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Juryk Barelhaven
Die Begabten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Das hässliche Entlein
Ork und Elb
Die Frau mit dem Dutt
Hexentanz
Echter Fortschritt
Schöne, grässliche Stadt
Süße Verlockungen
Die Wende
Herr des Nichts
Alle losen Enden
Impressum neobooks
Das hässliche Entlein
STEPHAN LASSER
Windelsbleicher Straße 253
33659 Bielefeld
015161712386
Lasser74@web.de
Für die einzige Hexe in Mooswald mangelte es nie an Verbänden, die gewechselt werden mussten, oder werdenden Müttern die einen Rat benötigten. Hexen leisteten Geburtshilfe, und wenn die Hexe mit ihrem spitzen Hut und ihrem Korb eintraf, kamen plötzlich rein zufällig andere Leute zu Besuch und bestaunten aus sicherer Entfernung die Arbeit der Frau. Jeder gab, soviel er konnte: ein frisch gebackenes Laib Brot, ein Gurkenglas, ein selbstgestrickter Schal vielleicht… das war die Währung, die Hexen bevorzugte. Nur drei Frauen in der Stadt waren so arm, dass sie wirklich nichts geben konnten, aber das hinderten Hexen nicht zu helfen. Hexen nahmen ihren Beruf sehr ernst.
An den meisten Tagen standen Besuche bei den Alten im Dorf an, dort wo die ausgemergelten Körper nach alten Kartoffeln rochen, die Haut papierdünn und gelblich war und die Kraft eines jungen Menschen wie seltener Wein hochgeschätzt wurde. Bei den Alten fühlte sich die Hexe wohl: beim Waschen, Essenreichen und Rasieren tauschte man Tratsch aus und erfuhr so alles Wissenswerte.
Von der Seite kam ein junges Mädchen daher, passte sie ab und erkundigte sich, warum Hexen Alten und Bedürftigen die Haare schneiden und eine warme Mahlzeit gaben.
„Wir tun, was getan werden muss. Wer sollte es sonst tun?“
„Könntest du ihnen nicht mit Magie helfen?“, fragte das dürre Mädchen.
„Ich benutze Kräuter aus dem Wald. Es ist Magie, wenn man über Dinge Bescheid weiß, die andere Menschen nicht kennen“, sagte die Hexe und schickte sich an, weiterzugehen.
„Der alte Schuster kann nicht mehr ohne seinen Stock gehen und hat drei Söhne. Sie könnten sich kümmern. Ist das fair?“
Die alte Weise hatte kurz innegehalten und sich das Mädchen genauer angeschaut: eine viel zu lange Nase und den Anzeichen eines Buckels, der später gewiss gewaltig werden dürfte, schätzte die Hexe. Dann strähnige, pechschwarze Haare, die schief über das rechte Gesicht hingen als könnte sie problemlos mit nur einem Auge schauen. Schmale Schultern, zerschlissenes Kleid und rote Striemen auf den Handrücken. „Du bist die Tochter des Wirts, oder? Du bist Sonia“, schlussfolgerte sie und versuchte nicht zu sehr auf die Striemen zu starren. „Ich habe den „Grauen Frosch“ nie gemocht. Zuwenig Fleisch in der Suppe. Das Bier ist schal.“ Eine freundliche Untertreibung. Jedermann kannte die Taverne am Stadtrand vom Mooswald. Nicht nur das Bier war dort schlecht. „Er ist dein Onkel, oder? Soll ich mal mit ihm reden?“
Das Mädchen verkrampfte sich sofort und schüttelte den Kopf. „Nein, das kommt vom Spielen.“ Sie mied den Blick.
„Ja, ich hatte heute auch einen Holzfäller bei mir, der sich beim Spielen im Wald verletzt hatte“, bemerkte sie lakonisch.
„Das ist nicht nötig, es war meine Schuld, das geht schon, keine Sorge…“
„Wenn du meinst.“ Die Hexe spürte wie ihre Laune sich verfinsterte. Das arme Ding hatte etwas Besseres verdient. „Sag, kannst du nicht woanders leben?“
Sofort leuchteten die Augen auf: „Ich… ich hatte gehofft, verehrte Madame, ich könnte als Hexe…“ Sie sprach nicht weiter und errötete leicht. „Ich kann gut aufräumen. Ach, lesen kann ich auch. Und Rechnen.“ In ihren Sätzen schwang so viel Hoffnung mit, dass es der Frau leidtat, dieser Bitte nicht zu entsprechen.
