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Jürgen Kasten

Begraben in Wuppertal

Kriminalroman


Zum Buch

Dem Mythos auf der Spur Chefermittler Fiebig hält nichts vom Hype um das Bernsteinzimmer, das sich angeblich im Höhlensystem unter der Parkanlage Hardt in Wuppertal befinden soll. Wuppertals Oberstadtdirektor Dr. Schaumlöffler genießt hingegen das mediale Interesse an der Schatzsuche. Erst als die Nachforschungen zu lange dauern, untersagt er weitere Aktivitäten. Doch davon lässt sich der Hobby-Historiker Kotthausen nicht abbringen. Als er versucht, nachts in eine Höhle einzubrechen, wird auf ihn geschossen. Am Tatort werden Spuren gefunden, die in Verbindung zu alten, bisher ungelösten Mordfällen stehen. Fiebig, seine Kollegin Elke Fassbender und der Journalist Lars Lombardi versuchen, in Wuppertal und im Bergischen Land, in Dresden, Leipzig und sogar in Tschechien Puzzelsteinchen zusammenzufügen, bis sie den Täter zu kennen glauben. Doch der scheint ein Phantom zu sein. Eine rätselhafte Suche auf den Höhen und in den Tiefen Wuppertals beginnt, die Fiebig zu überfordern scheint.

Jürgen Kasten wurde in Berlin geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf und lebt nun bereits viele Jahre in Wuppertal. Während seiner beruflichen Laufbahn bei der Polizei hat er Umwelt- und Korruptionsdelikte bearbeitet, war Leiter von Mordkommissionen und zuletzt Chef des Kommissariats für Tötungs- und andere Gewaltdelikte. Seit 2007 ist er Mitautor des Kulturmagazins musenblaetter.de, veröffentlichte Kurzgeschichten und Kriminalromane. Er ist im Schriftstellerverband Bergisches Land aktiv und Mitglied des »Syndikat«. »Begraben in Wuppertal« ist sein zweiter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hespasoft / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6598-7

Prolog

»Boah, du nervst!«, schrie Sarah ihrer Mutter entgegen. »Ich hau ab!«

Die Mutter rührte sich nicht. Sie lag auf der Couch, das Gesicht mit einem Handtuch abgedeckt. Im Hintergrund dudelte ein Radio.

»Mach doch«, murmelte sie schwach. Sie war nicht in der Lage, ihrer 14-jährigen Tochter mehr entgegenzusetzen. Am liebsten wäre sie gestorben. Wieder einmal. An diesem 28. April 2001 starb stattdessen Evelyn Künneke. Die Nachricht drang zu Sarahs Mutter durch, weil gleich darauf »Hoppe, Hoppe Reiter« angespielt wurde. Das Lied erinnerte sie immer schmerzhaft an ihren geliebten, früh verstorbenen Vater. Evelyn Künneke hatte es 1995 noch einmal als Techno-Version aufgenommen. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Gedanken hingen fast nur noch in der Vergangenheit. Dass sie eine ausgeprägte Depression hatte, wollte sie nicht wahrhaben. Professionelle Hilfe nahm sie nicht in Anspruch. Lieber griff sie zu Tabletten, die allerdings nicht halfen. Im Laufe der Zeit hatte sich deshalb außerdem eine Medikamentenabhängigkeit eingeschlichen.

*

Sarah fühlte sich alleingelassen. Einen Vater gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr. Die 14-Jährige war nicht in der Lage, den Zustand ihrer Mutter richtig einzuordnen, geschweige denn, ihr zu helfen. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Ihre Mutter fand sie nur nervig. Genauso wie den kauzigen Nachbarn Kotthausen, ein Lehrer, der ihr gelegentlich Nachhilfestunden gab. Das half ihr zwar einigermaßen, in der Schule über die Runden zu kommen, ob sie aber die achte Klasse auf der Realschule Berghauser Straße erfolgreich beenden würde, blieb zweifelhaft. Die lange Liste ihrer Fehlstunden könnte das noch verhindern. Daran dachte Sarah aber gar nicht. Ihr war das alles reichlich egal. An diesem Samstag spielte das ohnehin keine Rolle.

Sie haute nicht das erste Mal von zu Hause ab. Meistens griff man sie in Solingen wieder auf. Die Nachbarstadt war ihr liebstes Ziel, lieber als das verschlafene Cronenberg. Dort traf sie Gleichgesinnte, die ähnliche Probleme hatten wie sie. Von denen fühlte sie sich verstanden.

