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Der Einfluß des chinesischen Kempō auf die japanischen und okinawanischen Kampftechniken
Nach alten Aufzeichnungen soll in der Edo-Zeit der Chinese Chin Gempin26 als erster das Kempō nach Japan gebracht haben. Es heißt, er habe Kempō im Songshan-Shaolinkloster gelernt und sei ein genialer Mensch gewesen, der im gesamten Wissen seiner Zeit bewandert war, d. h., nicht nur im Konfuzianismus, im Buddhismus und im Taoismus, sondern auch in der Kalligraphie und der Tuschemalerei, der Poesie, der Herstellung von Keramik, Süßigkeiten und Kräutermedizin und darüber hinaus auf dem Gebiet der Akupunktur und Moxibustion27. Nach seiner Ankunft in Nagasaki reiste er auf der Hauptinsel bis in die Region um das heutige Nagoya. Er soll dreimal vom Regenten Tokugawa Iemitsu empfangen worden sein und viele Fürsten getroffen haben, denen er seine Künste vermittelte. Der Kitō-Stil des japanischen Jūjutsu wurde von Fukuno Masakatsu Shichiroemon und Ibaragi Sensai entwickelt, nachdem sie von Chin Gempin unterrichtet worden waren.
Andere Stile hatten ebenfalls ihren Ursprung in China, so z. B. der bekannte Yōshin-Stil, der zu Beginn der Edo-Zeit in Nagasaki von dem Arzt Akiyama Shirōbei geschaffen wurde. Dieser beruhte auf Kempō-Studien, die der Mediziner während einer Chinareise betrieben hatte. Aus dem Tenshin-Shinyō-Stil, der aus dem Yōshin-Stil hervorgegangen war, sowie aus dem Kitō-Stil, entwickelte Kanō Jigorō später das Jūdō.
Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, daß die ursprünglichen Stile des Jūjutsu direkt aus dem chinesischen Kempō stammen. Auch in Japan gab es seit alter Zeit Techniken des waffenlosen Kampfes. Der Takenouchi-Stil, der als der älteste im japanischen Jūjutsu gilt, hatte seinen Ursprung in Kurzschwerttechniken, die Takenouchi Hisamori angeblich in der Folge eines langen Gebets, in dem er den Geist des Berges Atago gebeten hatte, ihn zu einem Meister in den Kampfkünsten zu machen, von einem weißhaarigen Bergmönch vermittelt bekam. Dies ereignete sich einhundert Jahre vor dem Eintreffen von Chin Gempin (1587-1670), zu Beginn der Zeit der Feudalkriege im 16. Jahrhundert.
Selbstverständlich hat das chinesische Kempō das japanische Jūjutsu stark beeinflußt. Es war wohl nicht sein Ursprung, aber es nährte und förderte seine Entwicklung. Im Jūjutsu werden z. B. atemi, d. h., gegen bestimmte Körperteile gerichtete, lebensgefährliche K.-o.-Schläge, nicht eingesetzt und demzufolge auch kaum trainiert. Hingegen sind Würfe und Hebeltechniken sehr wichtig. Vor allem sollte das Jūjutsu den Kampf mit der Waffe unterstützen. Seit dem 12. Jahrhundert, der Kamakura-Zeit, als die Ära der Samurai begann, erlebte Japan eine Blütezeit der Schwerttechniken, so daß waffenlose Techniken nur eine sekundäre Rolle spielten.
Auch vom Karate wird oft behauptet, daß es seinen Ursprung im chinesischen Kempō habe. Wegen der technischen Ähnlichkeiten und der Bezeichnungen für die Kata ist das auch durchaus naheliegend. Aber es existieren darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen. Also kann man diese Hypothese auch nicht als bewiesen betrachten. Auf Okinawa gab es seit alter Zeit eine Form des Kempō, die man einfach »Hand« (jpn. te bzw. de) nannte. Dagegen bezeichnet man das chinesische Kempō als »Chinesische Hand«, Tōde.
