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Kirsten Döbler

Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Anmerkung

Impressum neobooks

Kapitel I

1

Caro presste ihren Schädel in die flauschige Schafswolle der Yogamatte. Mit verschränkten Fingern umfasste sie den Hinterkopf und balancierte die gebeugten Beine nach oben, bis sie in gestreckter Haltung den Punkt des perfekten Gleichgewichts fand. Wie schmale, gerade gewachsene Spargelstangen schwebten ihre Gliedmaßen zwischen den Betondecken der Fabriketage.

Das Blut sackte ihr in den Kopf, während sie das Gellen und Dröhnen der Stadt wahrnahm, den metallischen Singsang der Stahlschienen, auf denen die S-Bahnen in den Freitagabend hineinfuhren. Von den Hauptverkehrsadern gesellten sich die Schallwellen ächzender Trucks hinzu und wurden hier und da von einer potenten Wechseltonhupe übertönt. Caro war abgelenkt. Doch nicht das Getöse der Stadt war schuld daran, dass sie ihre Yogaübungen unkonzentriert ausführte. Die Vorfreude auf den Abend war es, die sie in Gedanken immer wieder abschweifen ließ. Was hatte Ben für eine Überraschung auf Lager?

Verbissen richtete Caro ihre Aufmerksamkeit auf die Lockerung der Muskulatur und begann im Geiste noch einmal bei den Zehen. Sie wanderte die Waden hinab, doch schon als sie die Oberschenkel erreicht hatte, war sie in Gedanken erneut bei Ben. Was war es, das er ihr am Abend endlich erzählen wollte? Am Telefon hatte er so ein Geheimnis darum gemacht.

Caro kapitulierte und senkte die Beine kontrolliert zu Boden. Sie schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, bis Ben sie abholen würde, lange genug, um sich das zweite Auge ins Gesicht zu malen.

Ihr linkes Auge war ein wenig kleiner als das rechte, wenn auch nicht von Geburt an. Sie war durchaus mit zwei wohlgeformten Augenlidern zur Welt gekommen, doch um ihren siebten Geburtstag herum war ihrem Vater wieder einmal die Hand ausgerutscht, und sein Uhrenarmband aus Metall landete versehentlich unterhalb ihrer Braue, so dass sie wochenlang mit Augenklappe zur Schule gehen musste. Caros Sehkraft war nicht beeinträchtigt, aber die Haut am Oberlid verheilte ein wenig anders als erhofft, so dass ihre grünen Augen seither aus unterschiedlich geformten Lidern blickten.

Mit vierzehn Jahren hatte sie endlich Zeitungen austragen dürfen, und kaum hielt sie ihr erstes selbstverdientes Geld in Händen, machte sie einen Termin bei einer Kosmetikern, um von ihr zu lernen, wie das kleine Auge größer und das unverletzte kleiner wirkte.

Das Ergebnis veranlasste Caros Schwester Petra, ihr hübsches Gesicht zu einer Fratze zu verziehen und durch die Wohnung zu brüllen, Mama möge schnell kommen, Caro sei in den Farbtopf gefallen. Mama kam in Kittelschürze herbeigeeilt, warf nur einen kurzen Blick auf die Tochter, bevor sie den Kopf schüttelte:

»Was soll denn das für eine Kriegsbemalung sein?«

Das war das Stichwort gewesen. Längst hatte Caro gelernt, die Gemeinheiten der Mutter und Schwester zu erdulden. An jenem Tag jedoch war sie ihnen sogar dankbar für den ungewollten Hinweis auf die andere Seite der Medaille. »Kriegsbemalung!« Das Schminken hatte einen Sinn bekommen, eine zusätzliche Dimension. Plötzlich ging es nicht mehr darum, lediglich zwei gleich große Augen vorzutäuschen. Sie begriff, dass sie sich etwas viel Wertvolleres angeeignet hatte: ein Ritual zur Vorbereitung auf das tägliche Gefecht in ihrem Elternhaus. Von diesem Moment an betrachtete Caro das Schminken als unentbehrlichen und willkommenen Teil ihres Tagesablaufs. Um keinen Preis, selbst mit zwei vollkommen gleichgroßen Augen, hätte sie von nun an auf die Möglichkeit verzichtet, sich auf diese Weise gegen die Bosheiten der Welt zu rüsten.