„Ich selbst bilde nicht aus, Kind.“ Sie kniete sich hin, missachtete den kurzen Stich in ihrer Hüfte und versuchte mitfühlend zu klingen. „Zum Herbst im Monat des Dachses könntest du die Oberhexe im Buckelwald um einen Platz bitten. Das verstehst du doch, oder?“
Hoch im nördlichen Osten lag das einzige Dorf der Hexen; eines der ersten unabhängigen Völker, das dem Menschenreich beigetreten war. Tatsächlich war die Kultur der Hexen aber viel älter. Weit entfernt von neugierigen Augen und gierigen Händen lehrten die weisesten Hexen die jungen Frauen in den Künsten der Kräuterkunde und der Pflege von Alten und Schwachen. Wohl dem, der sich ihrer Gunst erfreut und hier lernen durfte! In einer hierarchischen Gesellschaftsordnung, die auf der mit Studien verbrachten Zeit und dem persönlichen Fortschritt auf dem Weg zur ultimativen Meisterschaft begründet war.
Die kleinen Schultern sackten noch mehr in sich zusammen. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, was das für die Kleine bedeutete. Ein Jahr für sie war kein Jahr wie für Erwachsene – es war ein ganzer Sommer und ein ganzer Winter als Kind in der Taverne ihres Onkels. Schlimme Kunde brachten Tränen.
Die Alte nahm sie sanft in den Arm und wünschte sich, sie könne helfen. Ausnahmen wurden selten erteilt und auch nicht gerne von den Hexen gesehen. Wo sollte sie schlafen? Wer wollte schon sein Essen mit ihr teilen? Hexen waren nicht knauserig, aber reich waren sie auch nicht. Eine ungerechte Welt war das. Sie nahm eins ihrer bunten Taschentücher und wischte damit über ihre Augen. „Na, so ein nettes kleines Mädchen muss doch tapfer bleiben, oder?“ Nett gemeinte Worte, die nicht viel halfen. „Ich könnte einen Boten zur Oberhexe schicken und sie um Rat fragen. Du hast mein Wort.“
Sonia wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und trat einen Schritt zurück. Lächelte traurig und nickte. Enttäuschung schien sie gewohnt. Dann drehte sie sich um und trottete davon. „Danke“, hauchte sie leise und schniefte dabei, dass es einem das Herz erweichen konnte. Hinkend schlurfte das kleine Elend von dannen und war bald verschwunden, während die Hexe ihr mit bitteren Gedanken nachsah.
Sobald war sie ihrer Arbeit nachgegangen. Als junge Hexe, so erinnerte sie sich, hatte sie anfangs davon geträumt mit Zauberstab und reichlich Magie jeden Tag Wunder zu wirken, und hatte schnell einsehen müssen, dass die Tätigkeit von Hexen große Ähnlichkeit mit harter Arbeit hatte. Sie benutzte immer seltener ihren Besen und hatte nach einer langen Einarbeitungszeit festgestellt, dass auch ohne Magie ihre Speisekammer gut gefüllt war und die Leute zufrieden waren.
Nach ihrem Besuch bei den Alten schaute sie kurz beim Blechschmied vorbei, dessen Baby an einem Hautausschlag litt und gab der Mutter einen Topf mit Salbe. Dann zum Besenbinder, dessen Frau ihr elftes Kind geboren hatte und danach zum Dorfschulzen, der über schlechte Zähne jammerte. Es gab immer viel zu tun, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Arbeit niemals endete. Schließlich machte sie am späten Nachmittag Rast unter einer Ulme und aß eine Kleinigkeit. So ging es mit ihrem Tagesablauf weiter, bis es Abend war. Als sie zuhause auf dem Buckelhügel war, hatte sie das kleine Mädchen bereits vergessen.
Sonia mühte sich mit einem Eimer voller Kohlenstücke über den Weg zurück nach Hause. Gerne hätte sie mit den anderen Kindern in Mooswald gespielt, doch Kinder können grausam sein: wegen ihrer Verwandtschaft, ihrem bemitleidenswerten Aussehen und etlichen anderen Gründen wollte keins der Kinder mit ihr spielen. Also beließ sie es bei einfachen Tagträumen und nutzte die Zeit, um in ihrer Fantasie alles zu tun, was man eben tun konnte. Leider reichte die Zeit kaum aus, und ihr zuhause war kein Ort für Familien.