Seit Mitte des 14. Jahrhunderts war das Königreich Ryūkyū der Ming-Dynastie in China gegenüber tributpflichtig. Die Beziehungen zwischen den Ryūkyū-Inseln und China wurden in der Folge enger als die zwischen Japan und China. Bewohner der Ryūkyū-Inseln, die zu Studienzwecken oder als Gesandte China bereisten, wurden nicht nur durch die chinesische Kultur beeinflußt, sondern brachten auch Kenntnisse über die Kampfkünste in ihre Heimat. Natürlich kamen auch viele Chinesen vom Festland nach Okinawa und vermittelten den Insulanern ihr Wissen. Dabei spielten wahrscheinlich die Leibgarden der chinesischen Beamten, die als Gesandte – oder, um es mit einem modernen Wort auszudrücken, als Botschafter – nach Okinawa reisten, eine wichtige Rolle. In der Geschichte der Ryūkyū-Inseln gab es 23 solcher chinesischer Missionen, denen neben den Gesandten auch Wach- und anderes Begleitpersonal angehörte. Insgesamt waren es ca. 500 Chinesen, die auf diese Weise die Inseln bereisten. Schon wegen der Bedrohung durch Seeräuber mußten die Leibwächter zu der in den Kampfkünsten besonders geschulten militärischen Elite gehören. Während der Begrüßungsfeierlichkeiten für die Gesandtschaften aus China führten Leibwächter offenbar auch chinesische Kempō-Kata, sogenannte Tao, vor. Die Kata Wanshū und Kōsōkun des Shuri-te beispielsweise sollen nach den Leibwächtern benannt sein, durch die sie überliefert wurden.
Es gibt auch die Meinung, die Bezeichnung »Hand« (te) für die Ryūkyū-Techniken entspräche dem in Japan üblichen Sammelbegriff von den »18 Kampfkünsten« (Bugei jū happan).28 Denn ebenso wie die Samurai in Japan trainierten auch die Bushi29 auf den Ryūkyū-Inseln verschiedene spezielle Kampftechniken.
Die Herausbildung des originären okinawanischen Karate erfolgte insbesondere unter dem Einfluß von zwei Perioden des Waffenverbots auf der Insel. Nachdem es Fürst Oho (Shō) Hashi (1372-1439) gelungen war, das Land zu vereinigen, ließ König Oho (Shō) Shin (1465-1526) die lokale Oberschicht entwaffnen und zwang sie zur Ansiedlung in der Burgstadt Shuri. Er verbot das Tragen von Waffen, schuf eine Zentralgewalt und eine allgemeine Rechtsordnung.
Im Jahre 1609, nahezu anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten Waffenverbot, eroberte der japanische Shimazu-Klan die Ryūkyū-Inseln. Diese Samurai hatten ihren Hauptsitz im Süden von Kyūshū, in der Region Satsuma. Erneut wurde allen Okinawanern das Tragen und der Besitz von Waffen verboten. Unter diesen Bedingungen mußte man sich bei der Entwicklung der te genannten Kampftechniken zwangsläufig auf den waffenlosen Kampf orientieren. So entstand unter dem Einfluß des chinesischen Kempō das Ryūkyū-Kempō, die Urform des heutigen Karate.
Wäre auch in Japan der Waffenbesitz verboten gewesen, hätten sich wahrscheinlich hier ebenfalls dem Karate ähnliche Formen des waffenlosen Kampfes entwickelt. Wären andererseits auf den Ryūkyū-Inseln Waffen erlaubt gewesen, hätten sich vermutlich dem japanischen Jūjutsu ähnliche Begleittechniken zum Schwertkampf herausgebildet. So aber entstand auf Okinawa eine einzigartig reine Form des waffenlosen Kampfes, über die mein Vater im Vorwort zu seinem 1934 erschienenen Buch »Angriffs- und Abwehrtechniken zur Selbstverteidigung im Karate Kempō«30 folgendes schrieb:
Am Südwestzipfel Japans gibt es eine Inselkette, die sich wie ein Tau (jpn. nawa) durchs offene Meer (jpn. oki) zieht. Deshalb heißt sie auch ›Tau im offenen Meer‹, also Okinawa. Seit alter Zeit sind diese Inseln berühmt als bewaffnetes Land ohne Waffen. Denn seine Waffen sind allein die Karate-Kampftechniken.
Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken
Mein Vater pflegte zu sagen: »Karate ist der legitime Erbe der Bujutsu-Kampfkünste«.31 Ich denke, Karate ist tatsächlich die Grundlage aller Budō-Kampftechniken. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste besteht darin, daß der Kampf mit nichts als den eigenen Händen die primitivste, ursprünglichste Form des Kampfes darstellt. Darüber hinaus ist es gerechtfertigt zu sagen, daß die Waffen vom Stock über Schwert, Pfeil und Bogen und Gewehr, bis hin zur Rakete letztendlich nichts anderes sind als Verlängerungen der Hand.