Auch zwei Jahrzehnte später gehörte die Prozedur eines sorgfältigen Make-ups weiter zu Caros täglichen Beschäftigungen. Sie hatte es sogar zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht: Wer sie niemals ungeschminkt gesehen hatte, kam nicht auf die Idee, dass die Farben und Schatten um ihre Augen eine weit zurückliegende Verletzung verbargen.

Caro rollte die Yogamatte zusammen und schob sie an die Wand. Auf Socken ging sie ins Bad, wusch sich und wählte ein olivfarbenes Hemd und eine Cargohose im Woodland-Design aus. Um sich von Kopf bis Fuß betrachten zu können, stellte sie sich vor die Stirnwand ihrer Fabriketage, die fast vollständig unter der Fläche mehrerer goldgerahmter Spiegel vom Flohmarkt verschwand, die Caro wie ein Puzzle zusammengehängt hatte. Sie prüfte mit ernsten Augen ihr Spiegelbild, wie sie es immer zu tun pflegte, bevor sie das Haus verließ. Ihre zahllosen feuerfarbenen, sich kräuselnden Haarfäden hatte sie zu einem bauschigen Gebilde aufgetürmt.

»Meine Schwester balanciert rote Zuckerwatte auf dem Kopf!« Jahrelang hatte sie Petras schrille Stimme auf dem Schulhof ertragen müssen, doch schon lange entfaltete der Gedanke an diese Worte nicht mehr die damals beabsichtigte Wirkung. Im Gegenteil. Caro hatte gelernt, ihren roten Watteschopf gekonnt in Szene zu setzen.

Noch zehn Minuten, bis Ben auf den pfützenübersäten Hof hinter dem Fabrikgebäude fahren und zweimal hupen würde. Sie schaute aus den engsprossigen Industriefenstern hinunter auf den Hinterhof. Es hatte gar nicht viel geregnet in diesem Februar, aber der Untergrund war lehmig und hielt das Regenwasser fest.

Kein Vergleich allerdings zu den Wassermassen im Jahr zuvor, als es wochenlang vom Himmel geschüttet hatte. Schauer über Schauer hatten täglich neue Pfützen wachsen lassen, in denen sich die Welt spiegelte und Kopf stand. Es war viel wärmer gewesen in jenem Jahr. Beinahe meinte man, bereits den Frühling in der Stadt zu riechen. Caro hatte um dieselbe Uhrzeit vor ihrer Spiegelwand gestanden. Sie war mit ihren Freundinnen Steffi und Julia verabredet gewesen und schminkte sich an jenem Abend besonders sorgfältig, denn Julia hatte außer ihrem neuen Freund noch zwei seiner Kollegen zu dem Kneipenabend eingeladen. Genau ein Jahr war seit jenem Abend vergangen, als sie zu sechst in der Kneipe am Fischmarkt gesessen hatten, Ben, der sportliche, höfliche und gut aussehende Hüne ganz dicht neben ihr, so dicht, dass ihre Oberschenkel sich berührten, als er ihr überraschend ins Ohr flüsterte:

»Ich hoffe, du willst es nicht dem Zufall überlassen, wann wir uns wiedersehen.« Dabei hatte er gelächelt, einen Arm um Caro gelegt, mit seiner freien Hand ihre Finger an seinen Mund geführt und sie einige Sekunden lang an seine Lippen gedrückt. Nach dem angedeuteten Kuss hatte er eingehend ihre Finger betrachtet und die außergewöhnliche Glätte und Festigkeit ihrer Nägel bewundert. Caro war sich an jenem Abend nicht sicher gewesen, ob sie die Bemerkung als Kompliment auffassen oder lediglich dem routinierten Blick des Arztes zuschreiben sollte.

In den folgenden Wochen trafen sie sich fast täglich und überwiegend im Freien zu ausgedehnten Spaziergängen, denen Caro zugestimmt hatte; obwohl sie sich lieber in einem Café mit ihrem neuen Bekannten unterhalten hätte. Sie nahm ihre Kamera mit, um unterwegs ein paar Pfützenbilder schießen zu können. Ben fuhr sie in den Volkspark, und sie wunderte sich, dass sie noch nie dort gewesen war, obwohl sie schon viele Jahre in Hamburg wohnte. Es gab imposante Pfützen in diesem Park – prächtige Exemplare, deren Oberfläche Ben in voller Größe, wenn auch etwas verzerrt zurückwarfen, so dass Caro nur noch abzudrücken brauchte. Die Momentaufnahmen ihrer Freiluftaktivitäten betrachtete sie später am Rechner: Ben beim Sprung über eine Parkbank, Ben beim Hüpfen in der Hocke, Ben, wie er auf sie zugelaufen kam – er schien immer in Bewegung zu sein.

