Читать книгу: «Abstufung dreier Nuancen von Grau»

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© 2022 danube books Verlag e. K., Ulm

Umschlaggestaltung Hans Karl Zeisel, Korb bei Stuttgart

Verlag danube books Verlag e. K., Ulm

ISBN 978-3-946046-32-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Irrtümer und Druckfehler bleiben vorbehalten.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Weiß ohne Schatten und Weiß mit schmutzigweißen Schatten. Und Weiß auf Weiß, hochgetürmt, blendend. Wenn der Himmel verhangen war, brach das Weiß des Schnees durch und erhellte Hof und Garten, leuchtete hinter dem Zaun im Nachbargarten und in der anderen Straße.

Ich wartete immer lange, bis der Schnee ganz hoch war. Er rundete alle Kanten ab, den Dachfirst, die Zaunpfähle und die Spitzen der Heuschober auf dem Anwesen des Bauern in der Nachbarschaft. Mein Vater nahm die ganz große Leiter, stellte sie ans Hausdach, wanderte mit ihr rund ums Haus und schlug mit einer langen Stange den Schnee vom Dach. Auch vom Holzschuppen, von der Waschküche und dem Gänsestall. Die Dächer wurden entzaubert. Ich hatte lange warten müssen, bis alles flaumig und rund war, er aber schlug den Schnee vom Dach. Der Dachschnee fiel ab, klatschte dumpf auf und grub tiefe Löcher mit zerfransten Rändern in den Schnee, der im Hof lag.

Im Garten blieb der Schnee lange heil und unberührt: Es war kein Weg mehr zu sehen. Ich stapfte durch und warf mich dann auf die flaumige, an der Oberfläche glitzernde Decke, die vor mir lag. Sie sank ein, und ich sank mit, immer tiefer, es knirschte unter meinem Gewicht, wenn sich die lockeren Schneekristalle ineinanderdrückten und zerbrachen. Ich warf mich wieder und wieder in den über den Beeten abgerundeten Schnee und wälzte mich darin. Die Beete im Garten sahen aus wie Gräber in einem verschneiten Friedhof. Ich ließ mich immer wieder in die Daunenbetten der verschneiten Gräber fallen, mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich später nie wieder aufgebracht habe. Dann baute ich den Weg durch den Garten neu, genau da, wo er vorher gewesen war, bevor der Schnee kam.

Jetzt liege ich unter einer weißen Decke, die mir bis zum Kinn reicht. Die Wände sind von einem anderen, nicht kristallinen Weiß, genauso andersweiß ist die Zimmerdecke. Ein anderes Weiß als der unberührte Schnee in jenem Garten, als jenes Mädchen, das mir inzwischen fremd geworden ist, sich in die Beete geworfen hatte, die aussahen wie verschneite Gräber. Dieses Weiß der Zimmerdecke kenne ich auch, das Zugedecktsein bis zum Kinn. Ich habe schon einmal hier gelegen. Damals war ich freiwillig hierhergekommen. Nach meiner Ankunft hängte ich mein Straßenkleid auf einen Bügel und den Bügel mit dem leblos hängenden Kleid in den Schrank. Nahm einen zweiten Bügel für die Jacke, überlegte es mir dann anders, hängte den leeren Bügel wieder in den Schrank und die Jacke über das leblos hängende Kleid. Die steife Jacke konnte die Leblosigkeit des Kleids jedoch weder verbergen noch mildern, und beide zusammen wirkten auf dem Bügel im Kleiderschrank furchtbar resigniert und verbittert. Der Schrank war auch weiß, wie fast alles in jenem Zimmer, man hätte ihn leicht übersehen können. Er verschluckte noch hintereinander meine Schuhe, die Handtasche und die Reisetasche.