Hat man keine Waffen oder verzichtet man auf ihren Einsatz, bleibt einem nichts, als mit den leeren Händen zu kämpfen. Wurde ein Samurai von einem Unbewaffneten zum Kampf herausgefordert, legte er ohne zu zögern seine Waffen zur Seite und stellte sich dem waffenlosen Kampf. Die Turniere der Heian- und Kamakura- Zeit begannen immer mit dem Bogenschießen. Danach folgten in kürzer werdenden Abständen Speer- und Schwertwettkämpfe. Wurden die Zweikämpfe zu hitzig, kam das Kommando: »Achtung! Auseinander!« Daraufhin wurden die Waffen abgelegt, und es begann der Kampf mit bloßen Händen.
Um den Kampf mit bloßen Händen zu unterstützen, nutzte man im übrigen grundsätzlich alle gerade verfügbaren geeigneten Dinge. Daraus entwickelten sich die verschiedenen Techniken zum Kampf mit Waffen. Im Unterschied zum Jūjutsu, welches ein technisches System zur Unterstützung von Schwert- und anderen Waffentechniken ist, hat das Karate zu seiner Unterstützung Waffentechniken integriert. So wurden auf den Ryūkyū-Inseln schon in alter Zeit verschiedene Alltagsgegenstände der Bauern und Fischer, unter anderem der Stock (bō), der Dreizack (sai), der Stock mit seitlichem Griff (tonfa) und der mehrgliedrige Stock (nunchaku) als Karate-Hilfsmittel eingesetzt.32
Der zweite Grund, Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken zu bezeichnen, besteht darin, daß es im Karate keine verbotenen Schläge gibt. Schließlich besteht das Ziel ja darin, den Gegner tödlich zu verletzen und zwar nicht mit einer Waffe, sondern mit den bloßen Händen. Aus diesem Grund wird der gesamte Körper aufs äußerste für den Kampf vorbereitet, all seine Bestandteile und Funktionen werden dabei einbezogen. Während des Waffenverbots unter der Shimazu-Herrschaft wurde das aus alter Zeit stammende Wissen darüber, wie man ohne Waffen auf Leben und Tod kämpft, genau überliefert. Allerdings wurde das Wissen ausschließlich mündlich weitergegeben. Die Techniken waren in den Kata enthalten. Da man diese für sich allein übte, war es nicht notwendig, irgendwelche Schläge oder Tritte wegen ihrer Gefährlichkeit zu verbieten. Auf diese Weise ist Karate zu einer weltweit einzigartigen Kampfkunst geworden.
Dazu schrieb mein Vater im Jahre 1938 folgendes:
Wenn es Leute gibt, die glauben, man müsse, um mit der Zeit zu gehen, die Kata und das kumite des Karate in Sport verwandeln, sie unter dem Vorwand der Körperertüchtigung von ihrem Wesen als Bujutsu, als Kampfkunst ablösen, so muß man diesen Leuten sagen, daß sie offenbar nicht erkennen, daß sie damit den ersten Schritt machen zu einem unglaublich schwerwiegenden Fehler, nämlich zur Auflösung der Werte des Karate als Bujutsu, als Kampfkunst. Sicher muß man auch beim Kata- und kumite-Training die Bewegungen der Arme und Beine bis ins kleinste streng bewerten und korrigieren, aber vom Standpunkt der Kampfkunst aus gesehen. Physiologisch-rationale vorbereitende und unterstützende Übungen, die dazu dienen, die Funktionen des Bewegungsapparates und der inneren Organe zu optimieren, können in das Training einbezogen werden. Man darf aber nicht glauben, man könne den Kampfkunstgehalt des Kata- und des kumite-Trainings vervollkommnen, indem man beides in Sport oder Vergnügung verwandelt.
Mein Vater sah damit in gewisser Weise die heutige Form des Karate voraus und warnte vor dieser Entwicklung. Die Verwandlung des Karate in einen Wettkampfsport ist auch eines der großen Themen dieses Buches. Bevor ich mich dazu konkreter äußere, möchte ich noch etwas über die Geschichte des Karate sagen.
