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Kirsten Döbler

Weißwasser

Novelle

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Motto

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Die Autorin:

Impressum neobooks

Motto

»Wozu der Haarschopf dort vorne?«

»Da soll, beim Kroniden, mich packen, wer mir begegnet.«

»Warum zeigt sich der Hinterkopf kahl?«

»Wenn ich erst einmal vorbeischoß mit meinen geflügelten Beinen, hält mich niemand mehr fest, wenn er es dringend auch wünscht.«

Poseidippos über die Skulptur des Kairos

(Die Griechische Anthologie Bd. 3, Berlin 1991, S. 333/4)

1

Atlantischer Ozean, La Gomera

Der Wind treibt das Wasser nach Osten und überzieht es mit Riefen; so wirkt die Meeresoberfläche wie welke Haut, die man mit den Fingern ein wenig zusammengeschoben hat. Malte tritt an die Balkonbrüstung, stützt sich mit den Unterarmen auf die weiß getünchten Steine und blickt über den Atlantik, wo er im Morgendunst die Silhouette von El Hierro zu erkennen meint. Aus der Talmündung des Valle Gran Rey dringt ein Hahnenschrei zu ihm herauf. Maltes Gedanken kreisen um die Zahl siebzig, er versucht, sie in Relation zu seinem Lebensgefühl zu setzen – es will ihm nicht gelingen. Stattdessen zählt er im Geiste weiter: fünfundsiebzig, achtzig, neunzig. Und früher oder später, denkt er, ist das Leben ein anderes: Man sabbert einer Pflegekraft auf die Finger und liegt sich den Rücken wund.

Zielsicher spuckt er einen Apfelsinenkern in den Blumenkübel im Garten unter sich. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht keine Veranlassung für ihn, das Alter zu beklagen. Zu bejubeln übrigens auch nicht, das entspricht nicht seinem Temperament. Und dennoch hat er am Vorabend zu einer Geburtstagsfeier geladen, hat Wein besorgt und Tapas für die Freunde vorbereitet. Er hat es getan, um Laura eine Freude zu machen, nur deshalb.

»Moin!« Sie schlingt ihre Arme um Maltes Bauch, er hat sie nicht herankommen hören, richtet sich erschrocken auf und legt den Kopf nach hinten, bis seine Wange ihr Gesicht berührt. Von der Dachterrasse des Nachbarhauses wehen Duftpartikel eines spanischen Waschpulvers herüber und vermengen sich mit der Parfümmischung aus Lauras Bananenshampoo. ­­­­­

»Moin, moin!« Er dreht sich in ihren Armen um und reibt seine Nase an ihrer sonnengebräunten Stirn. Sie hat länger geschlafen als üblich, denn der Abend mit den Freunden war spät zu Ende. Malte hat nichts trinken können, da sein Magen wieder einmal rebellierte. Und so hat er sich an seinem siebzigsten Geburtstag mit einer Meute angeheiterter Gäste konfrontiert gesehen, deren weinselige Scherze ihn zunehmend langweilten. Dabei kann er die Freunde gut leiden. Er hatte nur keine Lust, sich mit einem Glas Wasser in der Hand bis zum bitteren Ende all ihre Witzeleien anzuhören, also ist er irgendwann ins Bett gegangen. Laura aber hat zu fortgeschrittener Stunde sicherlich eine Anekdote nach der anderen erzählt. So ist es immer: Je lauter die Freunde losprusten, desto mehr Geschichten fallen ihr ein, bis sie mit Lachtränen in den Augen die Welt umarmt.

»Hast du Kopfschmerzen?«, fragt er sie. Dabei weiß er die Antwort bereits. Laura ist nicht in bester Verfassung, und sein Vorhaben, an diesem Abend das Gespräch mit ihr zu führen, dessen Ausgang er sich immer wieder vorzustellen versucht, muss er vertagen. »Ich mach dir Kaffee«, sagt er.

Laura schüttelt das Badetuch mit dem Geckomuster aus und legt es auf den Liegestuhl, bevor sie sich selbst darauf fallen lässt und ihn bittet, ihr eine Tasse seines Magentees aufzugießen. Die Morgensonne wird jeden Moment hinter der Kuppe des Teguergenche hervorkommen und den Balkon grell ausleuchten. Balkon ist ein zu bescheidenes Wort für diese riesige rot geflieste Fläche, auf der Malte sich vorzugsweise aufhält. Man könnte dort Tischtennis spielen, war ihm bei ihrer ersten Besichtigung des Hauses in den Sinn gekommen, während Laura ein anderes Bild vor Augen hatte: Man könnte dort Wiener Walzer tanzen.

Malte dreht die Markise herunter, um Laura das helle Licht zu ersparen. Sie kauert mit angezogenen Beinen auf ihrem Liegestuhl und verdeckt ihre Augen mit dem Unterarm. Es ist offensichtlich, dass sie angeschlagen ist nach dem gestrigen Abend. Er wird sich noch einen Tag gedulden müssen. Vorerst geht er in die Küche, um Wasser aufzusetzen.

2

Am nächsten Morgen ruft Malte die Wetterdaten für La Gomera auf und checkt die Gezeitentabelle. Er ist hocherfreut über ein Tiefdruckgebiet mit dicht aneinander liegenden Isobaren. Also zieht er Wetsuit und Surfschuhe an, holt sein Brett und geht hinunter zum Strand. Der Wind bläst offshore, und Malte schwimmt mit dem Board hinaus und wartet geduldig, bis er seine Welle anrollen sieht. Er dreht sein Brett in Richtung Ufer. Die Welle türmt sich hinter ihm auf und hebt ihn sanft an. Sofort paddelt er mit aller Kraft Richtung Strand und stellt sich auf sein Brett. Er spürt, wie die Welle ihn schiebt, und im selben Moment hält er sich mit beiden Händen an den Rändern seines Boards fest und verlagert das Gewicht leicht nach hinten. Er zieht das Brett mit der rechten Hand hoch und surft frontside entlang der Welle. In diesem Moment scheint die Welt stillzustehen. Es ist sein Augenblick, und er hat keine Mühe, die grüne Welle zu surfen, schafft es sogar, mehrmals hinauf und hinunter zu fahren. Es besteht kein Zweifel, dass seine Wellenritte der letzten Wochen kein Zufall gewesen sind.