Hier gibt es bestimmt auch einen weißen Schrank, ich müsste nur den Kopf ein bisschen nach links drehen, rechts ist die Fensterfront, daher kommt das Licht, das mir heute morgen ins Gesicht gesprungen ist. Ich kann jetzt meinen Kopf so weit drehen, dass ich die Fenster sehe, die Hausdächer jenseits der Fensterscheiben und hinter den roten, schiefen, regenfeuchten dichtgedrängten Hausdächern frische, saubergewaschene Baumkronen. Es muss lange geregnet haben, wie lange, kann ich nicht beurteilen. Draußen ist alles flüssig, in den drei Fensterrahmen zerrinnen die Bilder des Hausdächer- und Baumkronen-Triptychons, die ich mir so mühsam, durch schmerzhaftes Kopfdrehen, erkämpft hatte. Sobald sie für meine Blicke erreichbar geworden sind, beginnen sie sich schon aufzulösen und werden weggeschwemmt. Ich schaue trotzdem immer wieder hin, um die weiße Zimmerdecke, die mich von oben bedroht, zu verscheuchen. Hier ist alles gewollt weiß, es gibt sich Mühe, weiß zu sein. Nur der Fußboden bleibt grau, obwohl er morgens nach dem Aufwaschen wie Glatteis glänzt. Auch die Schwestern – ich weiß nicht, warum man sie so nennt, ich fühle mich ihnen nicht verwandt – streben das Weiß an, ohne es jedoch ganz zu erreichen. Schwestern: Ich weise jeden Gedanken einer möglichen Verwandtschaft entschieden zurück. Die keinesfalls mir verwandten Schwestern können das absolute Weiß nicht erreichen. Ich würde sie draußen auf der Straße nicht wiedererkennen, wiedererkenne sie nur hier, wo sie in diesen Wunsch nach Weißsein eingepackt sind.

Das vorige Mal, als ich freiwillig hierhergekommen war, lag links von mir eine späte Studentin, Mitte Dreißig, die mit blutigem Ernst ihre heiligen Kühe auf der weißen Bettdecke weidete. Die Kühe waren von dem gleichen gräulichen Weiß der Bettdecke. Diese sich stets ereifernde Frau, die keine Ruhe finden konnte, da sich ihre Gedanken ständig im Kreis drehten und ein Wort das andere verfolgte, ohne es jemals zu erreichen, verfügte über so viel Humor wie ein von der Wichtigkeit seines Tuns überzeugter osteuropäischer Parteifunktionär mitten im Kalten Krieg. Parolen, von denen ich dachte für immer befreit zu sein, pfiffen wie Gewehrkugeln an meinem linken Ohr vorbei und schlugen an die rechte Wand, die sie wiederum zurückschlug an die linke Wand, die sie auch nicht haben wollte, so dass die alten Sprüche wie ein wiederholt verirrtes Echo auf den Kunststoffboden in der Mitte des Zimmers mit Krach aufschlugen und sperrig dalagen, so lange, bis die Putzfrau kam und sie beseitigte. Einmal war eine der Schwestern darüber gestolpert, hatte Mühe, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und stand da wie eine beleidigte Lehrerin, die die Schüler mit Kreide beworfen hatten, fragte laut und spitz, wer es gewesen sei. Niemand wollte es gewesen sein. Ich weiß nicht, wie die Studentin aussah, ich hatte ihr Gesicht nie wahrgenommen, nur ihre Stimme ist mir, wie eine Narbe, im Gedächtnis geblieben. Und wenn sie nicht immer wieder ihr Alter ins Gespräch gebracht hätte, so als müsse sie ständig beweisen, dass es ihr nichts ausmachte, so spät noch Erstsemester zu sein, hätte ich diese Verspätung gar nicht wahrgenommen oder sie als etwas Selbstverständliches betrachtet.

Mit hartnäckiger Neugier und Zudringlichkeit versuchte sie immer wieder bei den bis zum Kinn unter weißen Decken Liegenden Weltanschauungen festzustellen, ihnen Bekenntnisse zu entlocken. Schräg gegenüber lag eine junge Dolmetscherin, die mit ihrem Familienalbum beschäftigt war. Sie lag in ihrem dunkelbraunen Haar, das das ganze Kissen bedeckte, die ganze Zeit so, als hätte sie sich nach einer schweren Anstrengung gerade fallenlassen, und ordnete tagein, tagaus die Fotos ihrer beiden Kleinkinder chronologisch ein, reagierte kaum auf die interrogativen Attacken der Studentin, weshalb jene auch das Interesse an ihr verlor und sie in Ruhe ließ. Neben der Dolmetscherin, genau mir gegenüber, lag eine ältere, stets Boulevardzeitung lesende Schreibwarenladenbesitzerin aus der Innenstadt. Sie schaute ab und zu von ihrer Zeitung auf und warf schmale grüne Blicke aus einem braungefalteten Gesicht. Jedesmal, wenn sie in der Zeitung einen Artikel über hohe Prozentsätze an Ausländerkriminalität entdeckte, kreiste sie die Schlagzeile mit einem Kugelschreiber mehrere Male dick ein, hob die Zeitung hoch und zeigte sie meiner Bettnachbarin zur Rechten, einer jungen Türkin.

