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LIDA WINIEWICZ

SPÄTE GEGEND

Protokoll eines Lebens


Späte Gegend erschien erstmalig 1986 beim Paul Zsolnay Verlag.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: Shutterstock / © Everett Collection

ISBN 978-3-99200-281-8

eISBN 978-3-99200-282-5

Inhalt

Späte Gegend

Worterklärungen: Österreichisch – Deutsch

»Späte Gegend« – so heißt bei uns die, wo ich her bin. Weil alles später reift. Wenn überhaupt: Manches reift gar nicht.

Das wächst nicht.

Jetzt ist das anders, seit es den Kunstdünger gibt und die Unkrautvertilger. Die schaden, aber schuld sind die großen Mähdrescher: blasen das Unkraut einfach aufs Feld zurück, dort bleibt es liegen und keimt, und dann braucht man im nächsten Frühjahr mehr Kunstdünger und mehr Vertilger und noch mehr und immer mehr, und das kann auf die Dauer nicht guttun.

Wir haben das Unkraut mit der Hand ausgerissen. Trotzdem ist bei uns, wie ich jung war – jetzt bin ich siebenundsiebzig –, nicht einmal Obst gediehen.

Der Nikolo hat mir einmal zwei Äpfel gebracht, vier Stück Zucker und einen Bleistift, alles in einer Hirschseifeschachtel. Die gibt’s heute auch nicht mehr, die Hirschseifeschachteln. Ich weiß, ich war damals keine fünf Jahre, aber mehr gefreut hab ich mich mein ganzes Leben mit nichts als mit dieser Hirschseifeschachtel, und so sehr gefreut, wie mit der, wenn ich alles zusammennehme, vielleicht allerhöchstens zehnmal. Das macht, ungefähr gerechnet, jedes siebente Jahr eine Freude. Vielleicht ist das gar nicht so wenig. Manche Leute freuen sich nie.

Der Nikolo war ein Soldat, ein Bauernsohn von gegenüber, der war einen einzigen Tag vom Ersten Weltkrieg daheim, und an diesem Tag, da ist er zu uns herübergekommen. Das war eine große Ehre: wir waren Kleinhäuslerskinder.

Dass es der Soldat war, das hab ich erst Jahre später begriffen. Wie er bei uns war, war er der leibhaftige Nikolo. Zum Glück ist er nicht gefallen, aber lang gelebt hat er nicht, obwohl er kein Steinmetz war.

Am Abend vorm Lichtanzünden, wenn’s nicht mehr hell genug war zum Arbeiten, aber nicht finster genug für teures Petroleum, da sind die Frauen mit uns Kindern drinnen in der Stube gesessen und haben für die Männer gebetet, die draußen im Krieg waren, für alle, Rosenkranz um Rosenkranz.

Wann ich beten gelernt hab, das könnt’ ich heute nicht mehr sagen, aber ich weiß, die Mutter hat das Jüngste (wir waren sechs Geschwister) bei sich gehabt im Bett, nicht mehr an der Brust, aber fast, und das hat schon mitbeten müssen. Drum denk’ ich, ich werd’s wohl auch um die Zeit bei der Mutter gelernt haben, und wenn ich schon im Reden bin, dann sollt’ ich sagen, das Gebet, das ich mit der größten Andacht gebetet hab, mit der meisten, allermeisten Inständigkeit, das war ein Gebet, für das hätt’ ich mich eigentlich schämen müssen, und das ist so zugegangen: Wir haben immer Hunger gehabt. Das war so. Ich wüsst’ keinen Menschen, dem’s besser gegangen wär, keinen jedenfalls, den ich gekannt hab. Wir sind niemals satt geworden.

Unsere zwei Ziegen haben Gras von einem Feldrain gefressen, der hat einem Bauern gehört, Bachecker hat er geheißen, und dafür, dass die Ziegen dieses Gras fressen durften, hat unsere Mutter für den Bachecker arbeiten müssen: Erdäpfel graben, heuen, Kraut schneiden, wie’s eben war. Wenn die Ziegen trächtig waren, waren sie auch trocken, das heißt, sie haben keine Milch gegeben. Gefressen haben sie aber doch, also hat für die Mutter die Arbeit nie aufgehört, Milch oder keine Milch.

Die beiden Ziegen haben Evi und Mixi geheißen, immer wieder Evi und Mixi, auch die nachgewachsen sind.

