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Lager Ravensbrück; Zeichnung von Aat Breur

LORETTA WALZ

»Und dann kommst du dahin
an einem schönen Sommertag«
Die Frauen von Ravensbrück

Verlag Antje Kunstmann

Gefördert von der Stiftung ERTOMIS, Wuppertal

In Zusammenarbeit mit dem Institut für

Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen

und der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

INHALT

Erinnern an Ravensbrück von Sigrid Jacobeit

Vorwort von Alexander von Plato

EINLEITUNG

»ALLES VERGESSENE SCHREIT IM TRAUM UM HILFE«

BEGINN DER SAMMLUNG

FUNKTIONSHÄFTLINGE: ZWISCHEN PRIVILEG UND WIDERSTAND

BLOCKÄLTESTE IN RAVENSBRÜCK

HÄFTLINGE IN DER SS-KÜCHE

»EIN HELFERSHELFER ZU SEIN IST SCHRECKLICH FÜR DIE SEELE«

»GETEILTER SCHMERZ IST HALBER SCHMERZ«

ZWEI TSCHECHINNEN IM RAVENSBRÜCKER KRANKENREVIER

AUS DER WIDERSTANDSBEWEGUNG INS KZ

EINE JÜDIN IN RAVENSBRÜCK

DIE MEDIZINISCHEN EXPERIMENTE

»MAN KANN DAS GAR NICHT SO SAGEN, WIE’S WIRKLICH WAR …«

STERILISATIONEN VON SINTI UND ROMA

ALS KIND IN RAVENSBRÜCK

»OJ BOŽE! OJ MAMA! – OH GOTT! OH MUTTER!«

GEBURTEN IN RAVENSBRÜCK

ANHANG

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAPHIE

LAGEPLAN

DANKSAGUNG

ERINNERN AN RAVENSBRÜCK

Die Erinnerung an Ravensbrück braucht engagierte Menschen. Erika Buchmann, Aenne Saefkow und andere Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers haben Beispiele gesetzt. Sie begannen unmittelbar nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, Zeugnisse der KZ-Zeit zu sammeln, um über den Ort der unzähligen Verbrechen zu informieren. Als Zeuginnen des Geschehenen baten sie ihre ehemaligen Mitgefangenen um Dokumente, Briefe, Fotos, um Gegenständliches wie Kleidung oder Kleidungssymbole, künstlerisch Gefertigtes, bisweilen Geschnitztes, winzig klein aus Stielen von Zahnbürsten, um im Lager entstandene kleinstformatige Alben oder Büchlein, die Geburtstags- oder Namenstagsgeschenke waren, und anderes mehr.

Die erste Ausstellung der am 12. September 1959 eröffneten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zeigte diese Überbleibsel, die im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zu musealen Kostbarkeiten avancierten. Dennoch fehlte diesen »echten« Erinnerungsstücken oftmals eine individuelle mündliche Geschichte, die die Dinge, entsprechend dem althergebrachten museologischen Credo, zum Sprechen bringen könnte. Ravensbrück, der Verbrechensort zwischen 1939 und 1945, braucht diese Sprache, die Sprache als Erinnerung der einst an diesen Ort deportierten Frauen, Männer und Kinder.

Loretta Walz hat diese Sprache der Erinnerung schon vor mehr als zwei Jahrzehnten fasziniert. Eine erste Begegnung unmittelbar nach meinem Amtsantritt in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück im Dezember 1992 hatten wir sehr bald verabredet. Die Sowjetarmee räumte gerade das ehemalige KZ-Gelände. Wir planten gemeinsam die notwendige ›Spurensuche‹ auf dem durch militärisch genutzte Überformung verwandelten Ort; eine Spurensuche mit Ravensbrückerinnen, wie wir die Überlebenden ganz selbstverständlich nannten, begleitet von Kamera, Mikrofon und unseren Fragen. Edith Sparmann aus Dresden, Helga Luther aus Berlin und Gertrud Pötzinger/ Niederselters waren im Jahr 1993 die ersten Eingeladenen. Sie sprachen viele Stunden über ihre sehr emotional geprägten Erinnerungen, über die entwürdigende Prozedur der Ankunft, die Unterbringung in den Baracken, die Appelle auf der Lagerstraße, die Arbeit als sinnlose, aber auch als beruflich erlernte Tätigkeit, die Orte des Häftlingseinsatzes und der SS. Mit ihnen suchten wir die baulichen Relikte der KZ-Zeit innerhalb und außerhalb des Lagerkomplexes. Es entstand der erste dreißigminütige Begleitfilm »Spurensuche« zur Ausstellung »Ravensbrück. Topographie und Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers«, die wir am 23. Mai 1993 in Anwesenheit der Interviewten eröffneten. Sie – die Überlebenden – haben wiederum Beispiele gesetzt mit ihrem Engagement für den Ort, ihrer ungebrochenen physischen und psychischen Stärke. Interviewsituationen als Begegnungen, die zur Fortsetzung mahnten, die unvergesslich sind.