Die junge Türkin, ein etwa achtzehn- oder neunzehnjähriges Mädchen, blass und dunkeläugig, war kurz nach meiner freiwilligen Ankunft aus einem anderen Zimmer mit dem Bett hereingefahren worden. Sie blieb länger als alle anderen bereits hier Anwesenden. Eine ganze Woche lagen wir zu zweit in einem halbleeren Zimmer einen Teil unserer Zeit ab, bis neue Patientinnen hinzukamen.

Einige Tage lag zu meiner Linken, an der Stelle der späten Studentin, die entlassen worden war, eine Frau undefinierbaren Alters, deren Ehemann jeden Tag Unmengen von Süßigkeiten und Kuchen anschleppte, die die undefinierbare Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, verputzte. Sie wolle ihren Mann nicht kränken, sagte sie, er würde am nächsten Tag mit neuen Süßwaren anrücken und dürfe nichts mehr vom Vortag vorfinden.

Als die späte Studentin aber noch auf ihrem Platz gelegen hatte und stets auf der Suche war nach dem Klassenfeind und nach Gesinnungsgenossinnen, verharrte ich stundenlang, das linke Ohr fest ans Kissen gedrückt, die krankenhausweiße Decke über das rechte gezogen. Oder ich lag mit geschlossenen Augen da und war somit nicht ansprechbar. Die Worte der Studentin klangen so, als müsse sie sich ständig rechtfertigen und gleichzeitig vergewissern, dass sie auf dem richtigen Weg war, wo immer er auch hinführen sollte.

Sooft jemand bereit war, ihr zuzuhören, wusste sie etwas von sich zu erzählen. Im Gegenzug erwartete sie Bekenntnisse und wollte Meinungen hören, aber nur solche, denen sie zustimmen konnte, andere akzeptierte sie nicht.

Mit Staunen musste ich feststellen, wie die Besitzerin des Schreibwarenladens aus der Innenstadt auf das Werben der Studentin einging, wie willig sie ihr entgegenkam, wie sich die beiden, zwar nicht in der Mitte, jedoch in ihren Gemeinsamkeiten, trafen und einen geheimen Bund schlossen, wie sie das ganze Krankenzimmer unter ihren Einfluss bringen konnten. Es schien so, als wollten sie Herrschaft ausüben und zwischen diesen vier weißen Wänden keine andere Meinung gelten lassen als die, mit der beide einverstanden waren: Es entstand eine Art Krankenzimmerdiktatur, ausgeübt von einer Koalition der Extreme.

Da ich meine Abneigung beiden gegenüber nicht verbergen konnte, hatte ich einen schweren Stand. Erst als sich die beiden Koalitionspartner gefunden hatten und mit angeregten Zwiegesprächen und dem gegenseitigen Beschnüffeln intensiv beschäftigt waren, gab es eine Pause der Entspannung, die jedoch nicht von langer Dauer war, da sich die beiden nicht weiter mit sich begnügen wollten, sondern eine Expansion anstrebten.

Es kamen mir die abgestandenen Vorurteile hassentbrannter Gartenzwerge frontal entgegen und von links die strapazierten Floskeln, die die Hausfassaden im Reich der lebenden Toten trugen, die die Menschen mit den traurigen Gesichtern auswendig lernen und täglich wiederholen mussten, die wie verknöcherte starre Äste krächzten, die keine Triebe mehr schlagen, die der Wind nicht mehr wiegen kann. Es klang possenhaft und aufgesetzt, was die verspätete Lenin-Anhängerin von sich gab, sie schien aber von ihren Losungen und Spruchbändern überzeugt zu sein. Alle heiligen Kühe, an die keiner mehr glaubte, ließ sie los, halbverhungerte Tiere zitierte sie auf die Krankenhausdecke. Während sie ideologische Kuharbeit leistete, suchte die Papierwarenhändlerin ihrerseits nach schlagkräftigen Beweisen für ihre winkeligen, unbeleuchteten Gedankengänge. Ein- oder zweimal am Tag richtete sie sich auf und hielt uns und der ganzen Welt die Boulevardzeitung mit einer eingekreisten Schlagzeile wie einen letzten Trumpf entgegen, ein nicht widerlegbares, endgültiges, unumstößliches Argument, das beweisen sollte, dass sie im Recht, dass ihre Meinung, nun gedruckt, bestätigt sei. Sie litt unter der Angst, es werde bald eine Hungersnot ausbrechen, wenn weiterhin Menschen von außen ins Land kämen, und schlug immer wieder mit fettgedruckten, balkengroßen Schlagzeilen auf all jene ein, die dies bezweifelten.