Das Turmzentrum und der Platz vor dem Karstadt hatten es ihr angetan. Dort traf man sich. Entwurzelte Jugendliche, Obdachlose und Fixer. Manchmal blieb sie mehr als einen Tag verschwunden. Ein Schlafplatz fand sich immer irgendwo bei irgendwem.

An diesem 28. April 2001 meinte es das Schicksal nicht so gut mit ihr. Es regnete, ein unangenehmer Wind blies, vergeblich schaute sie sich nach einem bekannten Gesicht um. Überdies war sie auf der Hinfahrt im City-Express kontrolliert worden. Sie besaß keine gültige Fahrkarte und hatte zwei Stationen vor dem Busbahnhof am Turmbau aussteigen müssen.

»Die Anzeige wegen Schwarzfahrens kommt schriftlich«, hatte ihr der knurrige Kontrolleur mit auf den Weg gegeben.

Eine Zeit lang stand sie unschlüssig herum, hatte sich vor dem Regen in den Eingangsbereich des Karstadt zurückgezogen. Niemand in der Nähe, von dem sie eine Zigarette schnorren konnte. Zögernd überquerte sie schließlich die Straße, um in den Fußgängerbereich der City zu wechseln. Neben ihr hielt ein roter Wagen. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen und eine bekannte Stimme rief: »Sarah, steig ein, ich fahr dich nach Hause.«

Erschrocken zuckte sie zusammen. Scheiße, sie kannte den Typen. Erst wollte sie ihn ignorieren und wegrennen. Doch ihr fiel ein, dass er sie bestimmt beim Amt anschwärzen würde. Schon beim letzten Mal hatten die gedroht, sie in ein Heim zu stecken. Dann doch lieber nach Hause, zurück zur Psycho.

Sie stieg ein. Er grinste sie an. Wenigstens saß sie nun im Trockenen, aber er sollte ja nicht wieder versuchen, sie zu befummeln. Diesmal wäre sie gewappnet.

Sarah tastete nach ihrer langen spitzen Nagelfeile in der Jackentasche. Mit der anderen Hand wischte sie sich die nassen Haare aus der Stirn.

Mit verkniffenen Lippen lehnte sie sich zurück, schloss die Augen. An einem Gespräch war sie nicht interessiert.

Erst als der Wagen über Schotter hoppelte, blickte sie wieder auf. Sie waren in einen Waldweg eingebogen.

»Beim Bundeskriminalamt sind mehr als 13.000 Vermisste registriert. Täglich kommen 250 bis 300 hinzu. Mindestens 80 Prozent erledigen sich nach kurzer Zeit, weil die Vermissten wiederauftauchen.«

Hinter dem Tresen der Polizeiwache am Rathaus in Cronenberg stand ein mild lächelnder Beamter, der sein Wissen zum Besten gab. Eigentlich meinte er aber, dass es sich nicht lohne, den ganzen Papierkram anzufangen, weil Sarah morgen sowieso zurück sein würde.

»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter«, widersprach Kotthausen.

Er hatte Sarahs Mutter mit zur Wache geschleppt, denn die hatte überhaupt noch nicht realisiert, dass ihre Tochter nun schon seit drei Tagen verschwunden war.

»Bisher ist die doch immer nur nach Solingen abgehauen und dort vom Jugendamt aufgegriffen worden«, versuchte der Beamte abzuwiegeln, nachdem er seinen Computer mit Sarahs Namen gefüttert hatte. Er schien wenig Lust zu haben, das Formular umsonst auszufüllen.

»Drei Tage war sie noch nie weg.«

Kotthausen wollte sich nicht abwimmeln lassen.

»Wer sind Sie überhaupt?« Der Beamte schaute ihn fragend an.

Er wirkte gereizt.

»Ich bin ein Nachbar«, sagte Kotthausen, »ich habe Sarahs Mutter nur begleitet.«

Die Frau nickte abwesend.

»Nun gut, ich nehme erst einmal eine vorläufige Vermisstenanzeige auf. Morgen ist Feiertag, 01. Mai. Wenn Sarah dann immer noch nicht zu Hause ist, gehen Sie am Mittwoch direkt ins Präsidium zum zuständigen Kommissariat und nehmen ein Foto von dem Kind mit.«

Seufzend setzte er sich an den Computer und suchte in den Formularvordrucken das richtige heraus.