Nun ist eines Tages der Vater aus dem Krieg auf Urlaub gekommen und hat nichts geredet, fast nichts – später hab ich erfahren, warum – und da hat die Mutter die letzten Erdäpfel zusammengeklaubt und das allerletzte Schmalz und hat die Erdäpfel geröstet, mit Zwiebeln, ich riech’ es noch heut’, und vor ihn hingestellt in einer eisernen Rein, und er hat gegessen, und ich, ich bin hinter ihm gestanden und hab ihm zugeschaut und die Hände gefaltet und gebetet, er soll was übrig lassen, mit meiner ganzen Kraft.

Eine Schmeißfliege ist gekommen, dicht vor mein Gesicht. Man sagt, der Teufel kommt gern als Fliege, ich wollt’ ihn verjagen, aber ich hab mich nicht getraut, die Hände auseinanderzutun, wegen der Andacht, aus Angst, dass dann das Gebet nicht mehr hilft.

Der Vater hat alles aufgegessen.

Damals war ich ungefähr sechs.

Mein Vater war Steinmetz. Meine Brüder sind auch Steinmetze geworden. Es hat, außer Steinmetz, für Männer keinen Beruf gegeben, wo sie was verdienen konnten, bei uns in der Gegend. Steine waren genug da: Granit.

Es war da ein ganzes Tal, da sind die Steinmetze gesessen, jeder in einer Art Verschlag, viereckig, an zwei Seiten offen, und haben geklopft. Das waren die richtigen, die gelernten. Die anderen haben die Blöcke im Steinbruch herausgehaut. Die haben auch Steinmetze geheißen, aber nur dem Namen nach.

Steinmetze sind jung gestorben. Das hat man gewusst, das hat niemanden gewundert: die schwere Arbeit, der Steinstaub, das viele Bier. Staub macht durstig. Keiner meiner Brüder ist älter als vierzig Jahre geworden, und der Vater, den hat obendrein der Krieg invalid gemacht.

Ich bin oft ins Steinmetztal – ich war vielleicht sieben, acht Jahre – und hab im Vorübergehen den Steinmetzen zugeschaut. Stehenbleiben hab ich nicht dürfen, weder hin noch her, an beiden Enden hat jemand auf mich gewartet: im Tal der Vater aufs Essen, zu Haus die Mutter mit der Arbeit.

Das Essen war warm – Knödel, Strudel, Sterz, Beerenkoch, nie Fleisch! – und bis ich beim Vater war, war’s ausgekühlt. Zu gehen waren drei Kilometer.

Der Vater hat sich nie beklagt.

Steinmetze sind mit wenig Handwerkszeug ausgekommen: ein Hammer und viele Meißel, vom gröbsten zum allerfeinsten, mehr haben sie nicht gebraucht. Ein eigener Steinmetzschmied hat die Meißel scharf gemacht, mit Feuer und Wasser und Blasbalg. Dann sind die Funken geflogen.

Der Schmied hat Katzberger geheißen. Ich hab mich gefürchtet vor ihm.

Die Arbeit im Tal hat um sieben in der Früh angefangen und bei Dunkelheit aufgehört. Bezahlt wurde Stück für Stück. Die Stücke waren Grabsteine.

Wenn einmal bei einer Verzierung was ausgebrochen ist, und wenn’s was ganz Winziges war, war das ein Abzug. Dann hat der Vater zum Schluss noch weniger Geld heimgebracht und noch weniger geredet.

Zu hören hat’s nicht viel gegeben bei uns daheim. Nicht einmal Glocken! Die Kirche war zu weit weg. Im Dorf war eine kleine Kapelle, aber nur zum Rosenkranzbeten, die hat keine Glocke gehabt.

Wenn ich versuch, mich zu erinnern, was ich gehört hab als Kind, dann hör ich Leute gehen, Leute reden, Feuer prasseln, Wasser sieden, Regen klatschen, Fliegen summen, Türen knarren, Ziegen meckern, Hunde bellen, Katzen maunzen, hie und da die Mundharmonie – ein Bauernsohn in der Nähe hat Mundharmonie gespielt – ah ja, und den Zug! Den Zug, den haben wir pfeifen gehört, von weit, weit her.

Gesehen hab ich einen Zug erst viele Jahre später, gefahren – das erste Mal! – bin ich, da war ich dreißig.

Die Stille bei uns daheim hat auch ihr Gutes gehabt: Die Eltern haben nie gestritten.

Erst im Dienst hab ich erlebt, da war ich schon elf, zwölf Jahre, dass Leute – Eheleute! – einander angeschrien haben. Das hat mich gewundert.