Die Taverne „Grauer Frosch“ lag an einer Kurve der aufgeweichten Straße zu Mooswald, an einem Berghang gedrückt und zum Buchenwald hin offen. Es war ein ausgedehntes, baufälliges Gebäude, über dessen Hof zwei Brüstungen verliefen. Das strohgedeckte Dach hing schimmelnd und faulig durch. Rohes Gebrüll und Gelächter drangen aus der Gaststube im ersten Stock. Tische fielen krachend um. Fiedeln und Dudelsäcke gaben eine schiefe Melodie von sich. Unten im Stall stampften die angebundenen Maulesel und Pferde und zitterten in der Kälte.
Sonia überlief auch ein Zittern. Das war ein Nest voller Halsabschneider und Räubergesindel, kein Ort für tugendhafte Menschen – schon gar nicht für Kinder. Aber sie benötigte ein Dach unter dem Kopf und Nahrung. Ihr Onkel und ihre Tante trugen die Verantwortung für sie.
Sonia nahm einen tiefen Atemzug und stapfte mit dem schweren Kohleneimer auf das Gasthaus zu. Sie ging durch den Schlamm im Hof, die Treppe hinauf in die große Gaststube hinein. Drinnen war es heiß, laut und unglaublich stickig. Kerzenstummel flackerten in rohen Haltern. Schwankende Flegel und Trunkenbolde stießen klirrend mit ihren Krügen an, maßen sich im Armdrücken und tanzten auf den Tischen. Bewaffnete Männer und Frauen, die misstrauisch nach allen Seiten schauend ihr grobes Brot kauten und aus irdenen Bechern Bier tranken. Sonia drückte sich an die Wand, hielt sich in den Schatten und steuert auf die Küche zu. Sie versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu bewegen, aber sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein betrunkener Halsabschneider erspähte.
„Was ist denn das? Ein Troll, bei den Göttern! Ein Wicht!“
Ein anderer stieß ein rohes Gelächter aus und trommelte mit der Gabel auf den Tisch. „Gerade im richtigen Augenblick! Wir brauchen Fleisch!“
„Spießt sie auf!“, brüllte ein anderer und warf mit dem Dolch auf Sonia. „Schmeißt sie auf die Kohlen!“
Sonia duckte sich und huschte zwischen den Beinen und unter den Tischen und Stühlen hindurch. Die drei ließen sie unter Gelächter laufen und stürzten ihr Bier hinunter. Sie spürte, wie sie wieder anfing zu weinen und versuchte ihr eigenes pochendes Herz zu beruhigen. Ein Stiefel traf sie und sie landete in einer Ecke. Der Eimer mit den Kohlen fiel um.
„Steh auf!“, drang die Stimme ihres Onkels in ihr Ohr. „Du bist spät. Feg die Kohlen auf, und ab in die Küche!“
Llug wog seine wuchtigen Schultern und strafte sie mit Missachtung. Schwarzes Haar hing ihm über Augen und Ohren. Ein dichter Bart streifte seine Schürze, die vor Fett und Schmutz stand. Er knurrte noch einmal und stapfte wieder zurück an den Tresen, um weiter Bier auszuschenken.
Sonia hielt sich die schmerzende Stelle und tat, wie ihr geheißen wurde. Als sie fertig war, schob sie den Kohleneimer neben dem Kamin, in dem ein prasselndes Feuer brannte und knackte. Sie genoss einen Moment die Hitze auf ihrer Haut, spürte ihre Tränen trocknen und lächelte langsam, als sich etwas Weiches und Flauschiges an ihrem Bein reibte.
Bei der Katze handelte es sich um einen Straßenkater, einen geschmeidigen Veteranen zahlreicher Raufereien und Revierkämpfe. Ihm fehlten ein Ohr, ein Auge, der Schwanz und zwei Krallen der rechten Vorderpfote. Er starrte Sonia mit dem gesunden Auge an und schnurrte leicht, als das Mädchen ihn sanft zu kraulen anfing.
„Du solltest gehen“, hauchte sie leise zu ihm. „Du bist frei – nicht so wie ich.“ Das war die Wahrheit, und der Kater schien zu verstehen. Er blickte sie aufmerksam an, drehte sich plötzlich um und verschwand in der Menge. Als jemand die Tür kurz aufmachte, bemerkte sie einen gelben Fleck. Der Kater hatte richtig entschieden und wusste, was gut für ihn war.