Jeden Moment würde nun die Hupe seines dunkelblau glänzenden Combis zu hören sein. Man konnte sich darauf verlassen, dass Ben stets pünktlich zum verabredeten Termin erschien. Caro betrachtete sich noch einmal in ihren Spiegeln: Die roten Haare kontrastierten wie gewünscht mit dem Oliv ihres Hemdes. Sie fühlte sich gerüstet für ihren Jahrestag.

2

Ranjeet räumte die leeren Teller ab, auf denen er zuvor Gemüsepakoras mit Minzsauce und Kichererbsen mit Lamm serviert hatte. Er schenkte nach, und Caro ließ einen Schluck des kräftigen Angoori-Weins durch ihre Kehle gleiten. Sie beobachtete, wie Ben sich mit dem Wirt unterhielt. Ranjeet gab sicher keine Weisheiten von sich, aber Ben besaß die Fähigkeit, allein durch seine Aufmerksamkeit und Zuwendung das an sich triviale Gespräch bedeutungsvoll erscheinen zu lassen.

Sie bewunderte diese Fähigkeit umso mehr, als Bens Verhalten von keinerlei Berechnung gesteuert war. Er mochte Menschen und schien alles, was sie sagten, ernst zu nehmen. Ben hatte den richtigen Beruf gewählt; er war ein guter Arzt. Die Menschen vertrauten seinem Urteil, und Caro war sicher, dass in nicht unerheblichem Maße seine überzeugende Intonation und Anteilnahme zu ihrer Genesung beitrug. Gelegentlich allerdings beunruhigte Caro seine Leidenschaft für den Beruf, auch wenn alle wissend mit dem Kopf nickten, sobald sie auf das Arbeitspensum eines Klinikarztes zu sprechen kam. Aber war es gut, so viel Zeit mit Arbeiten zu verbringen? Andererseits war sie froh über seine Ernsthaftigkeit. Auf Ben war Verlass, das hatte sie vom ersten Tag an gespürt, und sie fand, dass sie allen Grund hatte zu feiern.

Ranjeet war wieder in der Küche verschwunden. Ben schob sein Glas beiseite und lehnte sich mit seinem Oberkörper über den Tisch, um an Caros Finger heranzureichen. Sie rollte sie ein und drehte ihre Fäuste ganz leicht in der schützenden Schale seiner Hände. Die Reibung ihrer Hautflächen vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, von einer Geborgenheit, die sie im Laufe des vergangenen Jahres anfänglich mit ungläubigem Staunen, später mit wachsendem Vertrauen genossen hatte. Ben schaute ihr in die Augen und drückte ihre Hände. Jetzt würde er das Geheimnis lüften. Sie reckte den Hals noch ein Stück weiter nach vorne.

»Carissima, erinnerst du dich an Bertram, meinen Kollegen, mit dem ich Tennis spiele?« Caro nickte und zog die roten Augenbrauen hoch, um vollste Aufmerksamkeit zu signalisieren. »Also Bertram«, sprudelte es im nächsten Augenblick aus Ben nur so heraus, dass Caro Hören und Sehen verging. Bertrams Vorschlag, Bertrams Vater, Bertrams Angebot. Die Fakten jagten so schnell vorbei, dass Caro sie nur mühsam erfassen konnte. Der sonst so gelassene Ben hastete von Satz zu Satz, als er seinen Fluchtplan aus der Klinikmühle schilderte, und Caro begriff schließlich: Bertrams Vater hatte eine Arztpraxis in der niedersächsischen Provinz, die er seinem Sohn übergeben wollte. Und dieser hatte Ben, der sein Glück kaum fassen konnte, vorgeschlagen, als Partner einzusteigen.

»Was sagst du nun«, hörte sie Ben mehr schreien als sprechen, als er sich und ihr das Leben in einem bezaubernden kleinen Ort am Rande des Elm-Höhenzuges ausmalte. »Und so ein Hauptgewinn rechtzeitig zu unserem Jubiläum – die Götter müssen uns lieben!«

Caro wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es wollten sich keine Worte formen. Sie war sich nicht sicher, dass sie begriffen hatte, was Ben damit andeuten wollte. Überlegte er etwa ernsthaft, in eine Landpraxis einzusteigen? Aber das ging nicht! Er konnte doch Hamburg nicht verlassen, wie stellte er sich das vor?