Die Zusammenarbeit mit Loretta Walz und den Ravensbrückerinnen begann als Programm, für das uns Eile geboten schien. Es war nicht an den Ort gebunden, vielmehr an die Zeitzeugen selbst, die das Lagergeschehen in sich tragen. So entwickelten wir ein inhaltliches und immer wieder auch ein finanzielles Realisierungskonzept für ein Interviewprogramm in Ravensbrück, aber auch an weit entfernten Orten. Mit der Fokussierung auf die gesamte Lebensgeschichte und der Schwerpunktsetzung auf die Haftzeit war es mehr als richtig, zu den Ravensbrückerinnen nach Hause zu fahren, ob nach Warschau, Prag, Hamburg oder Odense – Ort des Lebensabends der Dänin Astrid Blumensaadt-Petersen, die uns mit ihren Ravensbrücker Zeichnungen und ihren zahlreichen Zeugnissen aus jener Zeit eine reiche Begegnung ermöglichte. Thematische Schwerpunkte kristallisierten sich heraus: so die pseudomedizinischen Versuche an Polinnen, die Geburten und die Kinder, die Rolle von Siemens in Ravensbrück, das Schicksal von Sinti, Roma und Jüdinnen, das Jugend-KZ Uckermark – der vorliegende Band ist ein Spiegelbild der umfassenden Fragestellung und Sammlung.

Loretta Walz hat mit leidenschaftlicher Hingabe und auf vorbildliche Weise das gewachsene Interesse der Historiker an kollektiver Erinnerung um die individuelle Erinnerung von Überlebenden des KZ Ravensbrück ergänzt. Sie hat Frauen und Männer befragt. Gegenstand ihres Engagements für Ravensbrück ist der Mensch oder besser die Menschen oder noch genauer die Menschen in der Zeit.

Für die Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist eine Mediathek als Schatzkammer entstanden, die ihresgleichen suchen wird; mit diesem Buch zugleich ein herausragend passioniertes Werk, das, um es mit Marc Bloch zu sagen, »Gelehrten und Schuljungen gleichermaßen verständlich« sein wird.

Es ist mir eine große Freude, dass unsere wissenschaftliche wie menschliche Zusammenarbeit aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung diese außergewöhnliche Veröffentlichung erfährt. Ich danke dem verständnisvollen Antje Kunstmann Verlag. Ich danke Loretta Walz, die gewissermaßen als Architektin und Bauleiterin, als Dramaturgin, Psychologin und Pädagogin, unterstützt von ihrer Familie und von ihrem sympathischen Team, das Werk vollbracht hat – und ich danke den Ravensbrückerinnen von ganzem Herzen.

Sigrid Jacobeit

Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/

Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

VORWORT

Wir leben an der Schwelle von Zeitgeschichte zur Geschichte, was den Nationalsozialismus betrifft. Diejenigen, die diese zwölf Jahre bewusst erlebt oder erlitten haben, sterben aus. Damit wird bald ein wesentliches Element in der Kommunikation um diese »tausend Jahre« fehlen. Die Historiographie wird sich auf eine Geschichte ohne lebendige Zeitzeugen einstellen oder gar auf die Entwicklung von einer »erfahrungsgesättigten« zu einer »erfahrungslosen« Vergangenheit. So behauptet es manch ein Historiker. Aber ist dies noch richtig?