Die beiden Frauen kamen sehr gut miteinander aus, man hätte fast von einem Harmonieren sprechen können, wenn ihre Gemeinsamkeiten nicht von so kriegerischer Natur gewesen wären. Sie waren beide aus verwandten Eislandschaften gekommen. Hier in diesem Zimmer hatten sie sich getroffen und ihre Zusammengehörigkeit erkannt. Als sie kurz hintereinander entlassen wurden, atmete ich auf. Die Süßigkeiten verschlingende Frau kam und ging wieder, und eines Tages wurde auch die junge Türkin mit ihrem Bett aus dem Zimmer gerollt. Den leeren Platz füllte man mit einem frischbezogenen Bett aus, in das am gleichen Nachmittag eine neue Patientin unter die weiße Bettdecke kam.

Die neue Patientin, eine schmale, filigrane Person mit kurzgeschnittenem, dunkelblondem Haar, war Operationsschwester von Beruf und kannte sich im Krankenhausbetrieb sehr gut aus. Sie fand auch heraus, was mit der jungen Türkin geschehen war: Das Mädchen habe die vergangene Nacht in einem kleinen Zimmer am Ende des Flurs verbracht und die ganze Zeit geschrien, erzählte die Operationsschwester, die nun Patientin war. Man müsse immer Bares bei sich haben, um die Nachtschwester davon zu überzeugen, dass man ein Schmerzmittel brauchte, das türkische Mädchen habe das nicht gewusst, vielleicht hatte es gedacht, dass es sich hier nicht gehörte, sagte meine nun einzige Bettnachbarin. Ich bin aber immer noch fest davon überzeugt, dass die junge Türkin bei einem Bestechungsversuch sehr empört und unsanft zurechtgewiesen worden wäre: Im gleichen kantigen Ton, in dem ihr die weißen Schwestern jeden Tag geantwortet hatten, wenn sie sich traute, etwas zu fragen. Waren die krankenhausweißen, uns nicht verwandten Schwestern aber milde gestimmt, so war ihr Ton nur herablassend und nicht schroff: Das verängstigte Mädchen war dankbar dafür.

Später erfuhren wir noch, dass man sehr wohl auf die Schreie des Mädchens reagiert habe: Die Nachtschwester sei einige Male in ihr Zimmer gerannt und habe geschimpft: Sie solle doch nicht so brüllen, sie erschrecke ja die anderen Patientinnen, das könne sie zu Hause in ihrer Heimat tun, so laut zu schreien, aber nicht hier. Die Nachtschwester sei sehr stolz darauf gewesen, so entschieden für Ruhe gesorgt zu haben. Man habe die Türkin schließlich entlassen, berichtete abschließend die Operationsschwester, die Zugang hatte zu Stellen, wo man über vieles, aber nicht über alles Bescheid wusste.

Diesmal bin ich nicht freiwillig hierhergekommen. Damals aber war es, so unglaubwürdig es auch klingen mag, freiwillig gewesen. Als ich endlich gehen durfte, das große Holztor hinter mir geschlossen hatte und auf der Straße stand, mitten auf der lebhaften Straße mit den vielen Läden, den vielen Leuten, die mir entgegenkamen, und jenen, die mich überholten, an mir vorbeigingen, als ich dastand und frei war zu gehen, wohin ich wollte, schüttelte ich mit einer heftigen Kopfbewegung den Krankenhausgeruch ab, den letzten Hauch von Desinfektionsmitteln, der in meinem Haar hängengeblieben war. Mit einem Kopfschütteln war alles weg, und ich habe seitdem nie wieder daran gedacht.