Ich glaub, mein Vater hat sehr schöne Grabsteine gemacht.

Wir hätten uns so einen Grabstein nie im Leben leisten können.

Unsere Stube war klein, und noch kleiner, weil sie so vollgeräumt war. Vier mal fünf Meter, höchstens.

Auf diesen zwanzig Metern ist der Herd gestanden, der Tisch, das große Bett, da drin haben die Eltern geschlafen, meistens mit dem jüngsten Kind, die Truhe, die Bänke – die Bänke waren in die Wand eingelassen –, der Wandschrank mit dem Geschirr, das Brennholz, der Wasserzuber, der Besen, kurz, was man so braucht.

Der Fußboden war gewölbt.

Denn wenn ich vorhin gesagt hab, wir waren Kleinhäuslerskinder, so war das übertrieben. Wir waren nicht einmal das!

Kleinhäusler sind wir erst ein paar Jahre später geworden, mit dem Geld aus Amerika.

Dass der Fußboden gewölbt war, hat seinen Grund gehabt: Unterhalb war der Keller. Da hat es das ganze Jahr eiskalt heraufgeweht.

Der Keller (das ganze Haus) hat einem Bauern gehört. Dafür, dass wir wohnen durften – wir hatten Stube und Kammer –, dafür war die Mutter bei ihm mehr oder weniger im Dienst. Das war aber nicht der Bachecker, das war ein anderer. Er hat Eberstallinger geheißen.

Im Keller waren Kartoffeln und Futterrüben für die Schweine. Wir durften auch Rüben nehmen. Wir haben sie geschält, geschnitten und auf der Herdplatte geröstet. Sie haben uns geschmeckt.

Geheizt haben wir mit Holz.

Holzklauben war Kinderarbeit. Wir sind jeden Tag in den Wald, auf dem Rücken den leeren Tragkorb, und haben ihn voll heimgebracht. Die Körbe sind mitgewachsen. Mein erster Korb war vielleicht dreißig Zentimeter hoch.

Das Holzklauben war geregelt. Man durfte nicht überall, nur auf der »Figur«, »Figur« hat der Streifen Wald geheißen, den man leer klauben durfte. Warum »Figur«, weiß ich nicht.

Der Wald war Herrschaftswald. Ich hab die Herrschaft mein Lebtag nicht zu Gesicht bekommen. Nur einmal hab ich die Kutsche vorüberfahren gesehen, vierspännig, mit einem Kutscher: brauner Mantel, gelbe Knöpfe. Ich hab geglaubt, sie sind aus Gold.

Wir mussten pro Figur im Frühjahr Waldpflanzen setzen. Da war die Mutter dabei.

Sie hat mit der Haue Löcher in den Waldboden gehackt, wir haben die Pflanzen gesetzt, rundherum festgetreten, dann ist der Förster gekommen – er hatte in der Pfeife etwas, das war kein richtiger Tabak und hat schon von weither gestunken –, ist von Pflanze zu Pflanze, sehr streng, hat am Wipferl gezogen und geprüft, ob das Ganze fest sitzt, und wenn nicht, hat er den kleinen Baum vorsichtig herausgezogen und mit uns geschimpft, und wir haben ihn neu setzen müssen. Zum Schluss haben wir die Pflanzen gegossen. Der Förster hat aufgepasst, dass jede Wasser kriegt.

Er selber ist ein paar Jahre später im Rausch und im Schneesturm erfroren, zehn Meter vom Forsthaus entfernt.

Wir waren, ich hab’s schon gesagt, sechs Kinder. Wir hatten zwei Betten: ein Bett für je drei. Im Winter war das schön warm. (Kein Ofen.)

Bettzeug hat’s auch keines gegeben, keines, wie es heut’ welches gibt – Leintücher, Überzüge, Tuchenten, Deckenkappen –, auch keine Matratzen. Ich mein’, gegeben hat es das schon. Aber nicht bei uns daheim.

Die Mutter hat Stroh aufgeschüttet, Bettstroh. Zweimal im Jahr hat sie das Stroh gewechselt, mitsamt den Flöhen. Geholt haben wir’s von den Feldern, wenn sie abgeerntet waren. Das war erlaubt. Was nicht Erlaubtes hätten wir niemals getan.