Kotthausen schaute sich derweil in dem kargen Wachraum um. An einem schwarzen Brett hing ein kleines rot umrandetes Poster.

Vermisst wird seit dem 12. Februar 2001 die 15-jährige Lisa Niewöhler. Auf ihrem Schulweg wurde sie zuletzt in Höhe der Haltestelle Rathaus Cronenberg gesehen. Sie war bekleidet mit …

»Die ging auch in Sarahs Schule.« Kotthausen zeigte in Richtung des Fotos, unter dem der Text stand.

Der Beamte schaute gar nicht hin.

»Die wird wirklich vermisst«, murmelte er, »seit drei Monaten unauffindbar.«

»Gibt es keine Hinweise, wo sie sein könnte?«, fragte Kotthausen.

»Keine Ahnung. Das können Sie die Kollegen von der Vermisstenstelle fragen.«

Kotthausen ging näher an das Foto heran. Das Bild erinnerte ihn an Sarah. Lange blonde Haare, Stupsnase und in ihren Augen spiegelte sich Trotz.

Gibt es keinen anderen Ausweg, als abzuhauen, wenn man zu Hause nicht mehr klarkommt?, fragte sich Kotthausen. Sind die Familien so kaputt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, anständig miteinander zu kommunizieren? Gibt es niemanden, der hilft?

Kotthausen half, wo er konnte. Selbst in den Klassen seiner Grundschule gab es Kinder, die auffällig waren. Er versuchte zu ergründen, woran es lag. Er suchte die Eltern zu Hause auf, zwang sie zum Gespräch. Gern gesehen war er selten. Das machte ihm nichts aus. Er fühlte sich verpflichtet, wollte glückliche Kinder um sich haben.

»Du wärst besser Sozialarbeiter geworden«, warf ihm seine Frau oft vor. Sie missbilligte seinen permanenten Einsatz, der einen Großteil seiner Freizeit vereinnahmte. Dass seine Ehe daran zugrunde gehen sollte, ahnte er nicht.

Kapitel 1

Viele Jahre später konnte Heinz-Günther Kotthausen trotz der tragischen Ereignisse von damals auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Wenn er durch seine alten Fotoalben blätterte, sah er eine glückliche Kindheit und Jugend in Cronenberg, dem abgelegenen Stadtteil Wuppertals, das an die Nachbarstädte Remscheid und Solingen grenzte. Dort oben auf dem Hügel, umgeben von Wäldern, lebte ein kriegerisches Bergvolk. So spotteten etliche Elberfelder, die sich und ihren Stadtteil als die Metropole Wuppertals betrachteten. Dass die Barmer im Osten des Tals für sich das Gleiche einforderten, scherte sie wenig. Die Cronenberger jedoch fühlten sich erhaben über alle. Dort wuchs Kotthausen auf, dort ging er in den Kindergarten, in die Schule, machte eine Lehre als Maschinenschlosser in einer der zahlreichen kleinen Werkzeugfabriken. Jetzt war er Pensionär, denn er hatte im Abendstudium das Abitur nachgeholt und danach auf Lehramt studiert.

Ein Mann von Welt sah anders aus. Mit seiner abgewetzten Cordhose, der zerknitterten Jacke und den stumpfen Lederschuhen gab er den Anschein einer schludrigen Person. Die bunten Flecken auf seinem Pullunder vervollständigten diesen Eindruck. Sie verrieten seine letzte Mahlzeit: irgendetwas mit Tomatensoße. Die zu langen grauen Haare hingen ihm in die Stirn, die Brille saß schief auf seiner großen Nase. In früheren Jahren war er Bartträger gewesen. Das machte ihn alt, entschied er irgendwann und rasierte ihn ab. Seine jetzige Erscheinung ähnelte dem Klischee eines zerstreuten Professors, würde so mancher sagen und läge damit ja nicht ganz falsch.

In Wahrheit war seine korrekte Berufsbezeichnung: Grundschullehrer. Als solcher blieb er in Cronenberg haften, lernte dort seine Frau kennen und verlor sie später in Elberfeld vor dem Amtsgericht im Rahmen eines Scheidungsprozesses. Er hatte immer geglaubt, dass sie eine glückliche Ehe führten. Seine Frau war offensichtlich anderer Ansicht. Nach fast 30 Jahren verließ sie ihn – und stieß ihn damit vor den Kopf.