Wehmütig blickte sie ihm nach und erinnerte sich sogleich an ihre Pflichten. Sonia schob sich in den Lärm und Trubel an den Leuten vorbei und begab sich in den hinteren Teil der Taverne. Im Kerzenlicht der Wirtsstube erkannte sie Männer- und Frauenkleider, die an den Haken an der Wand hingen. Neben einem alten Bett mit einer noch älteren, fleckigen Matratze aus Stroh kleideten sich zwei Gestalten in aller Eile an.
„Da steht ein Kind. Kaum größer als ein Floh!“, rief eine von ihnen und deutete auf Sonia. Die Stimme klang merkwürdig rau.
„Mach dir ihretwegen keine Sorgen“, sagte die andere Person. „Beeil dich lieber. Llug kommt gleich. Wenn Sonia weiß, was gut für sie ist, hält sie ihre kleine Schnauze.“ Die Frau schlüpfte hastig in Rock und Bluse, und versuchte gleichzeitig ihr verstrubbeltes Haar zu glätten. Olg war eine hochgewachsene Frau mit üppigen Brüsten und war vor langen Jahren einmal schön gewesen. Sie war Serviererin und Köchin in einer Person und nichts davon konnte sie gut. Blonde, hochtoupierte Haare, verschmierter Lippenstift und dunkle Augenringe – ganz zu schweigen von ihrem verlebten Körper. Zuviel Makeup, höchstens Eins sechzig groß und zwanzig Pfund Übergewicht. Dass das meiste davon vorne war, war der Grund, warum viele Männer auf sie standen. Einst hatte sie recht nett ausgesehen. Sie hatte in ihrem Dorf immer Verabredungen mit Jungen. Doch niemand hatte sie für besonders schlau gehalten. Da sie nicht mit genügend Grips gesegnet war, um die beständigen Niederschläge trivialer alltäglicher Enttäuschungen zu begreifen, war ihre natürliche Heiterkeit von einer bitteren Erkenntnis zerfressen worden, dass das Leben nicht besser werden würde, als es immer gewesen war – d.h. ziemlich enttäuschend. Über die Jahre hatte sie sich mit Männern eingelassen, die ihr schnelles Geld und Glück auf Erden versprochen hatten. Das Resultat ging einher mit ihrer aufkommenden Reizbarkeit, dem Dahinschmelzen ihres angenehmen Äußeren und dem Weichen des fröhlichen Lächelns zu einem Mund, der nun hart und brutal wirkte.
Der Mann neben ihr schnaufte und grapschte nach ihren Brüsten. Er grinste schief und Geifer lief ihm über das Gesicht. „Dein Mann ist ein Narr. Er glaubt, er gehört zu uns aber unser Hauptmann braucht nur die Taverne.“
„Ich gehöre zu euch, oder“, gurrte Olg und schenkte ihm einen Kuss.
„Wird sich zeigen“, mahnte der Mann und schenkte Sonia keine Beachtung, als er an ihr vorüberstapfte. Stolz wie ein Gockel, der seinem Tagwerk nachging.
Olg wandte sich nun Sonia zu. „So, hast dir aber ganz schön Zeit gelassen. Warst wieder träumen, wie? Oh, du kannst wirklich dankbar sein, dass wir dich aufgenommen haben.“
„Ich habe Kohlen mitgebracht.“
„Natürlich. Ich hatte es ja befohlen.“ Olg wankte noch leicht benebelt vom Liebesakt an ihr vorbei und verströmte dabei den Gestank der Paarung. „So, jetzt geh in die Küche und spül das Geschirr. Die Humpen spülen sich nicht von selbst.“
So verlief Sonias Tagwerk. Sie kletterte in der Küche auf einen Schemmel, schüttete Wasser aus einem Trog, der ihr viel zu schwer war, und wusch mit routinierter Bewegung das Geschirr, das kein Ende nehmen wollte. Humpen um Humpen, Löffel an denen noch Essenreste hingen, Teller die zum Teil zerbrochen waren und an denen man sich leicht schneiden konnte. Einmal, zum Abend hin, glitschte ihr ein Teller aus der Hand und zerschellte auf dem plattgetretenen Boden. Sie fuhr erschrocken auf und versuchte schnell das Missgeschick zu beseitigen.
Die Tür flog auf. Llug kam hereingestürmt und schob sein Kinn nach vorne. Seine geröteten Augen starrten Sonia an, als hätte sie einen unflätigen Spruch auf eine Tempelwand geschmiert. „Was zum Teufel geht hier vor!“ tobte der Wirt.
„Ich… war unachtsam“, flüsterte sie leise und duckte sich aus Reflex.