Nun würde er zwar nicht behaupten, dass er zu den jungen Wilden gehört, die einen Teufelsritt hinlegen. Aber er ist doch recht drahtig und behände, hat Ehrgeiz und Ausdauer, und das Wellenreiten hat ihn schon immer fasziniert. Als er im vergangenen Jahr darüber nachdachte, was er vor seinem siebzigsten Geburtstag gern noch getan hätte, war ihm als Einziges das Surfen wieder eingefallen. Sonst hat er ja alles erreicht, auch wenn seine Karriere verhalten begann: Gegen den Willen seines Vaters machte er das Abitur und weigerte sich anschließend, die elterliche Tischlerei zu übernehmen. Stattdessen finanzierte er sich mit Jobs sein Informatikstudium selbst, und als in den Neunzigern das World Wide Web zunehmend an Bedeutung gewann, hatte er bereits seine eigene EDV-Firma gegründet, die mit jedem Jahr mehr Gewinn abwarf. Er lernte Laura kennen und zog Melissa mit ihr groß. Und als ihnen mehr als genug Geld zur Verfügung stand und die Tochter eine eigene Familie hatte, erfüllten Laura und er sich den Traum vom Leben auf La Gomera.

Wenn man mich fragen würde, denkt Malte, ob ich etwas verpasst habe im Leben, würde ich sagen: Ganz im Gegenteil. Kaum hat er den Gedanken zu Ende gedacht, fällt ihm ein, dass sein Vater, wäre er noch am Leben, mit einer Bemerkung wie »Mehr Glück als Verstand« seinen Erfolg herabgesetzt hätte. Doch Malte weiß, dass er sich davon nicht hätte verunsichern lassen. Er hat sich alles selbst erarbeitet und Widerstände überwunden. Gemeinsam mit Laura hat er sich einen Wunsch nach dem anderen erfüllt: die eigene Villa in den Elbvororten, einen Motorradtrip auf der Route 66, die Besteigung des Großvenedigers, schließlich ihr Häuschen am Hang von La Calera. Nur sein Traum vom Wellenreiten war immer noch offen, und so hat er sich vergangenes Jahr ein Longboard und Gripdeck, einen Wetsuit und eine Leash gekauft. Und weil er sich als Autodidakt versteht, hat er ein Buch mit einer gut verständlichen Anleitung durchgearbeitet und das Abenteuer begonnen.

Maltes morgendliche Session läuft wie am Schnürchen. Er paddelt noch einmal hinaus, dreht sich zum Strand hin mit Blick auf die gewaltigen Bergformationen, die das Tal des Großen Königs flankieren und von Weitem unbezwingbar erscheinen. Die erodierten Abbruchkanten des Vulkangesteins kontrastieren mit dem Weiß der Häuser von La Calera, die den unteren Abschnitt der Bergflanke wie eine Kruste von Seepocken überziehen. Anhand des Standortes der Palmen, die den Ortsteil schmücken, kann Malte die Position ihres Häuschens ausmachen. Er wartet auf seine nächste Welle und fühlt sich von einer ungewohnten Euphorie erfüllt, als er ein Monstrum heranrollen sieht. Sein Puls beschleunigt sich, während die Welle sich auf ihn zu bewegt. Und als sie ihn anzuheben beginnt, meint er zu spüren, wie die Glückshormone seinen Körper fluten. Später wird er Laura davon berichten, dass er es geschafft hat, die Energie der Welle zu seiner eigenen zu machen, denn er weiß, dass ihr solche Formulierungen gefallen.

Als er das Wasser verlassen hat, am Strand entlang geht, das Surfbrett unter den Arm geklemmt, verfliegt seine Euphorie und weicht einer ihm unbekannten Empfindung. Er hat das Gefühl, im Kreis zu laufen – nicht räumlich betrachtet, sondern zeitlich. Natürlich hegt er keinen Moment lang Zweifel daran, wo er sich befindet, er muss sich nicht erst sammeln, ist geistig vollkommen auf der Höhe. Und doch könnte der Sand, in dem er mit jedem Schritt einsackt, für ihn jeder beliebige Strand sein: das Elbufer bei Wittenbergen, die Nord- oder Ostsee, der Malibu State Beach – ein universeller Strand eben. Das Bild eines Karussells kommt ihm in den Sinn, eines, das sich immer schneller zu drehen beginnt. Er stellt sich vor, wie die Fliehkräfte ihn nach außen drücken, wie das Gesicht seiner Mutter und einer Jugendfreundin an ihm vorbeifliegen, gefolgt von mathematischen Formeln, Laura in ihrem Atelier, Computer, Bücher, Autos, Schwimmflossen, Kinderwagen, Wanderstiefel, Lauras Lippen, Flugzeuge – die Bilder verwischen und verwandeln sich in bunte Farbstreifen, die ineinander übergehen. Malte zittert jetzt und setzt das Surfbrett ab. Er ist der festen Überzeugung, dass jeder unbekannte Strand wie auch jeder künftige Wellenritt ihm keine Zunahme an Lebensglück mehr bringen kann. Es erscheint ihm angebracht, das Schicksal nicht länger herauszufordern. An diesem Abend will er mit Laura sprechen.

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50 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783738075977
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