Sie hastete gedanklich hin und her und hatte mit einem Mal die Zukunft klar vor Augen: Sie würden eine Wochenendbeziehung führen müssen. Aus und vorbei mit spontanen Treffen in Kneipen und Cafés, Schluss mit der Kostbarkeit ungeplanter Augenblicke, alles würden sie künftig im Voraus bedenken müssen. Bei Regen, Schnee, bei Hitze, immer würden über zweihundert Kilometer zwischen ihnen liegen, die es zu überwinden galt. Frühes Aufstehen am Wochenende, überfüllte Züge, Staus auf der Autobahn. Und darüber sollte sie sich freuen?

»Wie stellst du dir das vor? Ein Wochenende hier, ein Wochenende dort?«, war schließlich das Einzige, was sie auszusprechen in der Lage war.

»Caro!«, versuchte Ben sie zu begeistern für eine Idee, die, so musste er bekennen, zwar ganz frisch sei, aber sie müsse zugeben, das sei ein Angebot, das zu prüfen sich lohne, er könne zu unschlagbar günstigen Konditionen einsteigen, sie müsse sich nur mal vorstellen, einen eigenen Arbeitsbereich, keine Klinikdienste, keine Rufbereitschaft, nie mehr den Chefarzt im Nacken. Natürlich sei das zunächst nur ein Angebot von Bertram, über das er nachdenken solle. Aber er habe gehofft, sie könnten das gemeinsam tun. Er blickte ihr direkt in die Augen.

»Ist es für dich denn so abwegig, dass wir gemeinsam umziehen?« Mit einem Ruck saß Caro kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie nahm ihren Kelch in die Hand und trank den Angoori-Wein mit einem kräftigen Schluck aus. Beim Absetzen des Glases fiel ihr Blick auf eine Spur von Weinstein auf seinem Kristallboden, die ihr wie angespültes rotes Strandgut erschien. Alles, einfach alles war in Auflösung begriffen, trieb über die Ozeane und wurde irgendwo als Treibholz wieder angeschwemmt.

»Du meinst, aus Hamburg wegziehen?« Caro konnte selbst nicht glauben, was sie da fragte. Das war vollkommen undenkbar.

»Wäre das so schlimm?«

»Eine Katastrophe wäre das«, hätte Caro am liebsten gerufen, aber da Bens Miene einen solchen Enthusiasmus verriet, dass jede Bejahung der Frage einer schroffen Zurückweisung gleichgekommen wäre, schwächte sie ihre Antwort ab:

»Seit dem Tag, an dem ich aus dem Dorf und Haus meiner Eltern fortgegangen und nach Hamburg gezogen bin, habe ich niemals daran gedacht, die Stadt je wieder zu verlassen.«

Erschrocken räumte Ben ein, er hätte sie mit der Idee nicht so überfallen sollen. Ihm ginge jedoch das Gespräch mit Bertram nicht mehr aus dem Kopf, und an diesem besonderen Tag habe er sich darauf gefreut, bei einer Flasche Wein und Ranjeets Köstlichkeiten gemeinsam mit ihr über den Vorschlag nachzudenken.

Wie auf Kommando nahte mit kleinen schnellen Schritten der Wirt, servierte Caro ihre Okra mit Kokosnuss und Ben sein Tandoori-Hähnchen und schenkte mit ruhiger Hand Rotwein nach. Kaum war er wieder in der Küche verschwunden, sagte Caro mit einer leichten Schärfe in der Stimme:

»Nachzudenken? Sieht aus, als hättest du dich schon entschieden« und wickelte sich vor lauter Anspannung eine ihrer losen Strähnen um den Mittelfinger, bis sie am Haaransatz angekommen war, wo sie so lange an dem Strang zerrte, bis sie einige der Fäden in der Hand hielt.

»Möglicherweise bietet sich nie wieder eine so günstige Gelegenheit. Und du weißt ja selbst, dass ich bestimmt nicht traurig wäre, dem Lärm der Stadt zu entkommen. Aber ohne dich wäre die Aussicht natürlich trübe.«

Caro beobachtete, wie Ben sich aus einem kleinen Schälchen eine bescheidene Portion Chutney auf seinen Teller füllte, nicht zu viel, um seinen Zuckerkonsum in Grenzen zu halten. Sie schüttelte sich die ausgerupften Haare von der Hand, ließ sie neben sich auf den Steinfußboden gleiten und dachte:

»Trübe, mag sein. Aber gehen würdest du auch ohne mich.«

Laut bat sie ihn darum, ihr Zeit zum Nachdenken zu geben und das Thema zu vertagen.