„Kann man wohl sagen, hässliche Kröte“, erwiderte ihr Onkel und war mit drei weiten Schritten bei ihr. Grob packte er sie am Arm und holte weit aus – als er plötzlich innehielt und nach vorne zum Eingang starrte.
Sonia hatte aus Angst aufgeschrien, die Tracht Prügel fürchtend, als sie eine Veränderung bemerkte und zu Llug schaute. Der Wirt blickte angestrengt nach vorne und ließ langsam von ihr ab. Etwas in seinem Gesicht wirkte hochkonzentriert, als müsse er komplizierte Gedankenspiele lösen. Dabei ließ er sie los und rauschte schnell an ihr vorbei nach vorne.
Sonia verstand nicht und vergaß das Malheur mit dem Teller, kletterte vom Schemmel und folgte ihm. Ihr Herz pochte noch vor Furcht, aber auf das was sie jetzt sah, war sie nicht vorbereitet.
Gäste waren angekommen.
Finster und groß standen zwei Soldaten mit verhärmten Gesichtern an dem Eingang und der Geruch von Schweiß und nassem Pferd wehte mit herein. Sie trugen Rüstungen aus rohem Leder, und das unverkennbare Zeichen von Mord und Krieg: geronnenes Blut an den Stiefeln und tiefe Scharten in der Rüstung. An der Seite baumelten lange Schwerter in rostige Scheiden, die rechte Hand ruhte locker auf dem Knauf. Doch das Schlimmste waren die Augen: tiefes Schwarz, stechend der Blick als wäre der Richter Ragnarök angekommen, um sein Urteil zu sprechen. Es waren raue, brutale Gesichter die anscheinend nie Freude empfunden hatten. Von den vielen Narben ganz zu schweigen. Sie waren nur zu zweit, aber jedem musste klar geworden sein, dass diese Männer den gedungenen Schurken bei Weitem überlegen waren.
Über dem Gasthaus hatte sich Schweigen gesenkt. Kein betrunkenes Geschrei und Gelächter mehr, kein lärmender Tumult. Nur schwere Stiefelschritte und die klare, harte Stimme einer der Fremden. „Stroh und Wasser für die Pferde. Ein Nachtlager und Wein, wenn ihr habt.“
Olg schob einen verdutzt dreinschauenden Llug zur Seite und riss weit die Augen auf. „Was wollt ihr hier?“ Sie presste den Handrücken an den Mund. „Wir sind ehrliche Leute!“
Normalerweise hätten die Schurken siegessicher dabei gelacht, sie kannten ihre eigene Schlechtigkeit besser als jeder Richter. Es lachte niemand. Die meisten starrten zu Boden und wirkten wie verändert. Sonia kletterte neugierig auf einen Stuhl neben dem Tresen, um etwas zu sehen. Was war da los?
Nach den Soldaten trat ein fürstlich gekleideter Mann ein. Er war ein sehr alter Mann – wahrscheinlich der älteste Mann, den Sonia je gesehen hatte – mit dichtem, weißem Haar, das ihm vorn ins Gesicht hing und Bartstoppeln, die nur an einigen Stellen aus seinem Gesicht ragten, sodass es aussah wie ein Flickenteppich. Ein feiner, mit Goldfäden durchwirkter Nerzmantel und die reichverzierten Ringe an seinen Fingern zeugten von Reichtum – von der prall gefüllten Geldbörse an seinem Gürtel ganz zu schweigen.
Llug trat vor und maß dem Fremden mit offensichtlicher Verachtung. Seine Rede war kühl und leidenschaftslos. „Wir haben nichts für Bittsteller. Nur zahlende Münzen. Keine Almosen.“
Der reiche Kaufmann maß ihn mit einem Blick, der aus den eisigen Flächen im Norden zu stammen schien. „Seh ich aus, als würde ich knausern“, hauchte er leise und seine Hand fischte einige Münzen aus seiner Manteltasche. „Gutes Essen und Bier für meine Wachen und für mich.“
Llug legte den Kopf schief. Langsam schien er zu verstehen, das zahlende Kundschaft gekommen war.
Stille.
Einer der Soldaten kam zwei Schritte nach vorne und maß Llug mit unverhohlener Abscheu, als wisse er um die Schlechtigkeit des gemeinen Banditen. „Gib mir ein Zimmer oder gib mir einen Grund“, grollte er tief und niemand bestritt, dass er es ernst meinte.