Es wäre wohl richtig, gäbe es nicht inzwischen eine Historiographie und einen Journalismus, die es sich zur Aufgabe machen, Erfahrungen von Zeit- und Augenzeugen in Gestalt von Audio- und Videointerviews zu sammeln. Damit werden künftigen Generationen in Wissenschaft und Journalismus Quellen für eine Erfahrungsgeschichte in einem Ausmaß überliefert, wie sie früheren Generationen nie zur Verfügung standen.

Die Filmemacherin Loretta Walz gehört an hervorgehobener Stelle zu diesen Journalistinnen. Sie verbindet die Vorzüge ihrer Zunft mit den Vorzügen einer Geschichtswissenschaft, die Erfahrungen ernst nimmt. Sie hat sich nie darauf eingelassen, Aufnahmen von Zeitzeugen und besonders -zeuginnen, vor allem des Nationalsozialismus, als einfache Illustrationen zu aus Akten oder Vorurteilen deduzierten Theorien heranzuziehen. Sie hat selbst dann lebensgeschichtliche Interviews geführt, wenn sie wusste, dass sie nur Ausschnitte daraus für ein bestimmtes Thema verwenden würde. Damit hat sie nicht nur sich – mit großem persönlichen und finanziellen Einsatz – den Blick geöffnet, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Erinnerung im Lichte eines gesamten Lebens und dessen Wechselfällen interpretieren zu können, sondern auch künftigen Forschern und Forscherinnen umfangreiches Interpretationsmaterial an die Hand gegeben.

Loretta Walz hebt sich damit – das darf ich nach mehr als fünfzehn Jahren der Zusammenarbeit sagen – wohltuend ab von jenen Journalisten, die Zeitzeugen unabhängig von ihrem sonstigen Verhalten zitieren oder gar ohne jeden anderen Bezug als die eigentlichen Verkünder historischer Wahrheiten auftreten lassen, etwa Teilnehmer am militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 ohne deren vorheriges Verhalten in der militärischen Entwicklung des Nationalsozialismus. Sie nimmt damit auch die Augenzeuginnen ernster als jene, die sie politisch oder medial instrumentalisieren oder gar heroisieren. Loretta Walz hat dies im Laufe ihrer Arbeit mehr und mehr vermieden, auch wenn ihre besonderen Sympathien deutlich werden. Die Zeitzeuginnen werden nicht zu widerspruchsfreien, hehren Heldinnen der Geschichte zurechtgemodelt; Loretta Walz belässt ihnen ihre Ängste und Beschränkungen, ihre Fehler und Schuldgefühle, auch und gerade dann, wenn sie ihre Stärken, ihren Lebensmut und ihre Hoffnungen inmitten von Schreckenserfahrungen darstellt.

Auch das einfache Mitleiden mit diesen Frauen kann eine Gefahr sein, indem man sie nur als Opfer begreift, ohne die anderen Aspekte ihres Lebens zu sehen, die trotz dieser KZ-Erlebnisse in ihrer weiteren Biographie eine Rolle spielten. Gerade in diesen Teilen der Gespräche, die Loretta Walz aufgenommen hat, ist das weibliche Element besonders spürbar: die geringere Selbstinszenierung der »heroischen« Seiten ihrer Gesprächspartnerinnen, ihre Lebensfreude in einem »anderen Leben« mit seinen vielfältigen Facetten, aber auch die offene Trauer, wenn der »Ravensbrücker Teil« ihrer Erfahrungen allzu dominant wurde und in ihr neu gewonnenes Leben zerstörerisch eingriff; die Zurückhaltung in der Verurteilung von Schwächeren, die Bescheidenheit in ihrem Mut und ihr Humor.