»Sicher«, sagte Ben und begann dennoch, ihr alle Einzelheiten zu Lage und Ausstattung der Praxis und Aussicht auf Übernahme des Personals zu erläutern. Je länger er von den Möglichkeiten erzählte, die die Zukunft für ihn bereit hielt, desto deutlicher wurde Caro, dass er mit Bertram bereits detailliert geplant haben musste. Selbst die Aufteilung der Praxisräume konnte er ihr schon auf der Serviette aufzeichnen. Und je eifriger Ben Detail an Detail reihte, um seinen Traum möglichst plastisch auszumalen, desto diffuser wurden Caros Bilder ihrer eigenen Zukunft, so dass sie mit einem Mal das Gefühl hatte, Ben stoppen zu müssen.

»Lass uns heute die Zeit anhalten«, unterbrach sie ihn. Gesenkten Hauptes stocherte sie in ihrem vegetarischen Curry herum. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder in die Sommer ihrer Kindheit versetzt, als ihre Mutter ihr eine große Schüssel Erbsen auf den Schoß stellte, die sie palen musste, während alle anderen aus der Klasse zum Schwimmen an den Baggersee gehen durften.

3

Ein Treffen mit Steffi und Julia verhieß seelischen Beistand, spannende Kontroversen oder einfach nur Spaß. An diesem Ostermorgen jedoch näherte Caro sich mit einer gewissen Anspannung der Kneipe, in der sie zum Frühstück verabredet waren. Sie konnte nicht umhin, sich mögliche Reaktionen der Freundinnen auf ihre Neuigkeiten vorzustellen.

Steffi würde ihre großen Augen vermutlich noch weiter aufreißen und die ganze Kneipe mit ungläubigen Ausrufen beglücken. Oder würde die unerwartete Nachricht ihr ausnahmsweise einmal die Sprache verschlagen? Nein, wahrscheinlicher war eine Salve lautstarker Zweifel an Caros Zurechnungsfähigkeit.

Und Julia, das war klar, würde zwischen ihren überlangen Ponyfransen hindurchgucken und sich halbtot lachen, in einer Hand ein Glas Sekt etwa in Augenhöhe balancieren und mit der anderen ihre glatten blonden Haarsträhnen vom Busen auf den Rücken befördern. Sie würde vor lauter Prusten gar nicht zum Trinken kommen und sich schließlich doch wieder beruhigen, um ihr erstes Glas leeren zu können.

Entsetzen oder Spott – was war leichter zu ertragen? Caro presste die Lippen aufeinander und öffnete die Tür, die in den Gastraum ihrer Stammkneipe führte. Ella, die Studentin hinterm Tresen, nickte ihr freundlich zu, schäumte gleichzeitig die Milch für einen Cappuccino auf und flirtete nebenbei mit einem Gast. Aus den Boxen klang »Nature Boy«, und Caro überlegte, wie lange sie Frank Sinatra ertrug, bevor sie Ella anflehen musste, etwas anderes aufzulegen.

Caro hielt diese Musik nicht aus; immer hatte sie dabei das Gesicht ihres Vaters vor Augen, wie er am Sonntag Morgen in Unterhemd und Trainingshose am Küchentisch saß, sich eine Zigarette drehte, mit dem Fuß penetrant den Takt stampfte und hin und wieder einen Schluck aus der Bierdose nahm. Wie er die Augen verdrehte, die Lippen spitzte und mit einem jaulenden »uuuhuuuhuuuhu« den Chor begleitete, als könne er mit seinem Winseln darüber hinwegtäuschen, dass er kein Wort von dem verstand, was Sinatra als »the greatest thing you’ll ever learn« besang. Missmutig wählte Caro einen Tisch aus, ließ sich auf einen Stuhl fallen und verbannte die Erinnerungen, indem sie mit den Fingern ihre Frisur abtastete, die wie immer ein Kunstwerk war.

Der Sinatra-Song war zu Ende. Aus den Lautsprechern drang ein Flamenco, und Caro atmete auf. Wenigstens das Feilschen um eine andere Musik blieb ihr erspart.