Im weiteren Leben war es das Arbeiten, das ihm Halt und Zufriedenheit bot, wie zuvor auch schon. Das war es ja, was seine Frau ihm vorgeworfen hatte. Seine Arbeit.

Dabei endete seine Tätigkeit als Lehrer bereits am frühen Nachmittag. Er übte sie mit Leib und Seele aus. Doch das war ihm nicht genug. Mindestens an drei Nachmittagen der Woche kümmerte er sich auch noch um das Seelenheil der Nachbarn, die vom Leben überfordert zu sein schienen. Und um deren vernachlässigte Kinder, damit die wenigstens einigermaßen den schulischen Anforderungen genügten. Eigene Kinder hatte er nicht.

Seine Frau kam erst an zweiter oder dritter Stelle, denn er brauchte ja auch noch Zeit für sein Hobby: verschwundenen historischen Schätzen auf die Spur zu kommen – bisher ohne nennenswerten Erfolg.

Was an dieser Leidenschaft, diesem Eifer verkehrt sein sollte, verstand er nicht und seine Frau verstand ihn nicht.

Jetzt war sie weg, lange schon.

Ohne Wehmut richtete Kotthausen sich auf ein Leben ohne Frau ein, was ihm nur anfangs schwerfiel. Seine Wäsche hatte er nun allein zu waschen. Kochen musste er lernen. Er beschränkte sich auf Eintöpfe. Als ihm sein Speiseplan zu eintönig wurde, bediente er sich bei »Essen auf Rädern«.

Auch das gehörte nun der Vergangenheit an. Direkt nach seiner Pensionierung kehrte er Cronenberg den Rücken. Zurück blieben verblasste Erinnerungen und seine betagte Schwester, die allein das Haus ihrer verstorbenen Eltern bewohnte.

Mitte der 2000er-Jahre war Kotthausen dem Ruf einer Werbekampagne gefolgt, die sich findige Leipziger Stadtväter ausgedacht hatten. Sie warben um neue Einwohner und lockten mit billigen altengerechten Wohnungen. Nun also wohnte Kotthausen in Leipzig, hatte sich in ein generationsübergreifendes Wohnprojekt eingekauft und frönte dort seinem Hobby. Auf den Visitenkarten, die er sich drucken ließ, stand »Historiker«. Als solcher besuchte er bereits vor einigen Jahren seine alte Heimatstadt Wuppertal. Damals blieb sein Suchen ergebnislos. Nun aber glaubte er, neue Beweise zu haben.

Das legendäre, seit dem Kriegsende aus Königsberg verschwundene Bernsteinzimmer zog ihn zurück in das Tal der Wupper. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass es sich irgendwo in der Stadt verbergen musste. Bisher war die Suche nicht von Erfolg gekrönt. Doch vielleicht hatte er hier, im letzten noch nicht durchsuchten Tunnel Glück. Die Hardt-Kaverne und das weitverzweigte Höhlenlabyrinth schienen ihm der richtige Ort zu sein.

*

Die schweißnass auf der Stirn klebenden Haare schob er zum wiederholten Mal beiseite. Ratlos schaute er auf den vor ihm liegenden Tunneleingang.

Sah nur wie eine leichte Metalltür aus. Doch wo auch immer er den Hebel ansetzte, es bewegte sich nichts. Handwerkliches Geschick war ihm trotz seiner früheren Ausbildung nicht gegeben. Wütend trat er gegen das störrische Eisending.

Vielleicht könnte er die Hebelwirkung erhöhen, wenn er sich auf das Stemmeisen stellte? Immerhin brachte er knapp 100 Kilo auf die Waage. Er bückte sich, um das Eisen an der unteren Türkante anzusetzen. Ein trockener Knall ließ ihn überrascht aufschauen. Bewegte sich die Tür schon?

Nee, keinen Millimeter rührte sie sich.

Ein Motorrad schoss unten auf der Straße vorbei. War wohl eine Fehlzündung gewesen, die er gehört hatte.

Schnaufend richtete er sich wieder auf, stützte sich mit einer Hand an der Tür ab, wischte mit der anderen noch einmal Schweiß von der Stirn. Hilfesuchend blickte er zum Vollmond hinauf. Der ihn umgebende Nebel verlieh der gelben Scheibe das Aussehen eines in der Luft hängenden Spiegeleis. Hilfe konnte er von dort nicht erwarten. Dafür bemerkte er ein wackeliges Licht, das sich langsam näherte. Ein nächtlicher Radfahrer schlingerte das Hardtufer entlang, kam auf ihn zu. Er verdrückte sich in den Schatten eines Ginsterbusches.