Jetzt liege ich wieder da, in einem Bett unter der weißen Zimmerdecke. Damals schon hatte mich die Vorstellung erschreckt, irgendwann wieder hier in diesem Zimmer liegen zu müssen, dass es irgendwann soweit sein könnte, dass ich hier ankomme wie der Läufer im Ziel. Rechts die Fensterfront, Ausflucht meiner Blicke, Landschaft, die in einem weißen Rahmen verschwimmt und untergeht, wenn es dunkel wird. Die schlimmste Krankenhauszeit, wenn es draußen dunkel wird. Im Zimmer wird das kranke gelbliche Licht angeknipst, ein unendlicher Abend beginnt, der keine richtige Nacht werden will, sich dagegen sträubt, in die Nacht überzugehen.

Ich kann jetzt meinen Kopf wieder nach beiden Seiten drehen, wage es aber nicht, mich im Zimmer umzuschauen, die Betten neben mir zu erforschen, fürchte, dass links von mir die späte Studentin sich mir zuwenden könnte mit einem forschenden Blick und einem ideologieschweren, heftigen Schwall von Fragen. Sie könnte jetzt, wie ich da so wehrlos liege, mir alle schmutzigen Kühe Indiens an den Kopf werfen, wenn sie wollte. Mir gegenüber könnte sich die alte Papierwarenhändlerin in ihrem Bett aufrichten, die heutige Ausgabe der Boulevardzeitung hochhalten und mir eine mit Kugelschreiber dick eingekreiste Schlagzeile entgegenstrecken. Sie könnte die Zeitung mit den Fingerspitzen an zwei Enden hochhalten, sie nach links und nach rechts schwenken und sie jedem zeigen, der sie sehen will, und auch jenen, die sie nicht sehen wollen, sie als letzten Trumpf einsetzen, jubilieren, als schlagenden Beweis zeigen, schwarz auf weiß, nicht zu widerlegen, triumphierend, Hammerschlag, Punkt.

Ich weiß nicht, ob jene Frauen wieder hier im Zimmer liegen, es ist ein Vorteil für mich, dass mein Nacken noch etwas steif ist, ich sie nicht sehen und wahrnehmen muss. Ich fürchte, dieselben Stimmen zu hören – und befehle meinen Ohren, ihre Tätigkeit vorläufig einzustellen. Sie folgen meinem Befehl nur halbherzig, ich höre ständig ein Murmeln durch den Raum schwirren, es kommt von unten, hebt sich bis knapp unter die weiße Zimmerdecke, schlägt immer wieder an die Decke, bis es sich Wunden holt. Ich schiele so lange zum Fenster, bis es ganz flüssig und dunkel ist. Es sind selbständige Stimmen ohne Besitzer, die noch vereinzelt als Sprechblasen zur Decke steigen.

Heute hat mir eine jener weißuniformierten Frauen geholfen, mich im Bett aufzurichten, was mir sehr peinlich war, auch deshalb, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Sie ist sehr in Eile gewesen, es ist ihr viel zu langsam gegangen, ich muss ihr recht geben, es ist furchtbar langsam gewesen, ich habe mich kaum bewegen können und ihre Geduld über die Maßen strapaziert, worüber sie schließlich sehr ärgerlich geworden ist, und das mit Recht. Ich habe keinen guten Willen gehabt. Sie hat mich aufgefordert, guten Willen zu zeigen, ich habe es immer wieder versucht, meinen ganzen Willen zu mobilisieren, der Wille aber hat nicht gewollt, wie ich es gewollt habe und wie es die mit mir nicht verwandte Schwester gewollt hat. Jedesmal, wenn ich versucht habe, guten Willen zu zeigen, hat es verdammt weh getan. Ich weiß, dass mich die Schwester für einen Feigling hält, und kann nichts daran ändern, habe aber erleichtert festgestellt, dass weder die späte Studentin noch die Papierwarenhändlerin aus der Innenstadt hier sind, es sind ganz andere Patientinnen.

Die Unbekannte mir gegenüber will gleich wissen, wie es war und warum und ob der Arzt und wenn ja, wie er geschnitten habe. Ich täusche Müdigkeit vor und schließe die Augen. Sie wird mir ihre Fragen noch zweimal zuwerfen und sich, da ich die Bälle nicht aufgefangen habe, von mir abwenden, was mir sehr angenehm ist. Die Frau links von mir aber will immer wieder wissen, wie es zu dem Unfall gekommen sei. Sie versucht auf verschiedene Weise, es aus mir herauszubekommen. Vergeblich. Übrigens weiß ich es selbst nicht. Ich weiß von diesem Tag gar nichts mehr, erinnere mich nur an die Tage davor, an alle Tage davor, nur an diesen einen, den es dennoch gegeben haben muss, nicht mehr.