»Hey!«, rief eine Stimme am Eingang, und Caro musste lächeln, als sie Steffi erblickte. Nie konnte man ihr Outfit im Voraus erahnen. Mal erschien sie mondän, mal sportlich, an einem Tag kreischend bunt, am nächsten ganz in schwarz. An diesem Morgen hatte sie ein T-Shirt mit einem rot-gelben Superman-Dreieck angezogen, in dem sie ihre Brust herausstreckte und mit verschmitzten Augen auf die Freundin zukam.

»Es gibt keine Zufälle«, seufzte sie, umarmte Caro und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder. »Rate, wen ich eben getroffen habe.«

»Sicher deinen Fotografen mit dem seltsamen Namen, den ich mir nicht merken kann.«

»Haerviu. Richtig. Ich habe mich gerade geschlagene zehn Minuten mit ihm unterhalten. Aber dann musste ich los, bin ja schließlich hier verabredet, nicht?« Dabei kicherte sie, langte über den Tisch und kniff Caro in den Oberarm.

Natürlich hätte Steffi keinerlei Skrupel gehabt, zu spät zum Frühstück zu kommen, wenn Haerviu ihr eine Gelegenheit dazu gegeben hätte. Schließlich kannten Caro und Steffi sich seit ihrem Studium, und es hatte in den vergangenen Jahren genügend Situationen gegeben, in denen sie das Verständnis der anderen dringend gebraucht und zuverlässig bekommen hatten. Caro wäre geradezu begeistert gewesen, wenn Steffi sich verspätet und stattdessen die Bekanntschaft mit Haerviu vertieft hätte. Denn Caro hoffte, dass er sich endlich einmal als Glücksfall erweisen möge: phantasievoll, bindungsfähig und nicht gänzlich abgeneigt, ein Kind zu zeugen.

Steffi hatte jetzt ihre Strategie geändert: Sobald sie jemanden kennenlernte, tat sie alles, um ein mögliches Hindernis auf dem Weg zu ihrem Kinderwunsch so früh wie möglich aufzuspüren, denn sie hatte zu viele Enttäuschungen erlebt, zu viele Gefühle investiert, um dann jedes Mal feststellen zu müssen, dass der Auserkorene partout nicht Vater werden wollte. Caro verstand nicht, warum Steffi sich nicht dazu entschließen konnte, alleine ein Kind großzuziehen, wenn sie so dringend Mutter werden wollte. Doch da war Steffi absolut unbeweglich: Kein Vater – kein Kind. Und so hatten sie im vergangenen Monat ohne einen geeigneten Kandidaten Steffis sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert.

»Das wäre ja noch schöner – mich hier zu versetzen«, sagte Caro und machte ein paar Faxen, um ihre Sorgen um den Nachwuchs der Freundin zu verbergen. Sie hielt den Kopf schief, so dass eine lose Strähne ihr vors Auge fiel, und sie versuchte, sie durch Pusten wieder in ihre ursprüngliche Position zu bringen. »Reicht ja, wenn Julia uns wieder hängen lässt.« Caro griff nach dem Haarstrang und beförderte ihn vorsichtig zurück auf den Kopf.

»Sind wir heute etwas zickig?« Steffi begann, ihre geräumige Ledertasche nach irgendetwas umzugraben. Caro reagierte unwirsch, fragte, ob Steffi es in Ordnung fände, dass Julia grundsätzlich zu spät kam, ereiferte sich, spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Mühelos hätte Caro das Thema ausschmücken können, Beispiele anführen, sich in Rage reden, aber da sie nur zu gut wusste, wie ihre Tiraden in der Regel endeten und sie sich vorgenommen hatte, diese Dummheiten künftig zu unterlassen, war sie dankbar, als sie unterbrochen wurde:

»Sag das nicht mir, sag das ihr.« Steffi gähnte und beförderte ein zerknittertes Stück Papier aus den Tiefen ihrer Tasche ans Tageslicht und schob es Caro hinüber. Die faltete den Bogen auseinander und schaute einige Augenblicke lang intensiv auf den Entwurf eines Abendkleides.

»Phantastisch! Steffi, du wirst der Star des Abends sein.«

»Das darf man wohl auch erwarten, wenn man sein eigenes Atelier eröffnet.« Steffi fuhr sich durch die strubbeligen Haare. »Und du brauchst gar nicht so zu grinsen. Ja, Haerviu hab ich auch eingeladen, und er hat zugesagt!«

In diesem Moment schallte aus dem Eingangsbereich der Kneipe ein dumpfer Knall herüber, gefolgt von einem spitzen Schrei. Steffi und Caro starrten in die Richtung, aus der die Störung kam, und guckten sich an, als wollten sie sagen: »Wer auch sonst?«. Aber bevor sie Julia dabei helfen konnten, den Garderobenständer wieder aufzurichten, hatte sie das Malheur bereits behoben und die Mäntel, Jacken und auf Holzhalterungen gezogenen Zeitungen zurück ans Gestell gehängt. Julia strich ihr Kleid bereits wieder glatt und schritt erhobenen Hauptes über den Holzboden an den Tisch der Freundinnen.