Das Sirren des Stahlgerüstes über der Wupper kündigte eine Bahn an. Sie verließ gerade die Station am Landgericht. Mit wenigen Nachtschwärmern an Bord rollte sie vorbei. Kurz wanderten Lichtvierecke durch die Dunkelheit. Das leise Rattern verklang.

Kotthausen sah sich um. Er war wieder allein. Nervös schaute er auf die Uhr. Bis wann fährt die verdammte Schwebebahn eigentlich? Er hatte doch sowieso nur noch die halbe Nacht vor sich. Nicht einmal das. Spätestens gegen sechs würde es langsam hell werden. Bis dahin wollte er fertig sein.

Leise schimpfte er vor sich hin, verfluchte die uneinsichtigen Amtsböcke, die seinen Argumenten nicht folgen wollten. Wieso verstanden sie nicht, dass es für ihre Stadt eine Touristenattraktion wäre, wenn er hier endlich fündig würde. Aber nein, die Stadtoberen standen nicht mehr hinter ihm. »Ihre Aktionen werden ab sofort nicht weiter unterstützt«, hatte ihm der Oberstadtdirektor kategorisch mitgeteilt. Auf eine Diskussion hatte er sich nicht eingelassen. Stattdessen hatte er Kotthausen mit einem laschen Händedruck und einem schiefen Lächeln verabschiedet. Das war’s dann.

So schnell werdet ihr mich nicht los! Kotthausen wollte sich nicht unterkriegen lassen und hatte sich zu dieser nächtlichen Aktion entschlossen.

Noch einmal bückte er sich hinunter, kramte in seinem Rucksack. Vielleicht könnte er mit der Akkumaschine das Schloss dieser verdammten Tür aufbohren.

Erschrocken zuckte er zusammen. Sein Handy meldete sich.

Er nestelte es aus der Seitentasche seiner Jacke. Da flutschte es ihm aus der Hand. Als er danach griff, streifte er eine Brennnessel. Verdammter Mist. Die Haut brannte wie Feuer. Er spuckte darauf und verschmierte den kühlenden Schleim. Das leuchtende Display zeigte eine SMS an. Ungläubig las er den kurzen Text:

Verpiss dich aus unserer Stadt, sonst …

Der Absender war unterdrückt.

Langsam richtete er sich auf, schaute vorsichtig umher. Die Straße lag ruhig und leer unter ihm. In dieser lauen Frühlingsnacht hatten die Menschen anderes zu tun, als ihre Autos durch die Gegend zu schaukeln. Lediglich von der B 7 klangen Motorengeräusche herüber.

Ansonsten vernahm er nur das leise Plätschern der Wupper.

Beruhigt wandte er sich wieder seinem Vorhaben zu.

Er spannte einen Metallbohrer in die Maschine und setzte den Akkuschrauber an. Kreischend traf Metall auf Metall. Ein dumpfes »Knack«, der Bohrer brach ab.

»Verfluchter Mist!«

Er bückte sich, um nach einem anderen Aufsatz in seinem Rucksack zu suchen und schreckte im nächsten Augenblick herum. Diesmal hatte ihn der Glockenschlag der Pauluskirche zusammenzucken lassen. Um seinen heftigen Atem zu beruhigen, zählte er laut mit.

Dabei schaute er zum Turm hinüber und wartete auf den elften Schlag. Der bisher harmonische Gong klang verunglückt, fast wie ein Knall. Ein kurzes Blitzen zuckte am Turmfenster auf. Fast gleichzeitig ließ ihn ein hartes metallenes Geräusch hinter ihm an der Tür erstarren, ein Kreischen, dicht an seinem Kopf.

Er schrie vor Schmerz auf, hörte plötzlich nichts mehr.

Tot, dachte er, ich bin tot. Mit zitternden Knien sank er ins bodendeckende Grün, saß inmitten der Brennnesseln. Die spürte er nicht. Nur das heiße Nass, das ihm am Hals hinunterlief.

Seine Hand tastete zum Ohr. Matsch. Er fühlte warme, nasse Matsche. Ihm wurde schlecht, schwindelig. Heftiger Atem ließ seinen Brustkorb pumpen. Auf allen vieren rappelte er sich hoch, wankte zu seinem Auto, das unten an der Straße stand. Rucksack und Werkzeug blieben zurück. Mit zitternden Fingern startete er und fuhr schlingernd los.