Die Sammlung, um die es in diesem Buch geht, ist einzigartig: Seit 1980 hat Loretta Walz lebensgeschichtliche Interviews mit früheren »Ravensbrückerinnen« geführt. Inzwischen sind es mehr als 200 Gespräche geworden. Das ist für sich genommen bereits einmalig. Hinzu kommt, dass ihre Sammlung die Zeit, in der die Erinnerungen erzählt wurden, doppelt spiegelt: zum einen durch die Darstellung der Erlebnisse ihrer Interviewpartnerinnen in ihren kulturellen, familiären und politischen Umfeldern; zum anderen durch die eigene, nicht gleich gebliebene Haltung der Person Loretta Walz als Interviewerin und Filmemacherin. Auch sie hat sich verändert im Laufe der Beschäftigung mit diesem Thema, einmal durch diese Arbeit selbst, aber auch durch die Veränderungen in der »großen Politik« und in ihrem persönlichen Leben. Ihr Blick ist im Laufe der Jahre weiter geworden, hat sich den Widersprüchen im Leben ihrer Partnerinnen ebenso gestellt wie ihren eigenen Veränderungen.

Auch die von ihr befragten Frauen mussten ihre Erinnerungen angesichts der unterschiedlichen späteren Sichtweisen in verschiedenen politischen Systemen behaupten oder neu überdenken, zunächst in Ost und West nach dem Krieg, dann nach der großen Wende in ihren Heimatländern Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht nur eine besondere Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, die hier zum Vorschein kommt, sondern ebenso Osteuropas nach der Wende von 1989. Damit ist diese Sammlung auch für die historische Zunft ein besonderer Gewinn, weil sie deutlich macht, inwieweit und wie die Erinnerungen der Interviewpartnerinnen von der jeweiligen Zeit mit ihren politischen Verarbeitungs- und Interpretationsangeboten beeinflusst wurden.

Die Interviewpartnerinnen sind alt geworden, stehen vor ihrem Tod und müssen befürchten, dass ihre Erinnerungen nicht mehr ernst genommen werden oder dass sich eine neue Zeit ihre Schilderungen verändert aneignet, weil man ihnen nicht glauben mag. Auch diese Sorge spürt man in den jüngeren Interviews. Aber es ist nicht nur die Melancholie der Vergänglichkeit, die einen anweht beim Ansehen und Anhören der Gespräche. Es ist auch die Hoffnung dieser Frauen, dass ihre Erlebnisse, ihr Beispiel und ihr Überleben, in dem sie – unter anderem in dieser Sammlung – Zeugnis von dieser Zeit ablegen konnten, nicht umsonst waren, sondern als Warnung für neue Generationen mit eigenen Schrecken dienen können, eventuell sogar als Beispiel, wie man sich im unerwartet Furchtbaren behaupten kann und muss. Die »Ravensbrückerinnen« wollen nicht als Heldinnen instrumentalisiert, sondern als Menschen mit allen Ängsten wahrgenommen werden, auch mit den schwierigen Situationen, in denen sie sich zwischen Widerstand, Anpassung und Kompromiss zu entscheiden hatten. Die Hoffnung allerdings, dass Kompromiss und Anpassung vielleicht doch eine positive Wirkung gegen staatlichen Terror, Rassismus, Gewalt und Brutalität haben könnten, hatte sich fast immer als vergebens erwiesen.

Eine private Bemerkung zum Schluss: Ich freue mich persönlich außerordentlich, dass Loretta Walz einen Teil ihrer Arbeiten unter unserem »Dach«, dem des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen, machen, ihre Ravensbrück-Sammlung erweitern und mit uns viele Filme produzieren konnte.

Alexander von Plato

Leiter des Instituts für Geschichte und Biographie

der Fernuniversität Hagen


Filmaufnahmen im Lager Ravensbrück, 1994

EINLEITUNG

Die in diesem Buch vorgestellten Biografien sind Teil einer in fünfundzwanzig Jahren entstandenen Sammlung von lebensgeschichtlichen Videointerviews mit Überlebenden der drei Frauen-Konzentrationslager Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück.

Begonnen habe ich diese Interviews Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nachdem ich die ersten Frauen aus dem Kreis der ›Lagergemeinschaft Ravensbrück der Bundesrepublik Deutschland‹ – dem Zusammenschluss der Überlebenden der Frauen-KZ – kennen gelernt hatte.