1.2 Das Karate von Okinawa
Das ursprüngliche Okinawa-te
Auf Okinawa entwickelten sich drei spezielle Stile des Karate, und zwar in Shuri, Naha und Tomari.33 Der Begriff Karate wurde in den Jahren 1911/1912 eingeführt, als das »Okinawa-Boxen« bzw. die »Okinawa-Hand« (Okinawa-te) zum Pflichtfach an den japanischen Mittelschulen wurde.
Man schrieb Karate zunächst mit den Zeichen für »Tang-China« (China in der Tang-Zeit) und »Hand«. Wie bereits erwähnt wurde, bezeichnete man die überlieferte heimische Kampfkunst auf Okinawa nur als »Hand« (te), das chinesische Kempō wurde hingegen tō-de genannt, also »tang-chinesische Hand«. Die lokalen Stile hießen entsprechend Shuri-, Naha- und Tomari-Stil bzw. Shuri-te, Naha-te und Tomari-te. Shuri-te ist die älteste dieser Stilrichtungen. Die aus Shuri stammende Kampfkunst ist die ursprüngliche okinawanische Technik des Kampfes mit der bloßen Hand, ein System von Kampftechniken, das sich, beeinflußt vom chinesischen Kempō, eigenständig entwickelt hat. Unter den alten Karatelehrern auf Okinawa war der stolze Spruch verbreitet: »Die einzig wahre Hand (te) ist das Shuri-te.«34 Der jüngste Stil ist das Naha-te. In diesem Stil sind die Formen des chinesischen Kempō am deutlichsten erhalten. Tomari-te liegt sowohl geographisch als auch technisch dazwischen.
Foto 1: Itosu Ankō (1831-1915), in der zweiten Reihe der zweite von links (mit weißem Schnurrbart). Dieses erst 2006 im Archiv von Kinjo Hiroshi (geb. 1919, 9. Dan, Präsident der Internationalen Ryūkyū Karatejutsu Forschungsgesellschaft) entdeckte Foto ist das erste bekannt gewordene Foto von Meister Itosu. Es entstand 1909 oder 1910, als Itosu Ankō seinen Unterricht an der Mittelschule der Präfektur Okinawa in Shuri aufgenommen hatte. Auf dem Gruppenbild sind außerdem der Schulleiter und weitere Lehrer sowie Kendō- und Jūdō-Studenten zu sehen.
Mein Vater erhielt im Alter von 13 Jahren durch Vermittlung eines Bekannten die Erlaubnis, in eine der großen Kampfkunstschulen einzutreten. Der Leiter dieser Schule war Itosu Ankō. Aus dem Kreis der Schüler von Meister Itosu stammen viele der bekannten Persönlichkeiten, die zur Herausbildung des modernen Karate beigetragen haben. Von Itosu wird berichtet, er habe entsprechend seiner allmorgendlichen Tagesplanung jeden Tag mehrere hundert Mal gegen um Holzpflöcke gewickelte feste Strohbündel (makiwara), die man auch als Bogenziele verwendet, eingeschlagen. Seine Fäuste waren so abgehärtet, daß sie schwarzen Steinen geglichen haben sollen. Meister Itosu soll einen sehr muskulösen Körper gehabt haben. Darüber gibt es verschiedene Anekdoten. Schlug man beispielsweise mit einem Rundholz gegen seine dicken Oberarme, dann prallte der Knüttel zurück, ohne daß Itosus Arme auch nur zuckten. Ein dickes Bambusrohr konnte er ohne Mühe mit einer Hand zerquetschen, und er war so stark, daß er sich an den Deckenbalken durch den Raum hangeln konnte.
Foto 2: Mabuni Kenwa (1889-1952).
Zu jener Zeit war Karate noch nicht so verbreitet wie heute, und die Trainingsräume (dōjō) waren meist recht einfach. Häufig wurde der eigene Garten zum dōjō, und es war üblich, im Freien zu trainieren. Als Kind sah ich meinem Vater oft beim Training zu. Im Garten, unter dem Licht einer nackten Glühbirne, schlug er mit freiem Oberkörper auf ein makiwara ein. Seine Muskeln stählte er mit Hilfe von Steingewichten.