Kapitel 2

Lars Lombardi hing noch immer bei der Lokalzeitung fest. Seine Bewerbungen bei der »Zeit«, der »Süddeutschen« und anderen großen Zeitungen waren bisher erfolglos geblieben. Es war nicht einfach, aus der Masse der schreibenden Zunft herauszustechen und sich mit außergewöhnlichen Reportagen zu empfehlen. Darauf nämlich hatte er sich spezialisiert. Reportagen zu bewegenden Themen, die auch überregional beachtet würden. Hier in Wuppertal passierte allerdings kaum etwas, was die übrige Welt interessierte. Eine Ausnahme stellte vielleicht die letzte Woche dar. Seine Berichte über diesen hoffnungsvollen Schatzsucher aus Sachsen, der hier das verschollene Bernsteinzimmer finden wollte, wurden sogar von anderen Zeitungen übernommen.

Anfangs hatten sich auch die Stadtoberen begeistert gezeigt. Sie erlaubten dem Mann, Tunnel und Bunker zu durchsuchen, ließen sich mit ihm zusammen für die Zeitung ablichten. Sie waren stolz, dass Wuppertal mal wieder in den überregionalen Medien mit so einem aufregenden Thema auftauchte.

»Das legendäre Bernsteinzimmer in Wuppertal wiedergefunden«, was für eine Schlagzeile. Dumm nur, dass sie auch nach tagelangem Suchen nicht wahr wurde. Langsam dämmerte den Stadtfürsten, dass sie sich lächerlich machten. Der Verwaltungschef gab schließlich die Devise aus: »Stoppt diesen Unsinn! Keinerlei Hilfe mehr für den ominösen Schatzsucher.«

Obwohl der eindringlich schilderte, warum er unter der Hardt fündig werden könnte. Man glaubte ihm nicht mehr und blieb bei dem Entschluss, seine Aktionen zu beenden.

Lars Lombardi hatte Heinz-Günther Kotthausen auf seiner Suche begleitet und insgeheim gehofft, dass sie Erfolg haben würden. Sein Verstand und seine Internetrecherche sagten ihm aber anderes, denn seit Jahrzehnten jagten unzählige Forscher und solche, die sich dafür hielten, dem verschollenen Bernsteinzimmer hinterher. Lars wollte diese Geschichte nicht weiterverfolgen. Er suchte gerade eine andere in der Notaufnahme des Klinikums. Viel war dort nicht los. Im Wartebereich für Patienten saß er mit der Krankenschwester Carola allein. Er flirtete sie an und die junge Frau ging darauf ein. Der Journalist war ihr sympathisch. Sie meinten es ja beide nicht ernst. Lars hatte sich für diese Nacht mehr versprochen. Nichts Amouröses, vielmehr spektakuläre Verletzungen, Dramen, Schicksale, über die er berichten wollte. Bisher war allerdings nur ein Pizzabäcker aufgetaucht, der sich die Hand verbrannt hatte. Ein junger Mann erschien mit gebrochenem Arm. Hatte er sich beim Badmintonspiel zugezogen. Wollte nicht weiter darüber reden. Die Polizei brachte eine Frau vorbei, deren geschwollenes Gesicht von einem häuslichen Drama erzählte. Sie selbst blieb stumm. In dieser Hinsicht war es bisher ein langweiliger Abend gewesen, der keine Geschichte zuließ, die sein Journalistenherz höherschlagen ließ.

Es war kurz vor Mitternacht, als Lars seinen x-ten Kaffee austrank und beschloss, nach Hause zu fahren. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, da stürmte ein Mann herein. Blutverschmiert, das eine Ohr seltsam verformt ließ er sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Doch nicht nur sein Anblick ließ Lars erschaudern. Er kannte den Mann.

Schließlich hatte er ihn, Kotthausen, in den letzten Tagen mehrfach interviewt und auf seinen Exkursionen begleitet. Bevor er sich aus seiner Erstarrung lösen konnte, hatte Schwester Carola schon den Arzt gerufen, einen Rollstuhl herangezogen und den Verletzten in den Behandlungsraum geschoben. Lars wollte hinterher, doch die Schwester verwehrte ihm den Zutritt. Der Mann winkte ab.