»Frohe Ostern, ihr beiden!«, grüßte sie mit heiserer Stimme und umarmte erst Steffi und dann Caro.

»Ostern? Was war das mal noch?«, alberte Caro herum, die seit ihrer Kindheit mit jedem kirchlichen Feiertag eine Demütigung verband. Sicher, auch sie war seinerzeit in der Dorfkirche konfirmiert worden wie alle anderen ihres Jahrgangs auch, aber dieses Ereignis hatte viel von seinem Glanz verloren, als ihre Mutter sie zwang, zur Konfirmation Petras schwarzes Kostüm zu tragen, dessen Innenfutter die Schwester unter den Achseln durchgeschwitzt hatte.

Steffi rollte mit den Augen, warf Caro einen tadelnden Blick zu und sagte »Hey, Julia, frohe Ostern«.

»Gelungener Auftritt«, nickte Caro und wusste im selben Moment, als sie es aussprach, dass ihr die Bemerkung wieder ein Quäntchen zu boshaft geraten war. Denn die Art und Weise, wie Julia sich stets in Szene setzte, ärgerte Caro. Sie missgönnte ihr die provozierte Aufmerksamkeit. Und es ärgerte sie, dass sie diese Missgunst empfand. War sie vielleicht eifersüchtig auf die Leichtigkeit, mit der die Freundin die Blicke aller Männer auf sich zog?

Die Frauen hatten längst ihre Croissants gegessen und Cappuccinos getrunken, als Caro sich endlich entschloss, auf ihre Neuigkeit zu sprechen zu kommen.

»Ben hat heute Dienst«, warf sie unvermittelt als Appetithappen in den Raum.

»Das ist ein Naturgesetz, dass Klinik-Ärzte an Feiertagen Dienst haben«, gab Julia trocken zurück.

»Aber es gibt Neuigkeiten.« Caro nahm sich vor, einfach und emotionslos nach und nach die Tatsachen auf den Tisch zu legen. Kein Grund sich aufzuregen. »Die Schinderei in der Klinik hört demnächst auf. Ben hat ein Angebot von seinem Kollegen Bertram, in eine Gemeinschaftspraxis einzusteigen.«

»Das sind ja mal gute Neuigkeiten«, rief Steffi.

»Wow!« Julia schob ihre Tasse ein Stück von sich weg und lehnte sich erwartungsvoll auf ihre Unterarme.

Caro fuhr sich über ihre Frisur und steckte eine verirrte Strähne zurück in das wattige Gebilde auf ihrem Kopf. Los jetzt. Sie würde irgendwie noch den entscheidenden Satz hinzufügen müssen.

»In welcher Ecke liegt die Praxis denn?«, kam Julia ihr zuvor.

»Ecke«, dachte Caro, »ist das falsche Wort. Ecke wäre hier in Hamburg. Ecke wäre Altona. Oder Eimsbüttel. Mit etwas gutem Willen sogar noch Barmbek. Aber die Praxis auf dem Lande – nein. Ecke passt hier wirklich nicht.«

»Im Elm«, hörte sie sich sagen und zog den Kopf ein, weil sie im nächsten Moment das klangvolle Halali ihrer Freundinnen erwartete. Doch die Jagdrufe blieben aus.

»Im Elm?« Steffi flüsterte beinahe. »Wo soll das denn sein?«

»Norddeutscher Höhenzug mit drei Buchstaben, nie gehört? Rund zweihundert Kilometer von hier.« Caros Antwort kam eine Idee zu schnell.

»Wieso denn im Elm? Zieht Ben etwa in Betracht, im Elm zu arbeiten? Meine Güte, bei der Entfernung will er pendeln?«

»Unsinn, er wird nicht pendeln, er hat beschlossen, an den Elmrand umzuziehen«, klärte Caro die Freundinnen auf und verordnete sich einen entspannten Gesichtsausdruck.