Die Tür hinter ihm knarrte leise in der Stille, als der Wind Anstalten machte sie ins Schloss fallen zu lassen. Einer nach dem anderen nahmen die Gelegenheit wahr und schlich wie ein geschlagener Hund nach draußen – in Sicherheit. Erst zwei, dann vier… dann versuchte jeder an den Fremden vorbeizukommen und alle wurden Erster.
Drei Banditen drängten Llug, der nicht aufhören konnte, den Fremden mit Blicken zu verschlingen, nach hinten. Zu viert verschwanden sie in der Wirtsstube und Sonia blickte hinterher. Einem drängenden Gefühl nach wandte sie sich um und eilte ihnen nach.
Der Hauptmann der Gauner, ein glatzköpfiger Mann mit Stiernacken und reichlich Narben nahm Llug ins Gespräch: „Das ist ein bekannter Kaufmann. Sehr vermögend, aber mit allen Wassern gewaschen. Rauh und zäh wie Katzenleder, sag ich. Gib ihm ein Zimmer“, raunte er und tippte mit seinem Finger auf Llugs Brust. „Gib ihm Mahl und Trank. Betäube seine Wache mit Rotfarnkraut.“
„Mit Rotfarnkraut?“ Llug hatte Mühe zu verstehen.
„Mit Rotfarnkraut. Es wächst im Wald, du Idiot. Sobald sie schlafen, gibst du uns ein Zeichen. Wir werden sie im Schlaf erdolchen. Saubere Messerarbeit, sage ich. Keine Risiken, sage ich.“
Llug hatte verstanden und grinste böse. Sonia zog erschrocken die Luft ein und wandte sich schnell ab, als einer der Männer in ihre Richtung schaute.
Gemeine Absichten gepaart mit Feigheit. Sonia konnte es nicht fassen, aber eigentlich war sie auch nicht überrascht. Ihr Onkel und ihre Tante buhlten schon lange um die Gunst des Hauptmanns.
Mittlerweile war die Taverne beinahe leer und der Kaufmann nebst Gefolge stand noch immer im Eingang und wartete. Llug stapfte schnell nach vorne und verbeugte sich umständlich. „Gut, wir haben ein Zimmer. Lammkeule, Erbsensuppe und Brot. Wein, so lieblich als wäre er von der Sonne selbst gekeltert.“ Er grinste unterwürfig und führte ihn zum nächsten Tisch. „Wir wollen keinen Ärger.“
Zu dritt bereiteten sie in aller Eile Essen zu, während der Gast wartete. Die Stimmung hatte sich verändert, fand Sonia. Llug hatte Olg kurz beiseite genommen und von dem Plan berichtet – aber auch von der Gefährlichkeit seiner Männer. Jetzt eilten beide schnell und fahrig hin und her, als ginge es um ihr Leben.
Sonia blickte zu Boden und eilte herbei, nur um am Ohr gezogen zu werden. Olg hatte eine Überraschung für sie. „Höre, Nichtsnutz“, grollte sie leise und zog das Kind schmerzhaft hinter sich her bis sie sicher war, nicht belauscht zu werden. „du gehst jetzt in den Wald und holst Rotfarnkraut. Eile dich, sonst setzt es Prügel.“
Sonia setzte kurz das Herz aus.
Den Buchenwald?
Niemand ging nachts raus in den Buchenwald. Sie verstand sofort, was die beiden vorhatten, aber ihr eigenes Schicksal wog in dieser Stunde schwerer.
Llug stapfte herbei und drückte ihr eine Laterne in die Hand. „Du bist noch immer hier? Hol es, ein ganzes Büschel, sage ich. Und wage nicht, ohne davon nach Hause zu kommen!“
„Wa..?“ Sie sah sich bedrängt von den bedrohlichen Verwandten, blickte wirr um sich, als wäre das ein schlechter Scherz. Ein übler Streich, um sie zu bestrafen. Selbst Banditen wussten besseres mit ihrem Leben anzufangen. „Es ist kalt und dunkel.“
„Scherrt mich nicht“, knurrte Llug ungehalten und holte aus, aber diesmal wurde er von Olg zurückgehalten. „Lass sie. Sie muss noch Laufen können.“
Als Sonia mit ihrer Laterne vor dem Buchenwald stand wurden ihr die Knie weich. Der Weg entfernte sich von der Taverne und verlief jetzt durch den dichten Wald. Entwurzelte Bäume und auf dem Weg verstreute Felsbrocken behinderten sie, oftmals musste das Kind darum lange, ermüdende Umwege in Kauf nehmen. Es war ein verhältnismäßig kleiner Wald, für geübte Förster und Waldläufer überschaubar doch wie jeder Wald hatte er tief unter seiner Buchenborke Geheimnisse, und diese deckte man nicht des Nachts auf.