Über das Bettstroh ist ein großes Tuch gekommen, wir haben uns hingelegt, zwei längs, eines quer zu Füßen, die Mutter hat uns zugedeckt, wir haben abendgebetet (»Jesuskindlein komm zu mir, mach ein frommes Kind aus mir, mein Herz ist klein, darf niemand hinein, als du mein liebes Jesulein«), sie ist mit der Kerze hinaus, und dann war es finster, außer es hat der Mond geschienen, dann haben wir unsere Schürzen vors Kammerfenster getan: Mondlicht macht böse Träume, und Vorhänge waren keine da.

Nicht nur, weil sie teuer waren. Auch wegen der Wäsche. Je mehr, desto mehr Lauge muss sein.

Wir haben mit der Hand gewaschen. Das war nicht schlimm. Schlimm war, dass das blutwenige Geld, das wir verdienen konnten, fürs Nötigste nicht gereicht hat. Die meiste Kraft ist auf die Mühe für Wohnendürfen, Ziegenhaltendürfen, Holzklaubendürfen aufgegangen. Seife war nicht umsonst, so wenig wie Zucker, Salz, Petroleum, Schuhe und so weiter.

Wir haben keine Schuhe gehabt.

Mein erstes Paar Schuhe hab ich mit neunzehn Jahren gekauft, von einem Monatslohn als Großmagd, feste Schnürschuhe, barchentgefüttert. Die hat später die Rosi gestohlen, meine Stiefschwiegermutter, aber so weit bin ich noch nicht.

Wir Kinder sind barfuß gelaufen, jahraus jahrein, außer im Winter. Da hatten wir Holzpantoffel.

Strümpfe hat die Mutter gestrickt. Für die Wolle hat sie einem Bauern, der Schafe gehalten hat, alle vier Wochen Brot gebacken. Da war sie die ganze Nacht weg.

Die meisten Bauern haben damals ein eigenes Backhaus gehabt, zehn Meter vom Wohnhaus entfernt. Man hat am Abend vorher den Sauerteig angerührt und warmgestellt, zwei Stunden später das Mehl in den Backtrog geschüttet, Wasser dazugetan, mit dem Sauerteig verrührt und geknetet.

Fast alle Bauern haben das eigene Mehl verbacken, genauer gesagt, sie haben ihr Korn zum Morawetz geführt – der Morawetz war der Müller – und gegen Mehl eingetauscht. Die Leute haben gesagt, der Morawetz mahlt das Korn in seine eigene Tasche, aber wer steht schon dabei und schaut dem Müller auf die Finger?

Teigkneten war Schwerarbeit, aber trotzdem Weibersache. Wenn er fertig war, hat er »gehen« müssen, derweil hat man den Ofen geheizt. Erst musste er angefüllt werden mit Reisig und Scheiten, bis hinten, nach einer genauen Ordnung. Ein Kind oder ein junger Dienstbot’ ist in den Ofen gekrochen zum Holzschichten, tief nach hinten, sonst hätte die Glut nicht gereicht. Wenn das Kind draußen war, hat man das Holz angezündet, drei Stunden später hat der ganze Backofen geglüht. Jetzt hat man Brotlaibe geformt, in Körbchen getan, die Brote noch einmal gehen lassen und dann in den Ofen geschoben, auf einem Blech mit Stiel. Das Brot war Roggenbrot. Bei manchen Bauern hat man ein Weißbrot mitgebacken, ein »Ahnlbrot« für die Alten, die nicht mehr beißen konnten. Wir haben nie Weißbrot gekriegt. Wir waren froh, wenn Schwarzbrot da war.

Aber ich wollt’ vom Waschen reden: Wir haben Holzaschenlauge genommen, die macht Wäsche weiß. Außerdem haben wir die Stücke draußen auf der Wiese gebleicht, das geht schön in der Sonne, man muss nur gut gießen und wenden.

Unsere Lauge hat dem Boden nichts getan.

Dafür meinen Händen. Seit damals sind sie rot, rissig und rau. Manchmal glaub ich, es sind keine Hände, es sind fünfzackige Krampen.

Man hört manchmal, jemand ernährt sich »von seiner Hände Arbeit«, meine haben mich wirklich ernährt.

Nicht, dass man zur Arbeit nicht auch den Kopf brauchen würde, den braucht man. Handarbeiter, Kopfarbeiter, den Unterschied gibt’s, ich weiß, er hat oft mit Geld zu tun, aber auch die dümmste Arbeit, sagen wir, Stubefegen, ist nicht nur Hände-Arbeit. Ohne Kopf kann man fegen, wie man will, die Stube wird schmutzig bleiben.