Steffi wusste nichts zu sagen, faltete den Entwurf ihres Abendkleides zusammen und wieder auseinander und blickte Caro fassungslos an. Julia zog die Augenbrauen hoch; auch ihr missfielen die Fakten ganz offensichtlich. Dennoch sagte sie nach einer Weile:

»Nun mal keine Panik, Mädels. Es gibt Tausende von Wochenendbeziehungen. Das muss ja nun nicht das Ende der Welt sein.«

»Zumal es dazu auch überhaupt nicht kommen wird«, beeilte sich Caro zu sagen. »Ben hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass wir gemeinsam in den Elm gehen und dort zusammen leben und arbeiten. Und meine Antwort lautet: Ja.« Erleichtert ließ sie sich gegen ihre Stuhllehne fallen. Das war’s. Sie hatte alles ausgespuckt. Ihre Freundinnen waren auf dem aktuellen Stand.

Julia erhob sich wortlos von ihrem Stuhl und stöckelte hinüber zum Tresen.

»Jetzt mal Spaß beiseite«, begann Steffi, die aufrecht am Tisch saß und Caro ins Gesicht starrte. »Denkst du allen Ernstes darüber nach, in den Elm zu ziehen? Ich meine, Caro, überleg doch mal. Was willst du denn da machen?«

»Na hör mal, dasselbe wie hier. Meine Websites kann ich genauso gut dort entwerfen. Genau das sind ja schließlich die Vorzüge des Internets: Ich kann auf einer Waldlichtung sitzen und per Satellit mit meinen Kunden kommunizieren.«

»Das ist doch Bullshit. Natürlich kannst du auf einer Waldlichtung sitzen. Die Frage ist nur, ob du das auch willst.«

»Ja, ich will. In guten wie in schlechten Zeiten«, kicherte Caro.

»Willst du ernsthaft behaupten, du hast Lust dazu, tagein tagaus in der Natur zu hocken? Ausgerechnet du? Das hältst du nie aus. Da wird dir gar nichts anderes übrig bleiben, als dich im Internet zu vergraben, weil du ja irgendwie dem Elend der Wälder entfliehen musst. Und das war’s dann. Plötzlich findest du dich wieder in der ultimativen Abhängigkeit: Ein Netzjunkie mit Laptop auf der Waldlichtung. Herzlichen Glückwunsch!«

»Denkst du, im Elm leben keine Menschen?« Caro ärgerte sich.

»Fahr halt hin und sieh nach. Aber mal ehrlich, Caro, du gehst doch nur mit, um Ben nicht aus den Augen zu lassen.«

»Was heißt aus den Augen zu lassen? Ich will mit ihm zusammen sein. Das letzte Jahr war bei Weitem das sonnigste in meinem Leben, das weißt du doch am besten!«

»Ja, hier in Hamburg«, sagte Steffi. Julia kehrte an den Tisch zurück und stellte einen Sektkühler mit Inhalt in die Mitte, öffnete die Flasche und schenkte drei Gläser voll.

»Wo genau liegt denn der Elm?« erkundigte sie sich.

»Im Niemandsland zwischen Braunschweig und Magdeburg«, alberte Caro, aber kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, ärgerte sie sich über ihre Wortwahl. Sie sollte etwas mehr Enthusiasmus an den Tag legen. »Kilometerweit saftige Buchenwälder«, fuhr sie fort, »nach unserer Erkundungstour am Wochenende werde ich euch berichten.« Im Geiste sah sie sich schon in Wanderstiefeln über Baumwurzeln stolpern und verscheuchte diese Vorstellung mit dem Griff nach ihrem Sektglas.

»Tja, dann auf die Osterüberraschung«, prostete Julia ihr aufmunternd zu. Steffi runzelte die Stirn. Anstatt etwas zu entgegnen, berührte Caro mit ihrem Kelch die beiden Gläser, die ihr entgegengehalten wurden. Dabei musste sie fast ein wenig verschämt lächeln, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.

4

Caro erwachte, hielt die Augen aber weiter geschlossen. Die Nacht war zu kurz gewesen. Neben sich hörte sie Steffi schmatzen, wie sie es immer tat, bevor sie zu sich kam. Jeden Moment würde die Freundin die Augen aufschlagen und sich bewusst werden, dass jener Tag vor ihr lag, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatte: der Tag der Eröffnung ihres eigenen Modeateliers. Und Caro war froh, dass er noch in die Zeit vor ihrem Umzug an den Elm fiel, denn an einem für Steffi so wichtigen Tag erst anreisen zu müssen – das hätte sich falsch angefühlt.

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9783847618799
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