An der Wand gegenüber hängt ein Gekreuzigter, der tödlich Gefolterte, der an allen weißen Krankenzimmerwänden hängt. Bei meinen Kirchenbesuchen als Kind hatte ich es nie so richtig wahrgenommen, dass der Mann, der am Kreuz hängt, furchtbar leidet, ein Kruzifix war für mich zu heilig, um in ihm die Darstellung eines schmerzlichen, langsamen Sterbeprozesses zu sehen, es war kein Mensch, der da an Händen und Füßen angenagelt hing, es war das Göttliche schlechthin, Gesichtszüge und Wunden des Mannes waren nur Symbole, standen für etwas anderes, etwas, das man auswendig lernen und abends vor dem Einschlafen aufsagen musste, im Bett auf den Knien halblaut vor sich hinflüsternd, den Kopf nach oben gewandt. Dahin, wo er sein müsste, der in Dunst, Wolken und Licht wohnende alte Mann mit dem unendlich langen weißen Bart, der, selbst unsichtbar, auf einem unsichtbaren Stuhl mit hoher unsichtbarer Lehne auf einer sichtbaren Wolke thronte. Er hatte gütige blaue Augen und war in einen blauen Mantel gehüllt. Es könnte jede Wolke gewesen sein, die ich tagsüber am Himmel sah, ich wusste aber nie, welche es war.

An kalten Winterabenden zog ich mir im Knien die Decke über die Schulter, wenn ich betete. Nach den auswendig gelernten Sprüchen, die ich schnell ableierte, kam ich zu meinen ganz persönlichen Anliegen an den unsichtbaren alten Mann mit den blauen Augen. Ich hatte viele kleine Wünsche und einen großen, den ich jeden Abend ängstlich wiederholte: Dass meine Mutter, die ich sehr liebte, nie sterben und immer bei mir bleiben möge. Der alte Mann mit den himmelblauen Augen hatte mir versprochen, er werde das veranlassen, und er hat lange Zeit sein Wort gehalten, bis ich eines Tages das Beten verlernt habe. Dann hat er sein Versprechen vergessen, es war keiner mehr da, ihn daran zu erinnern.

Seitdem habe ich mich nicht wieder bei ihm gemeldet. Jetzt spüre ich die Blicke des an die Krankenzimmerwand Gekreuzigten und schaue zu ihm auf: Es war eine Täuschung der Sinne, er schaut über mich hinweg, schaut niemanden von den hier Liegenden an, er ist allein mit seinem furchtbaren Schmerz beschäftigt, und die hier liegenden Frauen sind auch jede allein mit ihrem eigenen Schmerz. Nur jene, denen es besser geht, sind neugierig, vom Schmerz der anderen zu erfahren. Die junge Türkin damals muss von ihrer Angst vor dem Eingriff so beherrscht gewesen sein, dass sie die von der Papierwarenhändlerin hochgehaltenen Schlagzeilen nicht einmal wahrnehmen konnte: Sie hatte nie darauf reagiert.

Ich befürchte wieder extreme Geister, die durch dieses Krankenzimmer spuken und sich in Kreuzverhören verdichten könnten. Als ich noch zu Hause in meiner alten Heimat war und mit meiner besten Freundin Delia in diesen kleinen Schmerzpausen des Beisammensitzens sprach, amüsierten wir uns oft über jene, die immer wieder unsinnig sinnlose Fragen stellten. Allein konnte ich schwer darüber lachen. Unsere langen Mäntel, die damals in Mode waren, hatten uns am Fliehen gehindert. Sie hätten uns aber auch so gekriegt. Jene. Oft ließen sie uns in der Stadt unterwegs entkommen, um später an unsere Türen zu klopfen. Sie wussten, dass ihnen keiner entwischen konnte, spielten „Katz und Maus« mit uns. Wir waren auf alle Fälle schuldig, auch wenn wir nicht damit einverstanden waren, uns nicht bekannt war, welchen Vergehens man uns anklagte. Das Warum und Wozu blieb uns immer verborgen, der Zwischenraum war ausgefüllt von unserem Alltag, der in diesem Sinn unwirklich war: Jeder spielte eine Rolle, an die er nicht glaubte.