Meister Itosus dōjō stand nicht jedem offen. Nur ein ausgewählter Kreis von Schülern wurde von ihm unterrichtet. Als mein Vater 19 war, erhielt er von Meister Itosu die Erlaubnis, auch bei Higaonna Kanryō (1853-1916), einem Meister des Naha-te, Unterricht zu nehmen. Dieser war als junger Mann in der chinesischen Provinz Fukien gewesen und hatte das dortige Kempō studiert. Nach seiner Heimkehr entwickelte er auf dieser Grundlage den Naha-Stil. Miyagi Chōjun, der spätere Begründer des Gōjū ryū, führte meinen Vater bei Higaonna Kanryō ein. Beide wurden Meisterschüler von Higaonna. Man nannte sie »Drachen und Tiger«, und beide sollte eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Außer dem Shuri-te und dem Naha-te studierte mein Vater auch den Tomari-te und andere Techniken des alten Ryūkyū-Budō. Von Meister Aragaki Seichō (1840-1920) lernte er Techniken mit dem bō, von Tawada Shinkatsu (1851-1920) Messertechniken und von Meister Soeishi Yoshiyuki spezielle Stocktechniken.
Foto 3: Higaonna (Higashionna) Kanryō (1853-1916). Er war der bedeutendste Vertreter des Naha-te.
Foto 4:Miyagi Chōjun (1888-1953). Schüler und Nachfolger Higaonnas, Gründer des Gōjū ryū.
Die Kata des Shuri-te
Karate ist eine Selbstverteidigungstechnik, die auf Okinawa seit dem 17. Jahrhundert, dem Anfang der Tokugawa-Ära, entwickelt und geheim überliefert wurde. Es diente dazu, sich mit bloßen Händen gegen mit Schwertern bewaffnete Gegner behaupten zu können. Das war, wie bereits erläutert wurde, vor allem während der Herrschaft der Satsuma-Fürsten wichtig, die den Okinawanern den Besitz von Waffen verboten hatten und jeden Widerstand unterdrückten. Die einzigen Waffen, die im Ryūkyū-Budō verwendet wurden, waren Ackergeräte.
Anders als bei den Schwerttechniken und beim Jūjutsu, welche von der Regierung in Edo und den Fürsten gefördert wurden, gab es zum Karate keine schriftliche Überlieferung. Die Meister des Karate formten die Techniken und Ideen, die auf ihren in gefährlichen Situationen erworbenen Erfahrungen beruhten, zu Kata, d. h., zu bestimmten Bewegungsabläufen, die sich allerdings von den Bewegungsmodellen anderer Kampfkünste unterschieden. Sie ähnelten den »Fausttanz« (genkotsu odori) genannten okinawanischen Tänzen. Während man sich den Gegner im Geiste vorstellte, führte man Schläge, Blöcke und Tritte als Abfolge von Angriffs- und Abwehrbewegungen aus. Das diente wahrscheinlich auch dazu, gegenüber den Behörden den wahren Charakter der Übungen zu verschleiern. Diese Kata sind die einzige Überlieferung des okinawanischen Karate. Indem der Schüler die Kata übt, eignet er sich Techniken und Geist des Karate an. Deshalb bedeutete früher die Aussage, daß jemand die »Hand«, te, erlernte, nichts anderes, als daß er die Kata übte. Die Kata wurden von den Lehrern entsprechend ihren eigenen Erfahrungen und ihren persönlichen Eigenheiten und Auffassungen arrangiert. Die Ishimine no Passai beispielsweise ist besonders für den Kampf mit kleinen Personen geeignet. Also kann man vermuten, daß Meister Ishimine selbst nicht klein war. Allein von der Kata Passai gibt es fünf Varianten, benannt nach Itosu, Matsumura, Matsumora, Tomari und Ishimine.
Im Gegensatz zu den großen Meistern Itosu und Higaonna vermittelten die meisten anderen Lehrer ihren Schülern oft nur eine einzige Kata. Unter den heute üblichen Kata des Itosu-Stils sind viele nach den Lehrmeistern oder den Herkunftsorten benannt, so z. B. die Kata Chatan Yara no Kōsōkun, Tomari no Passai, Matsumura no Passai oder Ishimine no Passai. Tomari ist ein Ortsname,35 Matsumura und Ishimine waren Lehrer. Chatan Yara no Kōsōkun bedeutet die Kata Kōsōkun (Kushanku), welche von Meister Yara aus dem Dorf Chatan stammt. Diese neuerdings auch in Wettkämpfen gern vorgetragene Kata ist im übrigen die repräsentative Kata des Shuri-te. In der von Yara überlieferten Form ist allerdings auch eine für das Naha-te sehr typische Technik, ein kreisförmiger Block (mawashi uke), enthalten. Als Wettkampfkata wurde sie jedoch erheblich umgestaltet. Die authentischen Kata des Shuri-te sind die Kata in der Form, wie Meister Itosu sie überliefert hat.