Doch war das Gebiet, in das sie vordrang, entsetzlich. Ein toter Reiter und sein Pferd lehnten gemeinsam an einem Baum und ihre Knochen wurden von Schlingpflanzen gehalten. Sonia hielt sich die Hand vor dem Mund, um nicht laut loszuschreien und eilte schnell vorüber. Die Dunkelheit breitete ihren Mantel über den Wald aus und bald fühlte sich das Kind nicht nur allein, sondern auch verlassen und schutzlos.
Sämtliche Pflanzen waren durch Krankheiten verkrüppelt. Der Wald wuchs in seiner gewohnten Vielfalt und Fülle, erreichte aber nur einen Bruchteil der normalen Höhe. Buchen, die eigentlich viele Meter hoch sein sollten, waren nur um ein weniges größer als sie. Es gab keinen einladenden Unterschlupf in diesem Landstrich. Verderbnis und Tod vermischten sich so greifbar wie Rauch in diesem abscheulichen Teil und nach einer Weile war sie froh ihn verlassen zu können.
Ein Trupp berittener Barbaren war vor ihr um die Kurve gebogen. Sonia wusste, die Augen weit aufgerissen, zum ersten Mal, was es hieß, vor Schreck gelähmt zu sein. Sie wäre nicht einmal an die Steigbügel dieser schwarzen Pferde herangekommen. Ein einziger Hufschlag hätte sie zerschmettert, und ohne weiteres hätte sie von einem der Eisenhörner, die aus den Stirnplatten der Tiere hervorragten, aufgespießt werden können.
Sofort duckte sie sich, löschte die Flamme ihrer Lampe und kroch ins tiefe Gestrüpp. Zu allen Göttern betend, hoffte sie nicht entdeckt zu werden.
Doch der Trupp trappte nur langsam vorüber und schienen sie in dem Zwielicht des Tages nicht gemerkt zu haben. Gut für sie.
Viel schrecklicher als die Rösser waren die Barbaren in ihrer geschlossenen Formation. Gewaltige, muskelbepackte Kerle in klirrenden Rüstungen, mit wilden Frisuren und weiten Umhängen, die sich aufbauschten wie Fledermausflügel. Tätowierte Riesen mit Keulen und Streitäxten. Netze und Dornenketten schaukelten an ihren Sattel. Der größte von ihnen, dessen Gesicht von einem riesigen Skelettkopf als Helm bedeckt war, bedeutete zu halten. Als der Trupp direkt neben Sonia zum Stehen kam, drückte sie ihr Gesicht krampfhaft in die Erde.
„Wir haben dich schon gesucht!“
Sonias Herz pochte wie ein Schmiedehammer, kalter Schweiß breitete sich auf ihrem Rücken aus und jede Sekunde rechnete sie damit von groben Händen hochgezogen und gefangengenommen zu werden. Was würde man mit ihr anstellen? Flucht war sinnlos.
„Ich verfolge ein Kind mit einer Lampe“, rief jemand aus dem Wald und Äste knackten und brachen ein Dutzend Meter den Weg lang, von dem sie gekommen war. Sonia riss erstaunt die Augen auf und hob langsam den Kopf. Mucksmäuschenstill beobachtete sie einen kleinen Barbaren mit tätowiertem Gesicht, der mit Pfeil und Bogen aus dem Geäst des Weges kam. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie verfolgt worden war.
„Habt ihr sie gesehen“, fragte der Mann kehlig und Sonia sah mit Befriedigung, dass alle Männer den Kopf schüttelten. „Ein kleines Kind mit einer Laterne?“
Der Anführer gebot seinem Pferd nach vorne zu reiten und hielt neben dem Fährtenleser an. „Vergiss das Kind“, grollte er. „Sag. Lohnt sich ein Zug nach Mooswald?“
Sie wollen die Stadt überfallen, durchfuhr es sie siedend heiß. Wie schrecklich.