Ich habe nie erfahren, was sie von uns wissen wollten. Sie befragten uns immer wieder, und es boten sich viele Gelegenheiten dazu. Sie wollten etwas erfahren, das es gar nicht gab, und waren sehr beharrlich. Sie, das waren jene dort, die ich nie beim Namen genannt hatte. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass es sie gibt, dass man aber ihren Namen nicht aussprechen dürfe, das bringe Unglück. Sie waren unberechenbar, nicht erfassbar, mit Logik war ihre Existenz, ihr Tun und die Art und Weise, wie sie es taten, nicht erklärbar, keine Logik der Welt konnte sie verständlich machen. Man konnte immer ihr Opfer werden, eine falsche Bewegung, ein falsches Wort am falschen Ort konnte einen dazu machen, man wusste jedoch nie, welche Worte als falsch einzustufen waren, welche Bewegungen an welchen Tagen als strafbar galten. Die Standpunkte, nach denen etwas als falsch oder richtig eingeordnet wurde, änderten sich von Tag zu Tag, manchmal wechselten sie auch im Laufe des Tages. Man konnte den Zeitpunkt eines Erdbebens vorausberechnen und rechtzeitig Maßnahmen zur Rettung der Menschen in diesem Gebiet einleiten. Das Wirken der Namenlosen jedoch konnte man nicht voraussehen, nie vorher wissen, wann sie demnächst um sich greifen und wen sie sich holen würden.

Eine Zeitlang hatte ich mich in meine Wohnung eingeschlossen und niemandem geöffnet. Ich dachte über alle möglichen Fragen nach, die sie mir noch stellen könnten, die sie bisher noch nicht gestellt hatten, suchte nach möglichen Antworten auf diese hypothetischen Fragen. Die Antworten mussten so formuliert sein, dass mir auch die Cleversten unter ihnen keine Schlinge daraus knüpfen konnten. Ich schrieb mir alle möglichen Antworten aller möglichen Fragen auf und begann sie auswendig zu lernen, wartete auf ein Klopfen an der Tür und wollte, sobald ich das Klopfen hörte, keine Bewegung mehr machen, meinen Atem ganz leise stellen, mich totstellen. Nicht öffnen. Mich totstellen, wie es manche Tiere tun, um zu überleben. Ich wollte nicht öffnen und lernte die möglichen Antworten auf die möglichen Fragen dennoch auswendig, um auf alles vorbereitet zu sein. Die wenigen guten Freunde, in die ich Vertrauen haben konnte, wussten, wie sie klopfen sollen.

Eines Tages, es war kurz nachdem jene Unaussprechlichen mich zum ersten Mal zu sich bestellt hatten, klopfte es. Ein unvereinbartes Klopfen. Ich war noch nicht dort gewesen, wollte es auch nicht tun, hegte die törichte Hoffnung, dass sie mich in Ruhe lassen würden, wenn ich nicht hinginge, wollte Zeit gewinnen, nach Ausflüchten suchen, entschlüpfen. Es klopfte unentwegt, obwohl ich mich bereits vor Minuten totgestellt hatte. Wusste man dennoch, dass ich zu Hause war? Selbstverständlich wusste man es. Die Unaussprechlichen wussten alles. Schließlich wurde es still, Schritte entfernten sich. Ich konnte nun die Schleusen öffnen und meinem unterdrückten Atem freien Lauf lassen. Geräuschvoll und lange durchatmen. Einige Tage später erfuhr ich, dass es der Mann gewesen war, der immer wieder zum Holz hacken kam. Ich hatte lange Tage kein Kleinholz mehr für meinen Ofen. Bis ich ihn zufällig auf der Straße traf und wir einen Holzspalttag in der Woche, zu einer bestimmten Uhrzeit, vereinbarten. Später, als ich bereits jenseits der Landesgrenze war, hat sich einiges von dem damals Erlebten auf eine andere, jedoch ähnliche Weise wiederholt, jedoch ohne dass die Notwendigkeit von Kleinholz jemals wieder eingetreten wäre.

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9783946046325
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