Ein Vierteljahrhundert ist ein vergleichsweise langer Zeitraum für ein derartiges Sammlungsprojekt und führt zu einigen Besonderheiten und Problemen in der Projektarbeit. So war meine Arbeit von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen dieser Zeit geprägt und von einem stetigen Zuwachs an immer neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Erworbenes Wissen ermöglichte vertiefende Fragen und schuf größere Zusammenhänge. Die Überlebenden der Konzentrationslager wiederum erfuhren in diesen fünfundzwanzig Jahren sehr unterschiedliches Interesse an ihren Erinnerungen, was die Art und Weise sowie die Inhalte ihrer Erzählung beeinflusste.

Moringen, Lichtenburg, Ravensbrück

Ab Juni 1933 wurden in ›Schutzhaft‹ genommene Frauen aus dem deutschen Reichsgebiet im früheren ›Werkhaus‹ der Kleinstadt Moringen bei Göttingen inhaftiert. Als dieses erste reine Frauen-KZ zu klein geworden war, wurden die Häftlinge im März 1938 in das KZ Lichtenburg an der Elbe gebracht. Im Mai 1939 erfolgte ihre Verlegung in das neu errichtete Frauen-KZ Ravensbrück, achtzig Kilometer nördlich von Berlin.

Ravensbrück war als so genanntes ›Schutzhaftlager‹ für zehntausend weibliche Häftlinge errichtet worden. Dorthin wurden Frauen aus Deutschland und aus den von der Wehrmacht besetzten Ländern gebracht, die sich – tatsächlich oder vermeintlich – dem NS-Regime bzw. der Besatzung widersetzt hatten oder aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Überzeugung nicht in das nationalsozialistische Bild der ›Volksgemeinschaft‹ passten. Andere Inhaftierungsgründe waren Kriminalität oder ›asoziales‹ Verhalten, wobei keinerlei rechtsstaatliche Grundsätze Beachtung fanden. Selbst ein Witz über Hitler, Hilfe für Verfolgte oder eine Beziehung zwischen Deutschen und Juden – die so genannte ›Rassenschande‹ – konnten Gründe für eine Haft im KZ sein.

Wie in allen KZ wurden die Häftlingsgruppen mit Winkeln gekennzeichnet: Politische Häftlinge bekamen einen roten, ›Asoziale‹ einen schwarzen, ›Kriminelle‹ einen grünen und Bibelforscherinnen (Zeuginnen Jehovas) einen lila Winkel. Jüdinnen wurden gesondert gekennzeichnet. Ausländerinnen galten in der Regel als ›Politische‹, Sinti und Roma als ›Asoziale‹.

Von 1939 bis 1945 durchliefen ca. 123.000 Frauen, Mädchen und Kinder das Frauen-KZ Ravensbrück. In diesen sechs Jahren veränderte sich der Anteil der einzelnen Häftlingsgruppen im Lager ständig. In der Anfangszeit waren überwiegend Deutsche inhaftiert. Mit Kriegsbeginn wurden zunehmend Frauen aus den überfallenen und besetzten Ländern eingeliefert. Insgesamt bildeten Polinnen und sowjetische Frauen die größten Gruppen in Ravensbrück. Bis 1942 waren nur etwa zehn Prozent der Häftlinge in Ravensbrück Jüdinnen.1 Heinrich Himmlers Anweisung, die »reichsdeutschen Lager judenfrei zu machen«, führte im Oktober 1942 dazu, dass nahezu alle Jüdinnen nach Auschwitz oder in andere Vernichtungslager deportiert wurden.2 Erst im Sommer 1944, nach der Einlieferung ungarischer, polnischer und slowakischer Jüdinnen und nach den großen Evakuierungstransporten aus Auschwitz, erhöhte sich die Anzahl der Jüdinnen in Ravensbrück wieder.

