm’ ikke.

Ging zur Oberschule, schrieb von schlauen Mädchen ab und machte im dritten Anlauf als erster im Block Abitur. Landete bei der Berliner Polizei, das Richtige tun, zu den Guten gehören. Papa war stolz, Mama bügelte die Uniform.

Er zog weg aus Neukölln, traute sich immer mehr, linste zu den Kollegen von der Kripo. Das wär was. Ganz andere Liga. Sperrte wieder alle Sinne auf, wurde verlacht, keiner war jemals von den Uniformierten gewechselt. Oskar Blum wollte der erste sein. Schob sich in wichtige Vorzimmer, schenkte Sektretärinnen Zeit und Pralinen, füllte sorgfältig Anträge aus. Trank Bier mit Kriminalern, berlinerte und baggerte. Den Polizeipräsidenten rührte sein Aufsteigereifer, er bekam die Ausnahmegenehmigung. Is ’n Netter, aber schafft der soundso nich’.

Er büffelte und sein ganzes uniformiertes Revier half. Hörte ab, schob Dienste zur Seite und saß daumendrückend im Flur, als es so weit war. Oskar trickste, quatschte, riß mitten in der Prüfung Neuköllner Witze, legte seine Straßenkindheit auf die ächzende Waagschale und schaffte es. Der Flur jubelte, verteilte Selbstgebrannten, klopfte Schultern, stolz, daß es einer von ihnen geschafft hatte, sicher, daß Blum sie alle nie vergessen würde.

Oskar landete bei der Kripo und grub sich wieder ein. Lernte Geburtstage, kommentierte Ehesorgen und Kindernöte und machte sich unersetzlich. Wurde in Fußballmannschaften gewählt, zu Besäufnissen und auf Schrebergartenpartys geladen und paddelte in seinem Element. Kannte jeden, grüßte jeden, war einer der ihren.

Und dann kam ein Akademiker zu ihnen in die Keithstraße. Jakob Hagedorn. Lange Latte, schluffiger Gang, den er auch noch stundenlang durch menschlich ausgebombte Gegenden lenkte. Wald und Flur, so was. Und wenn er nicht latschte, dann las er. Hatte zuhause Altbauwände hoch bis zum Stuck voller Bücher.

Dazu verträumt wie ’ne Jungfrau, aber einen Blick, der wie eine Schußfahrt durch Deine Seele donnert. Bis in den allerletzten Winkel. Seine blauen Augen zogen Oskar aus, betrachteten ihn von allen Seiten und reichten ihm eine flauschige Decke. Oskar hatte nix zu verbergen, zumindest nicht vor diesem Blick, fand die Decke wohlig und hatte zum ersten Mal im Leben einen richtigen Freund. Erfuhr dann alles über ihn. Von der umtriebigen Kindheit mit den bösen Zwillingen Manie und Depression seines bildhauernden Vaters und eines späten Abends vom langen Trauerflor über der toten Mutter.

Oskar schob seinen neuen Freund durch eingetretene Türen und übergab ihm lamentierende Mörder zusammen mit deren neunmalklugen Anwälten. Der Neuköllner übernahm das Geplauder mit Uniformierten, kotzende Säufer und den Abtransport der Leichen. Seinem Freund legte er heulende Witwen und rotzende Waisen in den Arm und überließ ihm jene Fragen nach dem großen Ganzen, die Oskar in Alkohol einlegte.

Das Arbeiterkind bestaunte Jakobs lässige Größe, noch mehr aber seine Arbeit. Während Oskar mühsam den Hauptweg aus Fakten freiharkte, stieg sein Freund im Kopf um zwölf Ecken, fand mitten im Geröllfeld Wege und knöpfte Verdächtigen durch seinen Grubenblick das Herz auf. Selbst mieseste Killer gierten nach seinem Verständnis. Als Jakob dann auch noch Geister von Mordopfern sah, die ihm den Weg zum Täter wiesen, war es zu spät für Oskars treue Neuköllner Seele.

Natürlich überforderte ihn das. Er war Bulle, hatte das Abitur mit Petting gewonnen, schnarchte bei jedem Buch ab Seite fünf, hatte keinen Bock, irgendwelchen Arschlöchern in die Seele zu gucken und war froh, wenn ihn Geister, die es natürlich ohnehin nicht gab, in Ruhe ließen. Aber wen interessierte das schon. Irgendwer da oben hatte ihm diesen langen Spinner auf den Schoß gesetzt, da half kein Jammern. Oskar hob also die Fäuste hoch und verteidigte den Paradiesvogel gegen jeden, der auch nur zischend Luft holte.

Und Luft geholt wurde reichlich. Erst fand man die Geisternummer kleidsam und verdrehte in Jakobs Rücken die Augen. Aber dann entdeckte die akademische Wunderlatte, daß der altgediente Kollege Pommerenke seine Geliebte ermordet und einen Unschuldigen an seiner statt hinter Gittern versenkt hatte. Die Reihen schlossen sich. Nicht hinter Jakob, dem Aufdecker und Moralisten, sondern rings um die mordende Kumpelseele Pommerenke.