Mein Schwiegervater hat einmal einem studierten Herrn aus Wien ein Zimmer vermietet, der hat bei aller Studiertheit kein Feuer zustandgebracht. (Unsere Sommerabende sind kühl, da frieren die Städter. Wir würden da lang noch kein Feuer machen, ich krieg’ sogar Kopfweh, wenn ich in einem warmen Zimmer schlafen muss. Aber meine Enkel wollen auch kein kaltes Schlafzimmer mehr.)

Die erste Arbeit, die ich mit meinen Händen gemacht hab – ich war vielleicht vier oder fünf – war Knopferlnähen.

Fast alle Kinder haben damals knopferlgenäht, sobald ihre Finger die Nadel überhaupt halten konnten.

Knopferlnähen war Heimarbeit.

Wir sind stundenlang gesessen im Winter, wenn’s kalt war, im Bett – und haben knopferlgenäht, Zwirnknöpfe, das heißt, Zwirnknöpfe sind sie durchs Nähen geworden, vorher waren es Ringerln und Zwirn, neunhundertsechzig Ringerln pro Umschlag. Ein solcher Umschlag hat eine »Tasche« geheißen. Die Mutter hat die Ringerln »aufgeschüttet«, haben wir gesagt, und wir haben genäht, und immer, wenn eine Tasche voll war, hat sie die Knopferln gewaschen (wir haben schmutzige Finger gehabt), in die Tasche zurückgetan, die Tasche abgeliefert und Geld dafür gekriegt.

Wie viel es war, weiß ich nicht. Wir haben vom Knopferlgeld Schulzeug – Bücher, Bleistifte, Hefte – gekauft.

Der Tag hat früh angefangen, auch für uns Kinder. Die Mutter ist noch früher aufgestanden. Wenn sie uns geweckt hat, ist sie schon aus dem Stall gekommen.

Stallarbeit war anders als heute. Anders geworden ist sie durch den elektrischen Strom.

Heute führen Förderbänder den Mist weg, ein Druck mit der Schnauze, und die Kuh trinkt, wann sie will, man setzt die Saugglocken an, schaltet ein, die Maschine melkt und die Milch fließt in Behälter auf Rädern, die sich leicht hin- und herschieben lassen.

Unsere Mutter hat alles mit eigener Kraft tun müssen: Futter schneiden, Wasser tragen, ausmisten, füttern, melken, Milchkannen schleppen und so weiter. Sie hat pro Kuh, wenn sie flink war, und unsere Mutter war flink, eine halbe Stunde gebraucht. Drei Kühe waren’s, also war sie vor halb sieben nicht zurück.

Fürs Kühebesorgen hat sie manchmal ein Stück Butter gekriegt. Wir hätten diese Butter am liebsten aufs Brot getan, stattdessen haben wir sie gegen Brot eingetauscht. Brot war für uns wichtiger.

Das Aufstehen hat flott gehen müssen. Bei sechs Kindern gibt’s viel zu tun. Die Größeren haben sich um die Kleinen angenommen: waschen, anziehen, Morgengebet.

Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich (darunter hab ich mir nichts vorstellen können), dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden (»Wille« hab ich auch nicht verstanden), gib uns heute unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, führe uns nicht in Versuchung (»Versuchung«, hab ich gedacht, hat was mit Suchen zu tun, man betet drum, nichts zu verlieren, weil alles so teuer ist), sondern erlöse uns von dem Übel (Übel war meinem Bruder geworden beim Heuen, ein Sonnenstich, und da hatte es geheißen: »Rudl, nimm dich zusammen und flenn nicht!«).

Das Waschen war schnell geschehen: Gesicht und Hände. Sonst nichts. Wasser war knapp: Jeder Kübel musste hereingeschleppt werden. Zähneputzen war nicht üblich.

Angezogen waren wir bald. Es war nicht viel anzuziehen: Kittelkleid, Schürze. Schluss. Mehr hab ich die ersten sechs Jahre meines Lebens nicht angehabt.

Die erste Leibwäsche hab ich zum Schulegehen gekriegt. Eine Hemdhose, so ein Modell gibt’s nicht mehr: Arme voran, so ist man hineingestiegen, und jemand anderer hat sie am Rücken zugemacht.

»Hussenant« hat das Ding geheißen.

Die Mutter hat uns gekämmt. Das war nötig. Wir hatten Läuse.

Alle Kinder waren verlaust. Auch viele Erwachsene. Es hat in St. Oswald sogar einen Herrn Doktor gegeben, Hipflinger hat er geheißen, zu dem haben sich die Leute ohne Läuse nicht hingetraut. »Wen die Läuse nicht mögen, der bleibt krank!«, hat der Doktor Hipflinger gesagt.