Die genaue Anzahl derjenigen, die das Lager nicht überlebten, lässt sich bis heute nicht ermitteln, da es sowohl Entlassungen gab wie auch Transporte in die zahlreichen Nebenlager der Rüstungsindustrie oder in die Vernichtungslager Auschwitz, Mauthausen, Majdanek, Bergen-Belsen u.a. Ravensbrück war bis Ende 1944 kein ›Vernichtungslager‹ im eigentlichen Sinne, auch wenn die so genannte »Vernichtung durch Arbeit« tägliche Realität war. Die Massentötung von entkräfteten oder kranken – somit arbeitsunfähigen – Frauen begann jedoch ab Januar 1945 durch Verhungern, Giftspritzen und Massenhinrichtungen. Ende 1944 war bereits mit dem Bau einer Gaskammer begonnen worden. Bis zu ihrer Fertigstellung wurden in einer provisorischen Gaskammer bis April 1945 etwa 6000 Häftlinge ermordet. Die Gesamtzahl der in Ravensbrück Getöteten wird aufgrund der Quellenlage auch in aktuellen Forschungsberichten mit »mehreren Zehntausenden« umschrieben. Bislang sind der Gedenkstätte Ravensbrück 13.500 Tote namentlich bekannt.

Startpunkt Bundesrepublik

Da die Sammlung in der (alten) Bundesrepublik Deutschland begann, richtete sich mein Blick anfangs auf die westdeutschen Überlebenden. Später weitete er sich nach Westeuropa aus und erst Anfang der neunziger Jahre auf die zu diesem Zeitpunkt bereits ›ehemalige‹ DDR und nach Osteuropa.

Während das Schicksal von Frauen in den KZ zunächst nur vereinzelt erforscht wurde, setzte Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre ein regelrechter Boom von Veröffentlichungen über die ›Frauengeschichte‹ der Konzentrationslager ein3. Die ersten Frauen, deren Erinnerungen an die Öffentlichkeit kamen, waren diejenigen, die in den politischen Verfolgtenverbänden (Lagergemeinschaft Ravensbrück und/oder Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – VVN) organisiert waren. Mit wenigen Ausnahmen waren auch die meisten meiner ersten – deutschen – Interviewpartnerinnen schon in ihrer Jugend Mitglied in kommunistischen Jugendorganisationen gewesen, später in der KPD und zum Zeitpunkt des Interviews in der DKP organisiert. Andere waren Mitglieder kirchlicher, sozialistischer oder sozialdemokratischer Organisationen. Ihr Engagement in der Frauen- oder Friedensbewegung brachte sie mit Journalisten und Journalistinnen, Filmemachern und Filmemacherinnen in Kontakt, die sich für die Veröffentlichung ihrer Erinnerungen einsetzten. Lehrer und Lehrerinnen begannen die Überlebenden der Konzentrationslager in Schulen und Volkshochschulen einzuladen; bei Seminaren – beispielsweise in Frauenzentren – berichteten sie von ihren Erfahrungen während des Nationalsozialismus.

Diese erste Gruppe von ›Ravensbrückerinnen‹, die in die Öffentlichkeit traten, bildeten die ehemals politischen Häftlinge, die wegen ihres Widerstands gegen den NS-Staat in Gefängnisse, Zuchthäuser und KZ eingesperrt worden waren. Sie hatten ihren Kampf ›Gegen das Vergessen‹, für ›Frieden und Freiheit‹ nie aufgegeben, doch ihrer ganz persönlichen Geschichte oftmals keine große Bedeutung beigemessen.

Doch die Nachkriegsgeneration (zu der auch ich gehöre) hatte lange genug Geschichte aus zweiter und dritter Hand vermittelt bekommen und wollte ›erlebte Geschichte‹ erfahren. Die Möglichkeit, diejenigen zu befragen, die aus eigener Erfahrung sprechen konnten, bot auch eine Chance, das Jahrzehnte währende Verschweigen der NS-Geschichte zu durchbrechen.

Als nun die Generation der Kinder und Enkel sie darum bat, aus ihrem Leben zu erzählen, sahen die Frauen in dem wachsenden Interesse an ihrer Geschichte einerseits eine Bestätigung ihres lebenslangen Kampfes. Andererseits mussten die Überlebenden vor dem Schritt in die Öffentlichkeit erst das Schuldgefühl überwinden, überlebt zu haben. Sie wollten, dass die Würdigung und auch die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Verfolgung unbedingt einhergehen sollte mit der Würdigung derjenigen, die nicht überlebt hatten.

Entsprechend zurückhaltend und bescheiden und nur selten offensiv war der Weg der Überlebenden in die Öffentlichkeit.

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9783956140198
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