»Lassen Sie ihn mitkommen«, murmelte er, bevor seine Augäpfel nach oben kippten und er in die Bewusstlosigkeit abzudriften drohte.

»Na, na, ist doch gar nicht so dramatisch. Fehlt nur ein Stück vom Ohr. War das ein Hund, oder was? Ne … sieht nicht so aus …«

Während er an seinem Patienten herumwerkelte, redete der Arzt ununterbrochen, ohne eine Antwort hören zu wollen. »Wenn Sie das fehlende Stück mitgebracht hätten, könnte ich es wieder annähen.«

Unter der Wirkung einer Beruhigungsspritze, der örtlichen Betäubung und Schwester Carolas Hand, die sanft seinen Kopf streichelte, kam Kotthausen langsam zurück ins Bewusstsein.

»So, die Blutung ist gestoppt und die Wunde vernäht. Jetzt legt die nette Schwester Ihnen noch einen Verband an und dann kann Ihr Sohn Sie nach Hause fahren.«

Dabei schaute der Arzt Lars an. Der berichtigte ihn nicht.

Er half Kotthausen in die Senkrechte und stützte ihn beim Rausgehen.

»Ich vermute, das war ein Metallsplitter, der das halbe Ohr abgerissen hat. Das macht Sie zwar nicht attraktiver, aber Ihr Gehör ist noch intakt. Sie sollten das als Arbeitsunfall melden«, gab der Arzt ihnen noch mit auf den Weg.

Lars platzte vor Neugier. Er hielt sich aber zurück und bugsierte Kotthausen in seinen Wagen und fuhr ihn zu seinem Hotel. Bei seiner Schwester hatte der Verletzte nicht mehr wohnen wollen. Sie löchre ihn den ganzen Tag mit Fragen und rede ihm auch sonst zu viel.

Lars setzte den noch leicht benebelten Mann im Foyer in einen Sessel, schwatzte dem Nachtportier zwei Flaschen Bier ab und hoffte, damit Kotthausens Zunge zu lockern.

»Was ist Ihnen passiert?«

»Ich glaube, es hat jemand auf mich geschossen.«

»Quatsch.«

»Kein Quatsch. Ich wollte in die Hardt-Kaverne einbrechen. Dann hab ich so ein Blitzen gesehen. Plötzlich knallte es und mein Ohr war weg.«

»Wieso Hardt-Kaverne? Die ist doch erst in den 60er-Jahren gebaut worden. Da kann doch nicht Ihr Bernsteinzimmer versteckt sein. Wussten Sie das nicht?«

Der Mann seufzte, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.

»Weiß ich doch«, sagte er. »Beim Sprengen des Felstunnels wurde aber eine weitere Höhle entdeckt und die ist möglicherweise mit dem bereits bekannten Höhlenlabyrinth weiter oben im Berg verbunden.«

»Und da wollten Sie suchen?«

»Es muss doch einen Grund geben, warum man mich da nicht reinlassen wollte.«

»Und jetzt sogar mit Waffengewalt daran hindert«, lachte Lars. Wer wusste schon, wobei der Mann sich das halbe Ohr abgerissen hatte.

»Ich erzähle keinen Unsinn. Das war ein Schuss.«

»Ja, gut«, erwiderte Lars. Er glaubte ihm nicht. »Warum sollte denn jemand auf Sie schießen?«

Der Mann antwortete nicht. Er setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug aus. Seine Hand wanderte tastend zu seinem bandagierten Ohr. Der halbe Kopf war mit dem Mull umwickelt.

Sieht aus wie DJ Ötzi mit seinem weißen Käppi, schmunzelte Lars in sich hinein, behielt den Kommentar aber lieber für sich. Er musste wegschauen, sonst hätte er nicht an sich halten können.

»Ich hab die Schnauze voll«, murmelte Kotthausen. »Ich pack meine Sachen und fahre nach Hause.«

»Und das Bernsteinzimmer?«

»Ist mir im Augenblick egal. Ich hau erst mal ab.«

»Sollen wir nicht lieber die Polizei informieren?«

Lars griff schon nach seinem Handy.

Ein scharfes »Nein!« ließ ihn stoppen.

»Mit der Polizei will ich nichts zu tun haben.«

Kotthausen schaute Lars direkt an.

»Lassen Sie mich einfach in Ruhe. Ich verschwinde aus eurem ungastlichen Wuppertal und damit ist die Sache erledigt. Vorläufig«, murmelte er noch vor sich hin.