Oskar wich mit seinem Franzosen fluchend einem auf dem Weg liegenden Ast aus. Achsbruch im Wald, das fehlte ihm noch. Ruf mal eine Pannenhilfe in die Berliner Forsten.

Das wäre ein Fall für Jakob, überall Gegend, Bäume bis zum Horizont. Oskar gehörte auf Asphalt. Baumscheiben für die Fiffis, der Rest für ihn. Als er acht war, fand der Vater seinen Sohn zu fipsig und verordnete sonntäglich frische Luft. Oskar schlug das gerade anlaufende deutsch-amerikanische Volksfest vor. Stattdessen nahmen sie U-Bahn und Bus, um auf irgendeiner Ausflugswiese zu landen, meist am Wasser. Dann gab es rote Weiße, die Sonne brannte, Oskar langweilte sich und zählte Bäume.

Er brauchte das alles nicht. Sicher war Berlin quietschgrün. Spree und Havel, die Seen, der Tegeler Forst, die Müggelberge, der Grunewald. Und dazu der Kleinkram der Proletenstadt. Kein Kiez ohne Park, alle grillten auf löchrigem Rasen, fläzten sich auf Bänken, rauchten Tabak und Shit, tanzten zu orientalisch jaulenden Radios, sangen sozialistische Kampflieder unter klapprigen Bäumen, führten scheißende Hunde und Pflanzen rausreißende Kinder in Wald und Flur, einzigartig. Zum Protzen in der weiten Welt war das super, aber nüscht für Oskars Freizeit.

Die letzten zweihundert Meter bis zum Tatort mußten sie doch zu Fuß gehen, Oskars Schuhe sahen aus wie die eines Bauern, er war sauer. Auf einer kleinen Lichtung abseits des schmalen Waldweges tummelten sich die Kollegen. Oskar sah kein einziges Auto, nur zwei an einen Baum gelehnte Fahrräder. Wollten die die Leiche auf den Gepäckträger nehmen?

»Morgen, Hanno«, sagte er zum Rücken des Spurensicherers. Hanno trat einen Schritt zurück, in Oskars Magen schaukelte das hastige Frühstück. Er zählte auf die Schnelle sieben Einzelteile einer Frau. Knapp vor ihm lag eine Hand, der kleine Finger fehlte zu zwei Dritteln, die übriggelassenen Nachbarn leuchteten rot lackiert. Teure Klunker, scharfer Mini, abseits lagen schicke Pumps. Völlig deplaziert, mal abgesehen vom zerfledderten Zustand des Körpers.

»Unsere Schlachtermeisterin aus Baden-Württemberg wäre beleidigt«, sagte Hanno. »Kein Handwerk, eine Riesenschweinerei.«

Oskar schluckte. »Der fehlt ja ein Ohr.«

»Das nehmen sie gern zu Anfang.«

»Wer, zum Teufel?«

»Die Wildtiere«, sagte Hanno. »Ratten, Füchse, so’n Zeugs. Genauer kenn’ ich mich nicht aus, Wald ist nicht so mein Ding.«

»Was Du nicht sagst.«

Hanno lachte. »Deins auch nicht, soweit ich weiß.«

»Aber eine Frau ist das schon?« Oskar sah sich um.

»Einen Schwanz brauchen wir gar nicht erst zu suchen.«

»Der kommt noch vor den Ohren?«

»Sie hatte keinen. Eine Brust ist übrigens auch weg. Sieht man bloß nicht durch das viele Blut und den dunklen Pullover.«

Oskar wurde grau.

»Jetzt kotz’ mir hier nicht hin, Hauptkommissar.« Hanno klopfte ihm auf die Schulter. »Die nächste Leiche finden wir sicher wieder in geschlossenen Räumen.«

»Wenigstens ein versiffter Hinterhof dürfte es sein.« Oskar sah zu den Bäumen hoch und auf den knallblau zuversichtlichen Berliner Himmel dahinter. »Wißt Ihr schon was über die Todesursache?«

»Nee, das dauert. Außerdem war noch kein Rechtsmediziner da. Aber wenn Du mich fragst, wir sind hier im Hundeauslaufgebiet.«

»Was soll das heißen?«

»Hunde stammen von Wölfen ab, Du weißt schon.«

»Berliner Fiffis sollen eine Frau zerfleischen?«

Hanno beugte sich vertraulich zu Oskar vor. »Mich hat mal ein Pudel gebissen. Mußte mit vier Stichen genäht werden.«

»Der wollte an Deine Eier, wetten?« Oskar lachte und zog sein Handy aus der Tasche. »Das heißt, ich soll hier ermitteln. Kein harmloser Suizid, kein Herzinfarkt durch Sauerstoffüberschuß?« Er deutete auf den Wald ringsum. »Oskar Blum unter Eichen.«

»Das sind Buchen, Du Depp«, sagte Hanno.

Oskar seufzte. »Das habe ich schon befürchtet.« Er tippte die Kurzwahl Null in sein Handy. Das war eindeutig etwas für kopfkranke Geisterseher.

399
573,60 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
371 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783945611050
Издатель:
Правообладатель:
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