Die Jigen-Schwerttechnik und das Shuri-te
In jüngster Zeit gibt es Forschungen, die den Grundtypus der Karate-Kata in den Tao des chinesischen Kempō suchen. Sicher ist es möglich, hier Spuren zu finden, aber das Karate ist sowohl geistig als auch technisch etwas grundsätzlich anderes als das chinesische Kempō. Dies soll auf den folgenden Seiten erläutert werden.
Wie bereits erwähnt, entstammen die okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand im wesentlichen zwei Hauptströmungen, dem Shuri-te und dem Naha-te. Das Shuri-te wurde als Geheimlehre innerhalb des Adels von Shuri weitergegeben und schließlich durch Matsumura Sōkon (1800-1896), dem unvergleichlichen Meister der Faust, vervollkommnet. Sein Lehrer war Sakugawa Shungo (1733-1815). Dieser war in Shuri als großer Könner auf dem Gebiet der Kampfkünste bekannt. Er hatte das chinesische Kempō, das Tōde, in China studiert und dem Adel in Shuri vermittelt. Deshalb nannte man ihn auch Tōde-Sakugawa. Er hatte sich den nördlichen Stil aus Peking angeeignet, der für manche auch als Urtyp des Shuri-te gilt. Matsumura wurde im Alter von 20 Jahren auf Befehl des Ryūkyū-Hofes nach Satsuma geschickt. Hier studierte er die Jigen-Schwerttechnik und erlangte darin den höchsten Meistergrad, den man als unyō (»Flammenwolke«) bezeichnete. Mit 27 Jahren kehrte er auf Okinawa zurück, aber schon bald hatte er Gelegenheit, Meister Sakugawa auf einer Reise mit dem Tributschiff nach China zu begleiten. So konnte er in Peking das nordchinesische Kempō studieren.
Im Jigen ryū gibt es keine obere, mittlere und untere Schwertposition. Es gibt nur eine einzige, hassō genannte Stellung. Die Arme werden dabei hochgehoben, als wolle man in den Himmel stechen. Dann schnellt man mit einem bis ins Mark gehenden kiai36 einen Schritt nach vorn oder man geht nach unten und läßt das tachi-Schwert heruntersausen.
Die Philosophie der Jigen-Schwerttechnik besteht darin, immer das kommende Geschehen zu beherrschen und die innere Einstellung anzustreben, stets mit dem ersten Schlag zu siegen. Kondō Isamu von der shinsen gumi37 erinnerte sich, daß man nichts mehr fürchtete als diese Technik und daß die Soldaten immer wieder ermahnt wurden, jenem ersten Hieb der Satsuma-Leute auszuweichen. Im Feldzug zum Sturz der Tokugawa-Regierung im Jahre 1868, aber auch während der Samurai-Rebellion von 1877 verschafften sich die Satsuma-Samurai mit diesem gefürchteten ersten Schwerthieb wirkungsvoll Respekt. Die Leichen ihrer Gegner waren für gewöhnlich mit einem »Schärpenhieb« von der Schulter bis zum Bauchnabel durchtrennt. Bei einigen war sogar das Stichblatt des eigenen Schwertes in die Mitte der Stirn gedrückt. Sie hatten ihr Schwert zur Abwehr gehoben, aber die Wucht und die Schnelligkeit des niedersausenden Satsuma-Schwertes weit unterschätzt, so daß das abwehrende Schwert in den eigenen Schädel geschlagen wurde.