Unschlüssig stand Lars auf.

»Wenn Sie meinen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute.«

Eine merkwürdige Geschichte, dachte er, als er in seinem Wagen saß. Die letzten Stunden in der Notaufnahme hatten nicht viel Stoff für eine Geschichte ergeben. Vielleicht würde aus der ergebnislosen Schatzsuche doch noch eine?

Lars startete und fuhr zum Hardtufer. Der Tunneleingang war leicht zu finden. Nur wenige Meter von der Straße entfernt blinkte eine helle Metalltür im Mondlicht. Sie war zwar mit diversen Graffiti beschmiert, sah aber relativ neu aus.

Lars parkte den Wagen. Weit und breit war niemand zu sehen. Aus dem Handschuhfach kramte er seine Taschenlampe hervor und ging hinüber.

Ein Rucksack und eine Akkubohrmaschine lagen im Gestrüpp vor dem Eingang. Nachdem er sich die Tür genau angesehen hatte, glaubte er dem Mann aus Leipzig: zwei Dellen, die ganz nach Einschüssen aussahen. Mit seinem Smartphone fotografierte er alles und packte die zurückgelassenen Sachen ein.

Im Rucksack fand er eine Art Tagebuch. Eine interessante Lektüre. Seine Neugier war größer als der Respekt vor den fremden Gegenständen. Er verstand nun, warum Kotthausen von dem Gedanken beseelt war, das Bernsteinzimmer in Wuppertal zu finden.

Anscheinend hatte der NS-Scherge Erich Koch noch Verwandte in Wuppertal. Koch war Gauleiter in Ostpreußen und der Ukraine gewesen. Anfang 1945, die russischen Truppen stießen immer weiter vor, setzte er sich Richtung Westen ab und tauchte unter. Erst 1950 spürte man ihn auf, lieferte ihn an Polen aus. Dort saß er bis 1986 im Gefängnis, wo er verstarb.

Kotthausens Aufzeichnungen waren lückenhaft. Unzureichend recherchiert, mehr spekulativ als mit Tatsachen unterlegt. In seinen Tagebuchseiten fand Lars eine aus der Zeitung ausgeschnittene Todesanzeige einer Elisabeth Koch, verstorben 2015. Ihre letzte Wohnanschrift lag ganz in der Nähe von Kotthausens eigener ehemaliger Wohnung in Cronenberg. Eine schlichte Anzeige, ohne Spruch, ohne der Abbildung eines trauernden Engels oder einer anderen Trauersymbolik. Nur der Name, die Anschrift und das Sterbedatum waren verzeichnet, darunter der kurze Satz »Ich vermisse Dich, Klaus-Jürgen«, ohne Nachname.

Aus einer Notiz ging hervor, dass Kotthausen vermutete, dass dieser Klaus-Jürgen der Sohn Elisabeths war und damit ebenfalls mit Nachnamen Koch heißen müsste. Faktensicher nachvollzogen hatte er das nicht. Er hatte lediglich festgestellt, dass kein Klaus-Jürgen Koch unter der Adresse seiner Mutter gemeldet gewesen war.

Als Tatsache anzusehen war nur, dass sich das Bernsteinzimmer im Königsberger Schloss befand, bevor das von den Engländern bombardiert wurde. Das Schloss wurde weitgehend zerstört, das Bernsteinzimmer war verschollen.

Bevor Koch aus Königsberg verschwand, raffte er seine geraubten Kunstschätze zusammen. 64 Kisten mit Gemälden und 27 Kisten, in denen sich das demontierte Bernsteinzimmer befand, wurden auf die Bahn verladen und gen Westen transportiert. Koch kannte sich mit der Eisenbahn aus, hatte noch viele Verbindungen aus früherer Zeit. Er war geborener Wuppertaler, damals noch Elberfeld, hatte lange dort gewohnt und war bei der Eisenbahn angestellt gewesen, bevor er später als Nazi Karriere machte. Kotthausen folgerte daraus, dass Koch sich in seiner Heimatstadt Wuppertal, in der er sich auskannte, ein geeignetes Versteck für das Bernsteinzimmer suchte, auf das er nach einem beendeten Krieg zugreifen könnte. Weit über hundert Tunnel und Bunker boten sich dafür an.

956,89 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
205 стр. 9 иллюстраций
ISBN:
9783839265987
Издатель:
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