Die Mutter hat das nicht geglaubt. Sie hat uns jeden Morgen ordentlich durchgekämmt, und wenn wir geweint haben, hat sie noch fester angerissen.

»Flenn nicht!«, hat sie oft gesagt. Wenn sie was nicht gemocht hat, dann Wehleidigkeit. Den Kamm hat sie in Petroleum getaucht, obwohl es uns dann gefehlt hat am Abend in der Lampe.

Sie wollte uns so sauber wie möglich, hat unsere Haare täglich zu schönen Zöpfen geflochten und oft bis spät in die Nacht an unsern Kleidern geflickt, immer wieder, drunter und drüber, so lang, bis manche Stücke nichts als lauter Flicken waren.

Wenn wir gewaschen, angezogen, gekämmt und gelaust waren, hat es in der Stube Frühstück gegeben. Kaffee mit was dazu. Von Kaffee hat das Gebräu den Namen gehabt, sonst nichts. Erfunden hat es die Mutter.

Es sind damals – heute wohl auch, nur kümmert sich niemand drum – wilde Ähren gewachsen (»wilde Ähren« haben wir dazu gesagt), versprengtes Getreide. Roggen, Hafer, Gerste, Hirse. Wir haben die Halme gepflückt, die Körner herausgelöst, auf der Herdplatte geröstet, gemahlen und aufgebrüht. Dazu hat die Mutter manchmal Feigenkaffee getan, nicht immer, den musste man kaufen, und da war die Frage: Was ist heut’ das Wichtigste? Brot? Zucker? Salz? Essig? Öl? Petroleum? Feigenkaffee?

Ich glaub’, die Mutter hat die Dinge abgewechselt, wie man’s mit den Feldern tut – ein Jahr dies, ein Jahr das, ein Jahr brach. Hat es Zucker gegeben, dann kein Brot; war Brot, dann kein Feigenkaffee, und so weiter und so weiter.

Die wilden Ähren waren noch zu etwas anderem gut: einer Art Fladenteig. Da haben wir die Körner gemahlen, mit Wasser vermengt, gesalzen, geknetet, gebacken. Diese Fladen haben wir gegessen, wenn’s kein Brot gegeben hat.

Manchmal haben wir gar nichts gegessen.

Ich erinnere mich an einen Tag, da hat die Nachbarin gesagt: »Heute ist eure Mutter flennert nach Haus gegangen.« (»Flennert« heißt, sie hat geweint.) Sie hat gewusst, zu Haus sitzen fünf hungrige Kinder und sie bringt nichts zu essen mit.

Trotzdem waren wir nicht die ärmsten. Es hat ärmere Kinder gegeben. Wir waren arme Kinder, bestimmt, aber wir haben gewusst, die Eltern mögen uns.

Arm waren die unehelichen! Für die war das Leben die Hölle. Niemand wollte sie. Niemand hat sich richtig um sie gekümmert. Auch der Herr Pfarrer nicht. Die Großen haben diese Kinder geschlagen und herumgestoßen. Wir auch, Gott verzeihe mir’s! Wir haben’s nicht besser verstanden.

Die Saudirn beim Bachecker, die hatte ein lediges Kind, vielleicht drei Jahre alt, das ist von früh bis spät hinterm Herd gehockt, auf einem Fetzen, fast nackt, niemand hat es geputzt, nur manchmal, da hat die Bacheckerin einen Kübel Wasser genommen und über das Kind geschüttet.

Es hat nicht einmal mehr geweint.

Ich hab mir über das Kind keine Gedanken gemacht. Dabei hat »unehelich« für mich nicht einmal was Bestimmtes bedeutet.

Landkinder, heißt es, sind frühreif, sehen, wie der Stier die Kuh, der Hengst die Stute bespringt.

Ich hab mit sechs, sieben Jahren die Ziegen zum Bock geführt – es hat nur einen gegeben, für alle Ziegen in der Gegend, er hat gottserbärmlich gestunken und seinem Besitzer jährlich ein schönes Stück Geld eingebracht – und mir nichts gedacht dabei.

Wenn die Mutter entbunden worden ist – nach mir sind die Brüder gekommen –, hat man uns aus dem Haus geschafft, rechtzeitig mit Wehenbeginn, und wenn man uns wieder geholt hat, war das neue Kleine da.

Wir haben keine Fragen gestellt. Fragenstellen war nicht üblich. Die Großen haben auch nichts gefragt.

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