Der Späher drehte sich um und grinste schelmisch. „Faule Bürger mit vollen Taschen. Ihnen scheint langweilig zu sein. Die Wachen sind ein Witz. Es führen drei Straßen durch den Ort.“
„Wäre das erste Mal, dass wir auf nennenswerten Widerstand stoßen“, bestätigte der Anführer und lachte leise. „Wir wollen den Bürgern Unterhaltung bieten. Wir schwärmen über die Ebene aus und halten weiter die Augen auf. Du musst der Horde Bericht erstatten. Wir könnten im Morgengrauen zuschlagen.“
Leise fluchend klopfte sich der Barbar den Dreck von der Rüstung und setzte sich auf sein Pferd. Gemeinsam ritten sie von dannen.
Die Straße war wieder verlassen und leer.
Ich sollte umkehren, dachte Sonia zitternd und wartete noch lange bis sie es wagte aufzustehen. Den offenen Weg würde sie meiden müssen und die Laterne leuchten zu lassen, wagte sie jetzt nicht mehr – jeden Fackelschein sah man im Zwielicht meilenweit. Es gab keinen anderen Weg: Barbaren krochen im Buchenwald herum. Wer wusste schon, was noch auf sie lauerte? Schnell zurück zur Taverne… und von Olg und Llug verprügelt zu werden. Nein, da nahm sie es lieber mit dem Wald und seinen Schrecken auf!
Die Sonne war gerade untergegangen. Das Abendrot wurde von den niedrigen Wolken zurückgeworfen und färbte den ganzen Wald blutrot. Aus der Nähe betrachtet war er noch schrecklicher als aus der Entfernung. Im tiefen Dickicht des Waldes wuchsen alle Pflanzen wild und ohne Plan, und es war eine Tortur sich durch das Gestrüpp zu kämpfen. Sonia hatte Mühe mit dem wenig Licht nach dem passenden Pflanzen Ausschau zu halten. Wenn sie das Rotfarnkraut nicht fand, war sie verloren. Wenn sie es fand, mussten drei Menschen wegen ihr sterben. Und wenn der Wald mit seinen wilden Tieren sie nicht zugrunde richtete, ihre Verwandten würden es schon schaffen – man musste ihnen nur Zeit lassen.
Nach einer Weile gab sie es auf, setzte sich auf den Boden und weinte Tränen. Es hatte keinen Sinn. Es war hoffnungslos. Ihre zierlichen Schultern hoben und senkten sich bei jedem Beben ihres kleinen Körpers.
„Mutter. Vater.“ Die Welt war böse und gemein. Niemand würde ihr helfen, sie würde niemals eine Hexe werden, geschweige denn, ein normales Leben führen können. Es war kalt, und die Disteln in ihrem Kleid, die sich im Laufe ihrer Wanderung verfangen hatten, stachen wie Nadelstiche. Würde ein Bär jetzt aus dem Unterholz auf sie zugestürmt kommen, …
Mit einem Mal fiel es ihr auf.
Ein Feuer.
Sie atmete ein und aus, beruhigte ihre zarte Lunge und schniefte leise. Ein Lagerfeuer.
Sollten es die Barbaren sein, würde sie leise wieder zurückgehen, und wenn sie sie schnappten…
Die Neugier überwog schließlich, doch mit Vorsicht ging sie langsam weiter und versuchte keinen allzu großen Lärm zu machen. Während sie näherkam, wurde das Feuer größer und im Schein erkannte sie einen großen Karren mit Anhänger und zwei Pferden, die interessiert in ihre Richtung schauten.
Auf dem Feuer schmurggelten in einer Pfanne kleine Würstchen, neben dem Feuer stand ein Tablett mit Brot, Butter und einer Flasche. Nein, es waren dutzende zum Teil leer ausgetrunkene Flaschen die wahllos herumlagen.
Der Geruch der leckeren Würstchen wehte in ihre Richtung. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie daran, dass sie seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen hatte. Sonia war so erschöpft und so sehr darauf bedacht, eiligst ans Feuer zu kommen, dass sie es nicht merkte, wie sie unter die tiefhängenden Äste der Buche geriet, in der ein Eisenkäfig schaukelte. Sie merkte es nicht, als sie unter den ersten Blätter und Zweigen hindurchlief. Sie hatte nur den plötzlichen Segen des schmackhaften Essens vor sich – Würstchen, Brot und etwas Butter, das ihren kleinen Bauch füllen würde. Sie merkte es auch nicht, als sie unter dem Eisenkäfig hindurchschritt, dem Käfig, in dem ein grinsendes Etwas hockte und sie aus wachen Augen beobachtete. Sie merkte es auch nicht, dass sie sich zu nahe an dem großen Wagen herangewagt hatte, bis plötzlich etwas Großes gegen die Hintertür krachte und rostiges Eisen quietschte.