Die Jigen-Schwerttechnik zielte auf eine besonders hohe Geschwindigkeit des Schwerteinschlags beim Gegner ab. Über die höchste Vollendung dieser Technik, die »Flammenwolke«, hieß es im »Handbuch über die soldatischen Techniken des Jigen ryū« wie folgt: »Ein Achtel einer Minute ist ein byō. Ein Zehntel von einem byō ist ein shi. Ein Zehntel von einem shi ist ein kotsu. Ein Zehntel von einem kotsu ist ein kō. Ein Zehntel von einem kō ist ein rin. Wenn man bis zu einem rin gekommen ist, dann hat man die Flammenwolke (unyō) erreicht.«
Von den Meistern des Jigen-Stils hieß es, sie hätten einen Regenwasserschwall, der vom Dach strömt, dreimal durchtrennt, bevor er auf der Erde auftraf. Um die Konzentration zu trainieren, die ein solcher Hochgeschwindigkeits-Schlag erforderte, gab es im Jigen-Stil eine spezielle Trainingsmethode, die man »einen stehenden Baum schlagen« (tachi ki uchi) nannte. Partnerübungen wie in anderen Schulen gab es nicht. Man schnitt einfach ein yusu genanntes Holz auf die richtige Länge, ergriff es wie ein Schwert und schlug dann mit einem lauten kiai diagonal von links nach rechts auf einen großen Holzklotz ein. Angeregt durch diese Methode, dachte sich Meister Matsumura die im traditionellen Karate übliche Trainingsmethode des Einschlagens auf mit Stroh umwickeltes Holz (makiwara zuki) aus, wie sie dann beispielsweise durch seinen Schüler Itosu Ankō praktiziert wurde.38
Von Meister Nakayama Hiromichi (1869-1958), den man auch den »Musashi (Musashi Bō Benkei oder nur Benkei) der Shōwa-Zeit« oder den »letzten Heiligen des Schwertes« nannte, stammen die folgenden Worte: »Karate macht die bloße Hand zum Schwert. Und das ist mehr als nur eine Metapher. Die Karate-Faust ist ein Schwert.«
In historischen Dramen sieht man die Kämpfer meist munter aufeinander einschlagen. Japaner nennen dies chanbara.39 Aber ein solcher Schlagabtausch ist nur möglich, wenn, wie beim Kendō, zwei mit Kopf- und Körperschutz bekleidete Trainingspartner, immer auf die richtige Distanz achtend, die Schläge aufeinander einprasseln lassen. Im Kampf mit dem wirklichen Schwert entscheidet der Moment des Schwertziehens über Sieg oder Niederlage, und der erste Schlag entscheidet über Leben oder Tod. Einen zweiten gibt es nicht. Auch wenn der erste Schlag nicht mit der Wucht der Jigen-Technik geführt wird, ist er tödlich.
Die Tatsache, daß Meister Matsumura die Jigen-Schwerttechnik, den »Hausstil« der Samurai aus Satsuma, perfekt beherrschte, sollte einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des Shuri-te ausüben. Jene Samurai, die Okinawa seit 1609 besetzt hielten, waren es schließlich, die jedem, der auf Okinawa die Kampfkunst mit bloßer Hand lernte, beim Training als Gegner »vorschwebten«. Ohne Zweifel war es Matsumura Sōkon, der Vollender des Shuri-te, der Karate nach dem Grundsatz gestaltete, den Gegner mit dem ersten Schlag oder Tritt zu töten.
Das Shuri-te hat diese Idee des »tödlichen ersten Schlags« uneingeschränkt übernommen. Im chinesischen Kempō dagegen gibt es diese Idee nicht. Hier gilt die Regel »Hände und Beine suchen« (tanshu tantai). Der Kampf beginnt damit, daß die Gegner sich gegenseitig auf ihre technischen Fähigkeiten hin »abtasten«, einander studieren. Man beginnt mit hohen kamae (Haltungen), verringert schrittweise die Distanz und geht über zu niedrigen kamae, und nach einem Schlagabtausch zieht man sich wieder zurück. Dann nähert man sich einander wieder, und es kommt zu einem erneuten Schlagabtausch. So entwickelt sich ein relativ spektakulärer oder theatralischer Kampf. Das ist aber nur deshalb möglich, weil hier die bloße Hand nicht zum Schwert geworden ist.
Karate hingegen ist eine Kampfkunst, die entwickelt wurde, um sich gegen einen Gegner zu verteidigen, von dem man annehmen mußte, daß er, im Jigen-Stil geschult, den ersten Schlag wie eine »Flammenwolke« ausführen konnte. Also wurde es zur lebensentscheidenden Frage, den ersten Schwerthieb des Gegners richtig zu beurteilen und mit der eigenen Faust tödlich treffen zu können. Aus diesen Gründen ist es gerechtfertigt zu sagen, daß die Meister Matsumura und Itosu das Shuri-te unter dem Einfluß der japanischen Schwertkunst, vor allem der Jigen-Schwerttechnik, zur Vollendung gebracht haben.